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21. Sonntag nach Trinitatis (21.10.18)


Sich mit den Gegebenheiten arrangieren?

23. Oktober 1988

21. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 29,1.4-7.10-14 


Wir werden im Anschluss an diese Predigt das Lied singen: „Wie Gott mich führt, so will ich gehn.“ Unter diese Überschrift möchte ich auch die Auslegung unseres heutigen Predigttextes stellen: „Wie Gott mich führt, so will ich gehn.“ Hierin kommt die Bereitschaft zum Ausdruck, den Verlauf des Lebens anzunehmen, wie er einem gerade gegeben ist – mit seinen Höhen und Tiefen.

Gottes Wege mit uns sind verschlungen. Wir haben eigene Wünsche, Pläne und Ziele. Und dafür setzen wir uns ein. Aber es kommt doch oft anders, als wir es gedacht und gewollt hatten. So stehen wir nicht selten vor der Frage, ob wir nun noch einmal alles dran setzen wollen, um die Dinge doch noch nach unserem Willen zurechtzubiegen, oder ob wir uns auf den Gang der Dinge einstellen und hinnehmen sollen, was geschehen ist, und unsere Lebensperspektiven entsprechend ausrichten sollen. Dies ist eine schwierige Frage: die Entscheidung zwischen Widerstand und Ergebung, zwischen Auflehnung und Annahme. Es kann auch die Entscheidung zwischen Illusion und Hoffnung sein.

Betrachten wir nun einmal unseren Predigttext. Wir müssen uns in eine Situation zurückversetzen, die bereits mehr als zweieinhalb Jahrtausende zurückliegt. Wir schreiben das Jahr 594 vor Christus – und wir befinden uns in Jerusalem, der Hauptstadt des damaligen Reiches Juda.

Das Reich Juda befindet sich zu jenem Zeitpunkt in einer politisch überaus schwierigen Situation. Denn es ist politisch nicht mehr unabhängig. Drei Jahre zuvor war es unter die Oberherrschaft der Babylonier geraten. Diese haben seitdem das Sagen im Lande. Unter ihrem König Nebukadnezar haben die Babylonier alle Fäden in der Hand. Sie haben die führenden Persönlichkeiten Judas samt der Königsfamilie nach Babylon deportiert und einen ihnen genehmen König in Jerusalem eingesetzt.

Also kurz gesagt: Seit drei Jahren befindet sich das Reich Juda unter babylonischer Fremdherrschaft. Ein Teil der Bevölkerung ist ins Exil nach Babylon verbannt. Wir können uns vorstellen, dass in beiden Teilen der Bevölkerung, bei denen in der Fremde und denen, die in ihrer Heimat bleiben konnten, die Frage gestellt wird: „Wie soll es weitergehen? Soll man sich abfinden mit diesem Schicksal? Soll man aufbegehren gegen die babylonischen Herrscher, Widerstand leisten oder abwarten?“ Das ist doch, werden Sie vielleicht sagen, eine politische Frage. Ganz gewiss! Allerdings waren für die Menschen jener Zeit das Politische und das Religiöse so leicht nicht voneinander zu trennen. Beides war vielmehr ineinander verwoben.

Gerade das Volk Israel hatte immer wieder seine politischen Geschicke als die Geschichte Gottes mit seinem Volk verstanden. Und auch die geschichtliche Situation, um die es hier geht: die Herrschaft Babyloniens über das Reich Juda, wird unter der Frage betrachtet: Warum hat Gott die Verhältnisse so gefügt? Was hat er weiter vor und was erwartet er von seinem Volk?

Um die politische Situation zu interpretieren und Schlussfolgerungen für das politische Handeln zu ziehen, wurde in jener Zeit nach dem Willen Gottes gefragt. Diesen herauszubekommen und zur Sprache zu bringen, war in Israel und im Reich Juda insbesondere die Aufgabe der Propheten. Das war eine schwierige Aufgabe. Es ist ja schon schwierig genug, eine politische Lage einzuschätzen. Dies mit dem Anspruch zu tun, damit den Willen Gottes zu interpretieren, macht die Sache nicht gerade leichter.

Dass die verschiedenen Propheten zu unterschiedlichen oder auch gegensätzlichen Einschätzungen kamen, werden wir uns leicht denken können. Und dass der eine oder andere Prophet den Lauf der Dinge so auslegte, wie sein Auftraggeber die Dinge gern sehen wollte, wird auch nicht verwundern. Die sog. Heilspropheten, jene also, die einen positiven Verlauf der Geschichte voraussagten, fanden eher Gehör und freundliche Aufnahme als die Unheilspropheten, jene, die Not und Unglück vorhersahen.

Nehmen wir nun wieder konkret Bezug auf das Jahr 594 vor Christus. Natürlich wurden da die politische Situation und die Zukunftsperspektiven unterschiedlich eingeschätzt. In den beiden Propheten Hananja und Jeremia personifizieren sich die gegensätzlichen Positionen. Hananja prophezeit: Innerhalb von zwei Jahren geht es mit der babylonischen Herrschaft zu Ende. Dann werden die Exilierten in ihre Heimat nach Jerusalem zurückkehren können. Dieser optimistische Ausblick gründet sich auf die Vorstellung, dass die Babylonier mit Hilfe der ägyptischen Großmacht zurückgedrängt werden könnten. Auf eine Zusammenarbeit mit den Ägyptern käme es jetzt also an.

