„Die Zeit ist kurz“ - diesen Satz unseres Predigttext sollten wir zunächst betrachten, denn von ihm her lässt sich verstehen, was uns ansonsten schwer nachvollziehbar bliebe.
„Die Zeit ist kurz“ – welche Zeit ist kurz? Gemeint ist die Zeit bis zur Wiederkehr Christi, die Zeit bis zum Anbruch des Reiches Gottes. Paulus hat in der Erwartung gelebt, dass er selbst es noch miterleben würde, wie Jesus, der gestorben, auferstanden und gen Himmel gefahren war, wiederkehren und dann sein Werk vollenden würde – und wie sich damit die Herrschaft Gottes voll entfalten würde.
Vielleicht ist nicht jedem von Ihnen und von Euch dieses Thema einer „Wiederkehr Jesu Christi“ so geläufig. Deshalb noch ein paar Erläuterungen dazu. Es wird vermutlich jedem von uns einleuchten, dass das Auftreten Jesu in gewisser Weise ein unvollendetes Werk hinterlassen hat. Jesus war in seinem Heimatland umhergezogen, hatte gepredigt und viel Gutes getan und hatte allenthalben verkündigt: „Das Reich Gottes ist nahe. Bald bricht die Herrschaft Gottes an. Stellt euch darauf ein, bekennt eure Sünden, tut Buße, ändert euer Leben, damit ihr Gott ruhigen Gewissens gegenübertreten könnt.“
Dann war Jesus gestorben, er war hingerichtet worden. Das war ein Schock gewesen für seine Anhänger. Denn die Frage war doch: „War alles, was Jesus gesagt und getan hatte, damit zunichtegemacht?“ Es berichteten dann einige, Jesus sei auferstanden, er lebe. Damit kam eine neue Hoffnung auf, dass doch nicht alles vergebens gewesen sei, dass die Herrschaft Gottes doch angebrochen sei – in dem Sieg des Lebens über den Tod.
Dann vergingen die Jahre. Es waren schwere Jahre für die Anhänger Jesu. Sie wurden gering geschätzt, verachtet, verspottet, man stellte ihnen nach, trachtete ihnen nach dem Leben; mancher musste sein Leben lassen um seines Glaubens willen. In dieser schweren Zeit tröstete einer den anderen mit dem Hinweis: „Du weißt doch: Als Jesus sich von seinen Jüngern verabschiedete, versprach er ihnen, dass er im Geiste allezeit bei ihnen sein würde und dass sie sich wiedersehen würden im Reich Gottes.“ Dieser Ausblick auf ein Wiedersehen gab ihnen die Kraft, Krisen zu durchstehen, Schmähungen und Verfolgungen auszuhalten.
Paulus hat auch einiges durchmachen müssen. Auch er schöpfte Kraft daraus, dass die Leiden bald ein Ende haben würden, dass bald ein neues Leben unter der Herrschaft Gottes anbrechen würde.
Diese Vorstellung, dass Jesus Christus bald wiederkommen würde, noch zu Lebzeiten der ersten Christen, hatte für diese nicht nur eine tröstliche und stärkende Wirkung. Sie hatte auch Konsequenzen für die konkrete Lebensführung. Sie warf Fragen auf: „Wie soll ich mein Leben gestalten angesichts der Perspektive, dass morgen oder in ein paar Monaten oder in wenigen Jahren Jesus Christus wiederkehren und sein Werk vollenden wird und die Herrschaft Gottes zur vollen Entfaltung kommen wird?“
Wir können die Frage einmal an uns selbst richten. Dann werden wir schnell merken, dass es doch ein großer Unterschied ist, ob wir in der Vorstellung leben, die Welt gehe immer so weiter wie bisher, oder ob wir daran glauben, dass in Kürze alles ganz anders werden werde, dass sich noch zu unserer Lebzeit in unserer Welt die Dinge nach dem ureigensten Willen Gottes regeln und eine neue Welt entstehen würde: der Himmel auf Erden, wo es keinen Tod, kein Unrecht, keine Not mehr geben würde, kein Besitzen oder Nichtbesitzen, kein Verheiratetsein oder Nichtverheiratetsein.
