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22. Sonntag nach Trinitatis (28.10.18)


Unverbesserlich, aber nicht aufgegeben

4. November 2007

22. Sonntag nach Trinitatis

Micha 6,6-8


„Ich habe dir doch schon x-mal gesagt, dass du ...“ Sie könnten diesen Satz selbst fortsetzen - "... dass du nicht immer dazwischenreden sollst, ... dass du deine Sachen nicht überall herumliegen lassen sollst, ... dass du nicht immer nur an dich denken sollst ...“ Wir haben solche und ähnliche Sätze sicherlich des Öfteren in unserem Leben gehört und zu hören bekommen und auch selbst gesagt, wenn wir genervt waren über jemanden.

Man kann sich manchmal, verzeihen Sie, den Mund fusselig reden - und es passiert doch nichts. Warum klappt das so oft nicht, dass jeder tut, was er zu tun hat, dass jeder sich so verhält, wie er sich verhalten sollte? Ja, warum klappt das nicht? Das ist eine Lebensfrage, eine Menschheitsfrage. Es klappt einfach nicht, das können wir nur ganz illusionslos feststellen. Wenn es doch mal klappt, dann können wir uns freuen. 

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was nicht gut ist.“ In vielen Fällen wissen wir wirklich, was wir zu tun haben und was wir zu unterlassen haben. Wir machen's trotzdem anders. „Merkt ja keiner!“ oder „Ist doch nicht so schlimm!“ oder „Machen die anderen doch auch!“ Oder manchmal haben wir einfach nur keine Lust oder denken nicht daran. Manchmal handeln wir aber auch vorsätzlich - in der bewussten Absicht, das Recht zu brechen, der eine vielleicht, weil er einfach das Geld sparen möchte und die Steuer nicht zahlen will, der andere ... ach, da ließen sich viele Beispiele finden.

Wir sind einfach so. Wir sind keine Engel. 

Auch wenn Eltern zu ihrem Kind manchmal sagen: „Mein kleiner Engel.“ Das ist dann die elterliche Liebe, die dann doch stärker ist als der Ärger über das andere. Manchmal sagt es der Mann zu seiner Frau: „Mein Engel!“ Das ist Liebe.

Das ist unser Glück, dass es etwas gibt, was doch noch wichtiger ist als das, was wir alles anstellen und unterlassen. Wenn einfach nur all das zusammengezählt würde, was wir an Unrechtem tun und sagen und denken, dann wäre das Maß ganz schnell voll und wir müssten sagen: „Das war‘s. Ende der Beziehung.“ 

Aber so ist das nicht, meistens nicht. Wenn am Ende des Tages die Seite voll ist, blättern wir um, und auf der anderen Seite ist alles frei und rein - und wir fangen von vorn an. 

So kann es in Familien gehen, wenn Eltern ihr Kind abends ins Bett bringen: „Das war heute nicht so gut“, werden sie vielleicht sagen, „aber morgen probieren wir mal, ob es nicht doch besser geht.“ So oder so ähnlich geht es jeden Abend und jeden Tag. Und bei Eheleuten ist es - hoffentlich - auch so ähnlich, solange noch die Liebe da ist. Ja, daran hängt es: Es hängt daran, ob wir noch Liebe zueinander empfinden. Denn sie ist es, die uns bereit macht, all das Ungute und Unschöne hintanzustellen und es immer wieder im Guten miteinander zu versuchen, eine Lebensaufgabe, eine Menschheitsaufgabe. 

Es ist das Befreiende an der biblischen Botschaft, dass sie uns sagt: „Du, Mensch, bist kein Engel, aber trotzdem bist du ein geliebtes Kind des Schöpfers. Du, Mensch, verhältst dich nicht korrekt, du bist nicht tadellos, du handelst immer wieder wider besseres Wissen und gegen dein eigenes Gewissen, du machst dich schuldig und brauchst die Ermahnung, die Kritik, die Strafe, aber du darfst wissen: Der Weg zur Besserung bleibt dir immer offen, ein Leben lang, ja, die ganze Menschheitsgeschichte lang. Schau dir den Regenbogen an: Er ist das Zeichen dafür, dass der Schöpfer sich zu endloser Geduld entschlossen hat, zu grenzenloser Barmherzigkeit und Liebe.“

Das sagen uns die biblischen Texte - vom Alten Testament angefangen: Wie oft war der Gott Israels seinem Volk gnädig! Bis zum Neuen Testament: Das Kreuz, Zeichen menschlicher Schuld, wurde zum Symbol der Vergebung, zum Zeichen der göttlichen Liebe zu uns allen. 

Die frohe Botschaft der Bibel verkündet uns keine billige Gnade. Die Botschaft lautet nicht: „Es ist nicht so schlimm, Mensch, was du an Unrechtem sagst und tust.“ Doch, es ist schlimm, manchmal sehr schlimm. Aber es gäbe kein Leben mehr, wenn es nicht die Vergebung gäbe. 

Mann und Frau würden kein Kind mehr in die Welt setzen, wenn sie erwarten würden, ein tadelloses Wesen zu erschaffen. Denn das tadellose Wesen wird es nicht geben. Die Eltern sind bereit, ein unvollkommenes Wesen anzunehmen - und es in Liebe großzuziehen - in der täglichen Auseinandersetzung mit all den immer wiederkehrenden kleinen und größeren Boshaftigkeiten.

