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22. Sonntag nach Trinitatis (5.11.23)


"Wie ich mir, so ich dir"

26. Oktober 1997

22. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 18,21-35


Wir - als Menschen - sind sonderbare Wesen. Wir wollen, dass andere gut zu uns sind, aber umgekehrt fällt es uns schwer, unsererseits andere so gut zu behandeln, wie wir es uns von ihnen wünschen. Anderen zu geben, was wir von anderen für uns erhoffen und erwarten, fällt uns nicht leicht. Es ist, als bestünden wir aus zwei Persönlichkeiten. Die eine Person in uns hält die Arme weit offen und bittet und fordert: „Gebt mir alles, was ich brauche!“ Die andere Person in uns ist ziemlich verschlossen und abweisend nach dem Motto: „Lasst mich in Ruhe mit euren Wünschen und Forderungen. Ich habe mit mir selbst genug zu tun.“

Zwei Persönlichkeiten in uns, die mit ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Maßstäben messen. Das passt nicht zueinander. Aber das ist die Realität. Der Abschnitt aus dem Matthäusevangelium hat ein eindrückliches Beispiel für die Gespaltenheit unserer Persönlichkeit gegeben - ich sage bewusst: unserer Persönlichkeit. Da wird zwar von jemand anderem geredet, nicht direkt von uns. Aber ich meine doch, dass wir selbst uns in jener Person wiedererkennen können. Sagen Sie es mir nachher gern, wenn Sie anderer Meinung sind. 

In der Geschichte aus dem Matthäusevangelium geht es um einen Mann, der Schulden hatte beim König. Zehntausend Zentner Silber Schulden hatte er, das ist eine gewaltige Menge. Es muss sich wohl um eine Art Provinzgouverneur gehandelt haben, der seinem König die gesamten Steuerabgaben seiner Provinz schuldete. Diese enorme überfällige Menge Silber soll er nun zahlen, andernfalls müsse er sich selbst, seine Frau und seine Kinder und alles, was er hat, verkaufen. Eine altertümliche Geschichte, wie wir an dieser Strafandrohung merken; aber das Grundproblem ist natürlich nicht so altertümlich. Säumige Schuldner gibts auch heute genügend. 

Unser Mann kann der Zahlungsaufforderung seines Königs nicht nachkommen. Er wird vor den König zitiert und soll Rechenschaft ablegen. Der Schuldner bittet den König um Geduld und um Verlängerung der Rückzahlungsfrist: Er will alles zurückzahlen, aber später. Der König ist großmütig und erfüllt den Wunsch des säumigen Schuldners. Dieser ist natürlich über die Maßen glücklich, dass der König Gnade vor Recht hat ergehen lassen. 

Das ist der eine Teil der Geschichte und die eine Seite der Persönlichkeit dieses betreffenden Mannes. Und nun lernen wir die andere Seite in ihm kennen: Auf dem Weg vom König nach Hause trifft er einen anderen Mann, von dem er noch Geld zu kriegen hat, hundert Silbergroschen, das ist im Vergleich zu den zehntausend Zentnern Silber so viel wie nichts, eine Bagatelle. Aber nun will unser Mann dieses Geld von dem anderen zurückhaben, und zwar sofort. Der bittet auch um Geduld, will seine Schulden später begleichen, aber alles Bitten hilft ihm nichts. Unser Mann lässt ihn ins Gefängnis werfen, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig ist. 

Das ist also die andere Seite unseres Mannes - diese Gnadenlosigkeit, diese Unbarmherzigkeit. Was er selbst gerade eben noch von dem König für sich selbst erbeten und von diesem gewährt bekommen hatte, das ist er dem anderen seinerseits nicht zu geben bereit. 

Darüber können wir uns empören, sollen wir auch. Ein solches gespaltenes Verhalten ist empörend. Es ist aber, behaupte ich, symptomatisch für uns alle: So oder so ähnlich sind wir. Wir messen mit unterschiedlichen Maßstäben. Mit dem einen Maßstab messen wir uns, mit einem ganz anderen Maßstab messen wir den anderen. Ich will uns alle und den Menschen im allgemeinen jetzt nicht schlecht machen. Es ist ist aber doch gut, sich einmal Rechenschaft über die eigene menschliche, allzu menschliche Wesensart zu geben. 

Erst, wenn wir uns selbst mit offenen Augen schonungslos betrachtet, haben wir doch überhaupt die Möglichkeit, an uns zu arbeiten und uns auf den Weg der Besserung zu begeben. Das ist ja auch gute biblische Tradition: den Menschen in aller Offenheit zu betrachten - nicht nur seine Stärken, sondern auch seine Schwächen klar in den Blick zu nehmen, aber dies nun nicht, um den Menschen herunterzuputzen, sondern um ihm die Chance zur Umkehr zu geben. 

Das ist das Gute an der guten Nachricht des Neuen Testamentes, am Evangelium: dass wir zwar klar als Sünder benannt werden, uns aber dennoch die Liebe Gottes zugesprochen wird, damit wir den Mut fassen, uns zu unseren Verkehrtheiten und Vergehen zu bekennen, uns eines Besseren zu besinnen und uns um unsere Besserung auch tatsächlich zu bemühen. 

