Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

14. Sonntag nach Trinitatis (22.9.19)


Spuren der Hoffnung in der Geschichte

27. August 1989 

14. Sonntag nach Trinitatis

1. Mose 28,10-19a(19b-22)


Diese altertümliche Geschichte kann einem in vielfacher Hinsicht zu denken geben. Was mich verblüfft, ist, dass dem Jakob hier, wenn auch im Traum, eine Zusage gegeben wird, die er eigentlich nicht verdient hat. Gott selbst verspricht ihm: „Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.“ Und: „Aus dir soll ein großes Volk werden. Durch dich und deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ Und weiter: „Wo du hinziehst, da will ich dich behüten.“ 

Wem so großartige Verheißungen gegeben werden, der muss eigentlich eine besonders verdienstvolle, zumindest aber untadelige Persönlichkeit sein. Jakob aber war ganz das Gegenteil. Jakob konnte sich keiner positiven Verdienste rühmen, und untadelig war sein Verhalten schon gar nicht gewesen. Sie werden sich vielleicht an zwei Geschehnisse erinnern: Da war die Sache mit dem Linsengericht gewesen und dann die Sache mit dem Erstgeburtssegen. 

Zum ersten: Jakob hatte einen Zwillingsbruder, Esau. Esau war als Erster geboren worden. Ihm standen damit die Rechte des Erstgeborenen, des Ältesten zu. Diese Rechte hat sich Jakob auf sehr zweifelhafte Weise erkauft. Als nämlich Esau eines Tages müde und hungrig von der Jagd nach Hause zurückkehrte und sah, dass Jakob ein leckeres Linsengericht zubereitet hatte, und er gerade davon essen wollte, nutzte - oder besser gesagt - missbrauchte Jakob die Gelegenheit und forderte seinen Bruder Esau auf: „Verkaufe mir heute dein Erstgeburtsrecht.“ Esau, hungrig, wie er war, trat seine Erstgeburtsrechte an Jakob ab. Man könnte sagen: „Pfiffig war der Jakob.“ Aber die feine Art war das nicht. Und das andere war noch schlimmer.

Die Geschichte kennen Sie auch. Isaak, der Vater der Zwillinge, war hochbetagt. Er fand es an der Zeit, seinem Sohn Esau den Segen des Erstgeborenen zuzusprechen, ein Segen, der lautet: „Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korn und Wein die Fülle. Völker sollen dir dienen, und Stämme sollen dir zu Füßen fallen. Sei ein Herr über deine Brüder, und deiner Mütter Söhne sollen dir zu Füßen fallen. Verflucht sei, der dir flucht, gesegnet sei, der dich segnet.“ Das war der Segen für den Erstgeborenen.

Wiederum war Jakob darauf bedacht, diesen Segen an der Stelle seines Bruders Esau zu erlangen. Er hatte diesmal seine Mutter auf seiner Seite. Den alten und schon erblindeten Vater täuschte er, indem er sich als Esau ausgab. Um die Arme und seinen Hals legte er ein Ziegenfell, weil Esau sehr behaart war. Als Isaak Jakob betastete, meinte er, Esau anzufassen. So gelangte Jakob durch eine unfeine List zu dem Erstgeburtssegen, der eigentlich seinem Bruder Esau zugestanden hatte. 

Jakob war also, vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, keine vorbildliche Persönlichkeit. Darum ist es so verblüffend, dass ihm in diesem Traum, von dem unser Text handelt, diese großartige göttliche Verheißung gegeben wird: Land soll ihm gegeben werden, ein großes Volk soll aus ihm werden. Und Gott wird ihn behüten.

Wir könnten sagen: „Es war ja nur ein Traum. Und in dem Traum haben sich die Wunschvorstellungen Jakobs ausgebildet. Mit der Wirklichkeit muss das nichts zu tun gehabt haben.“ Aber so ist es nicht. Den Traum müssen wir hier als ein erzählerisches oder literarisches Stilmittel verstehen. Gott erscheint nicht als leibhaftige Person im Licht des Tages. Eine solche Gottesdarstellung wäre dem Verfasser unseres Textes zu grob erschienen. Er lässt Gott dezent-zurückhaltend in einem Traum erscheinen. Das ist auch für uns weniger anstößig. Dass es sich um eine göttliche Verheißung handelt, daran allerdings sollen wir nicht zweifeln. So bleibt es bei diesem verblüffenden Tatbestand, dass dem unwürdigen Jakob eine großartige göttliche Verheißung zuteil wird.

Wir können dies häufiger im Alten Testament feststellen. Die Verfasser der alttestamentlichen Texte scheuen sich nicht, die Hauptfiguren ihrer religiösen Vorgeschichte mit all ihren menschlichen Schwächen zu schildern. In der Geschichte ist Gott der Handelnde, so stellen sie ist da. Und er bedient sich nicht nur frommer und seinem Willen gefügiger Menschen, sondern verfolgt seine Ziele auch durch Menschen, die man nicht gerade als Partner Gottes bezeichnen möchte.