Und kein Mann und keine Frau würden sich mehr dazu entschließen, eine Lebensbeziehung einzugehen, wenn sie erwarten würden: Der andere wird sich immer korrekt verhalten. Nein, beide Seiten wissen: Es wird auch Streit und Ärger geben. Aber wir sind bereit, uns immer wieder in Liebe zusammenzuraufen. Anders ginge es gar nicht: Der Mensch ist, wie er ist. Das Leben geht nur weiter in Liebe, in der Bereitschaft, immer wieder in Liebe aufeinander zuzugehen und neu anzufangen.

Diese Bereitschaft ist zum Glück weitgehend geradezu kreatürlich in uns vorhanden. Sie ist auch die biblische Botschaft. Der göttliche Schöpfer hat sich darauf eingestellt, dass sein Geschöpf Mensch unverbesserlich ist. Er hat sein Geschöpf mit den Bedingungen dieses Seins überfordert. Er hat den Menschen schwach geschaffen und ihn vor übergroße Aufgaben gestellt. Aber er hilft den Menschen und verzeiht. Er liebt sein Geschöpf und möchte, dass es immer wieder gut weitergeht. Das ist die biblische Botschaft, die frohe Botschaft, die gute Nachricht, das Evangelium. Das ist unser Glaube.

Bei aller Liebe bleibt die Notwendigkeit der Kritik, auch der Strafe bestehen. Jedes Tüpfelchen des Gesetzes hat weiterhin seine Gültigkeit. Unrecht muss weiterhin beim Namen genannt werden. Und die Bemühungen dürfen nicht nachlassen, Recht zu schaffen. Aber alles in Liebe.

Der Prophet Micha nennt Unrecht beim Namen. Es handelt sich um eklatantes, ganz offensichtliches Unrecht. Soziale Kritik übte er damals, vor 2700 Jahren - mit teilweise drastischen Worten. Lesen Sie das ruhig mal selbst nach, es hat nur sieben Kapitel - das Buch des Propheten Micha: 

„Sie reißen Äcker an sich und nehmen Häuser, wie es sie gelüstet“, heißt es da.  Und weiter: „Ihr hasst das Gute und liebt das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Knochen. ... Die Richter richten für Geschenke, die Priester lehren für Lohn und die Propheten wahrsagen für Geld ...“ Und Micha warnt: „Niemand glaube seinem Nächsten, niemand verlasse sich auf einen Freund!“ 

Hinter solchen Äußerungen stehen deprimierende Lebenserfahrungen, die auch uns nicht unbekannt sind.  

Und unbekannt ist uns auch nicht der Versuch, das schlechte Gewissen irgendwie wieder zu beruhigen und sich innere Entlastung zu schaffen - durch irgendwelche guten Taten, Ersatzleistungen, Ausgleichsleistungen. Der Prophet Micha nennt Opfer, kultische Opfer, sagt aber ganz klar: An einem Opfer wird Gott keinen Gefallen haben, wenn es dazu dienen soll, das schlechte Gewissen zu beruhigen. Gott will keine Opfer, sondern wahre Reue und Umkehr, den ernsthaften Versuch der Besserung. 

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

Manchmal wissen wir wirklich, was gut ist und was böse ist - dann nämlich, wenn das Unrecht eindeutig Unrecht ist. Zur Zeit des Dritten Reiches z. B. gab es manches, was eindeutig und undiskutierbar Unrecht war. 

Wir stehen allerdings nicht selten etwas ratlos vor einem Problem und vor einer ethischen Entscheidung. In den achtziger Jahren war unsere Gesellschaft - und auch die Kirche - geradezu gespalten über die Frage der atomaren Abschreckung. Vielleicht erinnern Sie noch die Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluss. Heute ist z. B. die Frage, ob genetische Veränderungen vorgenommen werden dürfen - in Lebensmitteln oder gar im menschlichen Erbgut, eine schwierige ethische Frage. Die Meinungen darüber, was gut ist und was böse ist, gehen weit auseinander. Was ist der Wille Gottes? „Prüft, was das Beste ist“, sagt Paulus in seinem Brief an die Philipper. Ja, aber selbst nach ernsthafter Gewissensprüfung lässt sich das Fragezeichen manchmal nicht auslöschen.

Es gibt eindeutiges Unrecht. Und das muss als solches benannt und verurteilt werden. Aber insgesamt ist das Leben mit seinen Problemen und Fragestellungen und Herausforderungen für uns zu kompliziert, als dass wir alles gut und einvernehmlich erklären und regeln könnten. Wir sind nicht der göttliche Schöpfer selbst und wir sind nicht die Herren dieser Welt. Wir können uns nur bestmöglich bemühen - und das sollen wir auch tun. Wenn wir dann zu unseren persönlichen Schlussfolgerungen gekommen sind über das, was gut ist und was böse ist, dann bleibt ein gewisses Maß an Bescheidenheit wichtig: dass wir auch dem anderen das Recht zu abweichenden Schlussfolgerungen zubilligen. 

Der Prophet Micha wollte aus gegebenem Anlass die Gewissen aufrütteln. Die Gewissensprüfung gehört zu unseren täglichen Aufgaben. Wenn wir sie ernsthaft vorgenommen haben und dennoch ratlos bleiben, dann dürfen wir unsere offenen Fragen in die Hand Gottes legen. Er hat sich in Christus als der Liebende offenbart. Das hilft uns ein großes Stück weiter. Dennoch bleibt er das Geheimnis des Lebens, das A und das O, die nicht auslotbare Tiefe der Weisheit und unerreichbare Höhe der Erkenntnis. Ihm dürfen wir unsere ungelösten Fragen anvertrauen. Und ihn dürfen wir um Nachsicht mit unseren Irrtümern und um Vergebung für unsere Schuld bitten. 

Dem gütigen und barmherzigen Gott sei Dank und Ehre. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. November 2007)

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