Der Prophet Jeremia sieht das ganz anders. Auch er beruft sich wie Hananja auf das Wort Gottes. Doch dieser hat ihm etwas anderes gesagt: Siebzig Jahre wird die Herrschaft der Babylonier dauern. Also käme es nun darauf an, sich mit den Babyloniern zu arrangieren. Man müsse nun zunächst Geduld haben, die gegebene Situation hinnehmen und im besten Sinne annehmen als das von Gott Gewollte. Nach Ablauf der siebzig Jahre würden die Exilierten aus Babylonien zurückkehren und ihre Heimat neu aufbauen können. Aber jeder Versuch, jetzt in Kürze eine Veränderung herbeizuführen, würde nur in einer noch größeren Katastrophe enden.

So schreibt also Jeremia den Brief an die Ältesten der Gemeinde in Babylonien, der uns heute als Predigttext vorliegt: „Baut Häuser in Babylonien und wohnt darin. Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte. Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter; werbt um Frauen für eure Söhne und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären, dass ihr euch dort mehrt und euer nicht weniger werden. Sucht das Wohl des Landes, in das ihr verbannt seid, und betet für das Land zu Gott. Denn sein Wohl ist auch euer Wohl.“

Die Verbannten in Babylon sollen sich auf eine lange Zeit in der Fremde einrichten. Die Fremde wird für viele Jahrzehnte ihre Heimat sein. Darum sollen sie diesem fremden Land wohlgesonnen sein und für sein Bestes eintreten. Denn das wird ihnen selbst zugutekommen.

Jeremia hatte die Lage richtig eingeschätzt und einen heilsamen Rat erteilt. Diejenigen, die gemeint hatten, sie könnten die babylonische Herrschaft mit Hilfe der Ägypter schnell wieder abschütteln, mussten bald ihren Irrtum erkennen. Ihre Versuche des Widerstands wurden von Nebukadnezar niedergeschlagen. Jerusalem wurde diesmal gänzlich zerstört und ein weiterer Teil der Bevölkerung wurde nach Babylon deportiert.

Jeremia hatte mit seiner düsteren Vorhersage Recht behalten. Seine Aufforderung, die Situation der Fremdherrschaft als vorläufig gegeben anzunehmen als die von Gott gestellte Aufgabe, erwies sich als der tatsächlichen Situation angemessen.

Es hat sicherlich viele ähnliche historische Situationen gegeben. Mir ist gleich die Erinnerung an die Situation der Kirche in der DDR gekommen. Als sich dort nach 1945 ein atheistisches Regime etablierte, war für die Kirchen die Frage, wie sie sich nun verhalten sollten. Wer damit rechnete, dass es mit der kommunistischen Herrschaft bald ein Ende nehmen würde, der mochte dazu raten, mit dem herrschenden System in keiner Weise zusammenzuarbeiten, eher Widerstand zu leisten und alle Kräfte des Widerstands zu fördern. Diese Einstellung hatte es lange gegeben.

Als sich jedoch die Einsicht verstärkte, dass es mit der kommunistischen Herrschaft so bald kein Ende nehmen würde, fanden zunehmend die Stimmen Gehör, die sich dafür aussprachen, sich in den gegebenen Verhältnissen einzurichten, zwar nicht für das System zu arbeiten, aber auch nicht dagegen, sondern im System eine konstruktive, der Kirche angemessene Rolle zu finden. So wurde vor etwa zwanzig Jahren die Formel von der „Kirche im Sozialismus“, nicht für und nicht gegen den Sozialismus, sondern im Sozialismus gefunden.

Natürlich gab es daraufhin Vorwürfe, die Kirche kollaboriere nun mit den Kommunisten und würde ihre eigene Sache verraten und die Aussichten auf eine Veränderung des Systems damit noch verschlechtern.

Wir können uns von daher auch wieder vorstellen, wie schwer es Jeremia gehabt hat, Anerkennung zu finden für seine Aufforderung, sich in Babylon zu arrangieren.

Manchmal, und dies gilt für unser persönliches Leben ebenso, ist es der heilsamere Weg, die ungewünschte und ungewollte Situation anzunehmen, nicht, sich im Widerstand aufzureiben und vielleicht in Verzweiflung gänzlich zugrunde zu gehen, sondern ggf. auch für die Peiniger zu beten und in Geduld zu hoffen, dass Gott eines Tages die Dinge zum Guten wenden wird.

Durch den Mund Jeremias lässt er uns sagen: „Ich will meine Verheißung an euch erfüllen. Ich weiß, was für Gedanken ich über euch hege – Gedanken zum Heil und nicht zum Unheil, euch eine Zukunft und Hoffnung zu gewähren. Wenn ihr mich ruft, so will ich euch antworten. Wenn ihr zu mir betet, will ich auf euch hören. Wenn ihr mich sucht, so sollt ihr mich finden. Wenn ihr nach mir fragt, von ganzem Herzen, so werde ich mich von euch finden lassen. Ich werde euer Geschick wenden.“

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 23. Oktober 1988)

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