Die Autoren der biblischen Texte schreiben im Rückblick. Als unser Text abgefasst wurde, war das Volk Israel bereits zu einem großen Volk geworden. Es war im Besitz eines großen Landes. Und so sagen die Autoren in der Rückschau: „Was wir heute haben, das hat uns Gott geschenkt - trotz vieler Irrungen unserer Vorväter. Gott hat uns an dieses Ziel führen wollen. Und er hat sein Vorhaben nicht zunichte machen lassen durch menschliche Unzulänglichkeiten und Widerstände.

Dies ist eine bemerkenswerte Art der Geschichtsbetrachtung. Sie geht davon aus, dass sich durch die Wirren der geschichtlichen Ereignisse ein Wille Gottes hindurchzieht, und dass dieser Wille Gottes letztlich ans Ziel gelangt. Wer auf solche Weise Geschichte betrachtet, muss durch die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit nicht aus der Bahn geworfen werden. Er wird zwar nicht sagen: „Auch das Schreckliche hat seinen Sinn.“ Aber er wird sich mit dem Gedanken trösten können: „Trotz des Schrecklichen wird sich der gute Wille Gottes in der menschlichen Geschichte immer wieder durchsetzen und letztlich obsiegen.“

Dies ist eine Geschichtsbetrachtung unzerstörbarer Hoffnung. Sie ermöglicht den unverstellten Blick auf das tatsächliche Geschehen, denn sie lebt nicht von der Illusion. Sie kann mit klarem Blick erfassen, was Menschen getan haben, was einzelne Menschen und was ganze Völker getan haben, mag es auch Verwerfliches oder gar Furchtbares gewesen sein. Die Hoffnung hält solche Bilder aus, denn sie sieht weiter. Sie lässt sich leiten von der Gewissheit, dass der gute Wille Gottes nicht zunichte gemacht werden kann. Die Hoffnung wird immer nach den Spuren Gottes suchen und ihnen nachgehen - dem verheißenen Ziel entgegen.

Wir sind ja nun ein Stück weiter als die alttestamentlichen Autoren. Wir wissen von Jesus Christus. Er ist ein unübertrefflicher Beweis für die Berechtigung der alttestamentlichen Hoffnung. Wenn wir bedenken, was es an geschichtlichen Wirrnissen bis dahin bereits gegeben hatte, was sich an kleinen menschlichen Vergehen bis hin zu großen dramatischen gesellschaftlichen Katastrophen, Schlachten und Kriegen alles angesammelt hatte, da ist es doch ein Wunder, aber eben doch auch eine wunderbare Realität, dass die Liebe zum Menschen vor 2000 Jahren so rein und unerschütterlich in einer geschichtlichen Person Gestalt annahm.

Es gibt natürlich welche, die sagen: „Das war eben eine Ausnahme, und wenn aus Christus auch eine weltweite Bewegung entstanden ist, so hat sich seine Art doch nicht durchsetzen können.“ Christus war in der Tat eine Ausnahme, er war einzigartig. Aber wenn wir ihn ernst nehmen und ihn beständig vor Augen haben, dann werden wir uns durch kein geschichtliches Ereignis zur Hoffnungslosigkeit verführen lassen. Denn die in Christus verkörperte Liebe Gottes zu den Menschen ist in jedem Augenblick gegenwärtig. Sie ist kein vergangenes geschichtliches Ereignis. Sie hat sich zwar zu einer bestimmten geschichtlichen Zeit in einem Menschen besonders verkörpert. Aber sie gilt ein für allemal.

Als Deutsche haben wir besondere Veranlassung, über den Verlauf unserer Geschichte nachzudenken. Vor 50 Jahren hatte ein Krieg begonnen, der durch Deutsche ausgelöst worden war und der über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet und unbeschreibliches Elend angerichtet hat. Bei manchem ist durch diese furchtbare geschichtliche Erfahrung der Glaube an einen guten, die Menschen liebenden Gott verloren gegangen. Ohne einen solchen Glauben sind wir aber dem Druck der geschichtlichen Ereignisse schutzlos ausgeliefert. Wir sind dann in der Gefahr, kleinmütig zu werden, zu resignieren, uns auf uns selbst zurückzuziehen und die Geschichte und den Mitmenschen mit Skepsis und Zynismus zu betrachten.

Darum sollten wir auch beim Rückblick auf unsere Geschichte nach den Spuren Gottes suchen, nach den sichtbaren Zeichen seiner Verheißung. Kleine Zeichen der Menschlichkeit, der Hilfsbereitschaft, der Versöhnung werden wir allenthalben entdecken.

Das kann helfen - wenn wir solchen Spuren nachgehen und dann selbst Zeichen zu setzen versuchen, damit es anderen leichter fällt, in den Wirren der Geschichte und in ihren persönlichen Nöten an die Verheißung Gottes zu glauben.

Als Jakob aus seinem Traum erwachte, errichtete er den Stein als sichtbares Zeichen zum Gedenken dessen, was ihm an diesem Ort Wunderbares zuteil geworden war. Wie schön wäre es, wenn wir selbst lebendige Steine sein könnten, an denen sichtbar wird, dass Gottes Liebe gegenwärtig ist. Und wie schön wäre es, wenn wir gemeinsam als Gemeinschaft, als Gemeinde ein Haus des Friedens bilden würden, ein Haus der Gastfreundschaft, der Geborgenheit, ein Beth-El, wie Jakob es nannte, ein Haus Gottes. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 27. August 1989) 

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013