Dann werden nämlich ganz praktische Fragen eventuell ganz unterschiedlich beantwortet: Soll ich mir ein Haus kaufen oder nicht? Soll ich noch heiraten oder nicht? Soll ich, sofern ich Sklave bin – so etwas gab es ja damals noch – davonlaufen und mich freimachen aus dem Sklavenstand? Soll ich als Kaufmann mein überschüssiges Geld langfristig irgendwo anlegen oder vielleicht lieber jetzt sofort für kurzfristige Ziele ausgeben?
Die Vorstellung, Jesus könnte in kurzer Zeit wiederkommen und alles verändern, hat eine – zumindest in mancher Hinsicht – ähnliche Wirkung wie etwa die Vorstellung, ich hätte nur noch eine kurze Zeit zu leben, nur noch ein paar Tage, ein paar Wochen oder Monate oder auch nur noch wenige Jahre. Das ist doch etwas anderes, als wenn man mit der Perspektive lebt, man habe noch eine lange Lebenszeit vor sich.
Klar ist allerdings wohl auch, dass Menschen unterschiedlich umgehen mit der Vorstellung einer kurzfristigen oder langfristigen Perspektive.
Paulus war jedenfalls von der Vorstellung geprägt, Jesus Christus würde noch zu seinen Lebzeiten wieder erscheinen. Er hat daraus einige Ratschläge abgeleitet, die wir in unserem Predigttext vor uns haben.
Nun wissen wir inzwischen, dass Paulus sich in diesem Punkt geirrt hat. Jesus Christus ist noch nicht wiedergekehrt. Die Wiederkehr, so sagen wir, hat sich verzögert und die Verzögerung dauert weiter an. Und keiner weiß so recht, wie lange noch. Es hat zwar immer wieder Menschen und Gruppen gegeben, die gesagt haben: Nun ist es so weit, am soundsovielten, und die dazu aufgerufen haben, sich darauf einzustellen, allen Besitz zu verkaufen, z. B. Aber bisher haben sich alle getäuscht. Und so warten wir weiter.
Es ist wichtig, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass Paulus diese Naherwartung gehabt hat. Denn das kann uns vor Missverständnissen seiner Äußerungen bewahren. Wenn sich Paulus äußert zur Frage: Heiraten oder nicht heiraten, dann lässt er sich eben nicht nur leiten von moralischen Vorstellungen oder von Vorstellungen von Sinn und Zweck einer Ehe, sondern er gibt einen Ratschlag eben auch und vor allem mit Blick auf die Tatsache, dass die gesellschaftliche Ordnung wie überhaupt alle Dinge des Lebens in Kürze so ganz anders sein würden, dass Verheiratetsein oder Nichverheiratetsein dann eigentlich keine Rolle mehr spielen würde, sodass jetzt auch keine Notwenigkeit mehr bestünde, den eigenen Status zu verändern. Wer unverheiratet ist, soll doch ruhig unverheiratet bleiben, rät er, und wer verheiratet ist – vielleicht mit einem Nichtchristen – soll es doch auch dabei belassen.
Angesichts des bevorstehenden Endes predigt Paulus uns eine gewisse Gelassenheit hinsichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Gerade was die Ehe und was z. B. die Existenz von Sklaven angeht, mag uns das etwas gegen den Strich gehen. Aber wie gesagt die Endzeitvorstellung spielte für Paulus eine wesentliche Rolle.
Wir müssen und können ihm in dieser Hinsicht nicht folgen. Wir stehen ja vor der Tatsache, dass sich die Wiederkehr Christi, die Vollendung des Reiches Gottes weiter verzögert. Das ist ein Tatbestand, den die Generationen nach Paulus und auch wir heute noch mit zu berücksichtigen haben.