Wir sind geliebte Sünder. Das ist die Botschaft des Neuen Testaments. 

Wir brauchen uns also weder gegenseitig etwas vorzumachen, was unsere moralischen Qualitäten angeht, noch sollen wir es bei unseren Mängeln belassen nach dem Motto: Die Vergebung ist uns sicher. 

Am Ende der Geschichte bei Matthäus wird allerdings der strafende Rohrstock ziemlich heftig geschwungen. Als der König davon erfährt, dass der reiche Schuldner, dem er vergeben hat, einen anderen Schuldner so unbarmherzig kleinlich behandelt hat, lässt er den reichen Schuldner gefangenen nehmen und körperlich züchtigen.

Einen den Rohrstock schwingenden Gott mag ich nicht. Von daher fällt es mir schwer, diese Geschichte so als Gleichnis auszulegen, dass ich sage: In den beiden Schuldnern, dem großen und dem kleinen, können wir uns wiedererkennen - und der König, das ist Gott. Der König mit seiner vergebenden Seite mag wohl unserer Gottesvorstellung entsprechen, der grausam strafende aber gewiss nicht. 

Wichtig scheint mir, dass in dieser Geschichte, die vordergründig von finanziellen „Schulden" handelt, das Thema „Schuld" bildhaft angesprochen ist. Es geht um den Umgang mit der Schuld. Es geht um Schuld und Vergebung. Und die Aussage der Geschichte lautet: „Vergib denen, die an dir schuldig geworden sind, so, wie Gott auch dir vergibt. Gott ist unendlich großherzig mit dir, Mensch, der du in deiner ganzen langen Geschichte Berge von Schuld aufgehäuft hast. Sei du nun auch großherzig mit deinem Mitmenschen.“ 

Es heißt übrigens nicht: Sei du so großherzig mit deinem Mitmenschen, wie dieser großherzig dir gegenüber ist. Wenn wir diese Regel gelten lassen würden, dann wären wir am Ende. Wenn wir andere so behandeln wollten, wie wir von anderen behandelt werden und uns von anderen behandelt fühlen, dann würde das wohl ziemlich böse ausgehen. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden“, sagt Jesus, „sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Wir sollen die Vergebung Gottes uns gegenüber als Leitfaden nehmen, wie sie im ganzen Neuen Testament zum Ausdruck gebracht ist. Oder wir können, was noch viel einfacher ist, die „Goldene Regel“ als Leitfaden nehmen, die uns Jesus ans Herz gelegt hat: „Behandle den anderen so, wie du von ihm behandelt werden möchtest.“ Diese Regel ist einfach genial. Denn für uns selbst wollen wir nur das Beste. Und wenn wir dieses auch für den anderen anstreben, sind wir auf einem guten Weg. 

Das Verhalten des anderen soll also nicht unser Maßstab sein, es sei denn der andere verhält sich uns gegenüber wirklich sehr gut und menschlich. Ich möchte noch einmal aufgreifen, was ich anfangs über unsere gespaltene Persönlichkeit sagte. Wir erwarten von anderen für uns mehr, als wir ihnen von uns zu geben bereit sind. Daran haben wir gewiss zu arbeiten, aber natürlich in der Weise, dass wir an uns arbeiten, und nicht indem wir den anderen zu verbessern versuchen. Das gehört zur Liebe und zur Vergebung dazu, dass wir die Gespaltenheit des anderen, seine Inkonsequenz zu einem guten Teil ertragen. Wenn der andere z. B. gern erzählt und erwartet, dass man ihm zuhört, er selbst aber schlecht zuhören kann, dann hören wir eben zu und verzichten ggf. auf die Gleichbehandlung - um der guten Beziehung willen. Das Pochen auf gleiches Recht für alle kann sehr vom Übel sein.

Wir müssen auch mal mehr geben können, als wir empfangen. Das gleicht sich gewiss an anderer Stelle wieder aus. 

Mancher Beter der biblischen Zeit war über das Übermaß der Güte Gottes sichtlich erstaunt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst!“ Und so ähnlich. Wir sind mit göttlicher Güte und Gnade reichlich gesegnet. Wenn uns das einmal klar wird, dann können wir selbst anderen gegenüber gar nicht großherzig genug sein.

Also noch einmal kurz gesagt: Wir sind in unseren Persönlichkeiten widersprüchlich. Da haben wir an uns selbst zu arbeiten. Den anderen aber sollen wir in seiner Widersprüchlichkeit so annehmen wie er ist, und sollen mit unserer Nachsicht und Vergebung auszugleichen versuchen, was in ihm nicht stimmig ist. Das kann der beiderseitigen Beziehung nur dienlich sein. In einem bekannten Gebet ist dieser Gedanke so formuliert:

Herr, lass mich trachten, 
nicht, dass ich getröstet werde,
sondern dass ich tröste,
nicht, dass ich verstanden werde,
sondern dass ich andere verstehe,
nicht, dass ich geliebt werde,
sondern dass ich andere liebe.
Denn wer hingibt, der empfängt.
Wer sich selbst vergisst, der findet.
Wer verzeiht, dem wird verziehen.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 26. Oktober 1997)

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