Wir müssen unser Leben, unser persönliches, das nur eine Reihe von Jahrzehnten andauert, aber auch das gesellschaftliche, das über unsere eigene Lebenszeit hinausgeht – wir müssen unser persönliches und das gesellschaftliche Leben mit einer Langzeitperspektive planen. Darum müssen wir z. B. heute zur Wahl gehen und können nicht sagen: „Es kommt nicht so drauf an, denn in Kürze greift Gott in dieses Leben ein und wird alles verändern.“ Wir müssen die Arbeitslosigkeit, den Hunger und all die sonstigen Mängel und Ungerechtigkeiten in unserem gesellschaftlichen Leben ernstnehmen und auch durch eventuell nur langfristig wirkende Maßnahmen zu beseitigen versuchen. Wir müssen uns über die Anlage von Geldern Gedanken machen, über Anschaffungen, wir müssen an die Rentenversorgung denken. Und die Frage, ob wir heiraten wollen oder nicht, erledigt sich nicht mit dem Gedanken: „Morgen wird diese Welt ohnehin nicht mehr die von heute sein.“
Im übrigen hat Martin Luther einen bekannten Satz gesagt, den wir in diesem Zusammenhang in gewisser Weise Paulus entgegenhalten können. Die Einstellung von Paulus ist: Weil morgen die Welt durch Gottes Eingreifen anders sein wird, will er schon heute keine langfristig wirkenden Maßnahmen mehr ergreifen. Luther hat dagegen gesagt - Sie kennen das: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“ Da hat sich Luther anders entschieden als Paulus. Auf die Beispiele des Paulus übertragen würde das z. B. heißen: Wenn ich wüsste, dass die Welt morgen durch Gottes Eingreifen ganz anders sein würde, würde ich dennoch heute heiraten und mir ein Haus kaufen.
Wir haben gelernt, dass wir nicht wissen können, was morgen ist. Mir scheint, wenn wir die Einstellung von Paulus und von Luther zusammentun, dann haben wir für unsere Lebensgestaltung eine brauchbare Grundlage. Um zunächst noch einmal bei Luthers Satz anzusetzen: Was wir heute für gut und richtig halten, das sollen wir nicht unterlassen, nur weil wir meinen, es würde morgen keinen Bestand mehr haben. Da wir nicht wissen können, was morgen ist, können wir uns nur nach dem richten, was uns heute sinnvoll erscheint.
Und Paulus: Auch, wenn wir nicht wissen, was morgen ist, kann für unsere Lebensgestaltung die Vorstellung hilfreich sein, morgen stünde Jesus Christus vor der Tür oder morgen müssten wir vor das Antlitz Gottes treten. Das kann uns wach und wachsam halten. Das kann uns vor Gleichgültigkeit bewahren. Das kann uns dazu anhalten, das, was uns im Sinne Jesu und im Sinne Gottes wichtig ist, schon heute zu tun. Es kann unser Verantwortungsbewusstsein stärken. Auch diese Richtung gibt es im Neuen Testament: den Aufruf zur Wachsamkeit.
Beides also gilt: Die Dinge des Lebens ernst nehmen und sie dennoch gelassen sehen. Das Leben planen, ohne zu meinen, wir hätten damit alles geregelt. Besitz erwerben, ohne darin unsere Sicherheit zu suchen. Heiraten oder auch nicht heiraten und dies der ernsthaften Entscheidung der Betroffenen überlassen.
„Die Zeit ist kurz“ – dieser Hinweis kann hilfreich sein für die Lebensgestaltung. Die Zeit ist kurz, jeder Tag ist wertvoll, jede Stunde ist ein wunderbares Geschenk. Jede Minute fordert uns zu ganzer Hingabe heraus. Jeder Augenblick ist des Dankes wert.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. Oktober 1994)