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2. Sonntag nach Epiphanias (14.1.24)


Langfristig glauben

2. Sonntag nach Epiphanias

14. Januar 1990

Hebräer 12,12-18(19-21a)


Wir alle sind auf dem Weg. Jeder einzelne von uns ist auf dem Weg. Jeder von uns befindet sich in einer anderen Etappe des Lebens. Manche sind schon einen weiten Weg gegangen - über Höhen und durch Tiefen; manche blicken noch erwartungsvoll auf einen hoffentlich langen Weg voraus. Mancher von uns ist erfüllt mit Zuversicht und Tatendrang. Vielleicht sind andere unter uns müde, ohne Perspektive, ohne die Kraft zu hoffen und einen anderen, verheißungsvolleren Weg zu gehen. 

Der Schreiber unseres Hebräerbriefes wendet sich an Menschen, die sich offensichtlich in der zuletzt beschriebenen Verfassung befinden. Ihnen möchte er etwas sagen. Für diejenigen unter uns, die sich gerade in einer aktiven, hoffnungsfrohen Phase befinden, lohnt es trotzdem zuzuhören. Denn jeder von uns kann einmal in den Zustand der Resignation, der Mutlosigkeit und Kraftlosigkeit geraten.

„Richtet auf die erschlafften Hände und die müden Knie“ - mit diesen Worten ermuntert der Schreiber unseres Briefes seine Adressaten. Der bloße Appell ist sicherlich noch keine Hilfe. Denn der Betroffene wird sich fragen: „Ja, wie denn, warum denn, woher soll ich die Kraft nehmen?“ Es ist überhaupt ein schwieriges Unterfangen, einem deprimierten, niedergeschlagenen Menschen aufzuhelfen. Nicht nur aufmunternde Worte, sondern auch stichhaltige Argumente scheinen da oftmals auf unfruchtbaren Boden zu fallen. Als wir im September mit unserem Chor in der DDR waren, bekamen wir durchweg düstere Prophezeiungen über die zu erwartende weitere Entwicklung zu hören. Wenn erst einmal der 40. Jahrestag der Gründung der DDR vorüber wäre, dann würde alles noch schlimmer und die Grenzen vollkommen geschlossen werden. Darum versuchten noch so viele Menschen, rechtzeitig in den Westen zu gelangen. Nach 40 Jahren Negativerfahrung mit dem dortigen Regime war keine Hörbereitschaft mehr da für Worte der Zuversicht und der Hoffnung. Das mochte sich kaum einer vorstellen, dass sich da drüben jemals - im besseren Sinne - etwas ändern würde.

In bestimmten Situationen klingen aufmunternde Appelle - und auch Argumente - hohl. Von den Betroffenen mögen sie wie Hohn empfunden werden - aus dem Munde dessen, so empfinden sie es, der nicht weiß, wovon er redet, weil er eben in einer anderen Situation lebt. 

Mit solchen Reaktionen der inneren Abwehr musste gewiss auch der Schreiber unseres Hebräerbriefes rechnen. Er unternimmt es trotzdem, seinen Adressaten Mut zu machen und seinen Aufruf zur Hoffnung auch mit Argumenten zu unterlegen.

Wir wissen nicht genau, welches die Probleme der Menschen waren, für die dieser Brief damals bestimmt war. Es handelte sich um eine oder mehrere christliche Gemeinden der 3. oder 4. Generation in den 80er/90er Jahren. Die frühen christlichen Gemeinden hatten es sehr schwer. Sie mussten sich gegen eine feindselige Umgebung behaupten, waren von Verfolgungen bedroht, aber durchaus auch von inneren Spannungen und Spaltungen. Und nicht zuletzt auch von Enttäuschungen über unerfüllte Erwartungen. Sie hatten sich unter Gefahr für Leib und Leben und unter Hintanstellung ihrer gesellschaftlichen Sicherheiten für den Glauben an Christus entschieden unter der Annahme, dass er selbst bald wiederkehren und die Herrschaft Gottes errichten würde. Diese Wiederkehr blieb aber aus. So wurde ihre Geduld strapaziert. Und die Frage machte sicherlich vielen zu schaffen, ob die mit Christus verbundene Verheißung sich jemals erfüllen würde. Christus rückte für sie in die Ferne und das Naheliegende gewann zunehmend an Bedeutung. Das ist ja doch mit dem Hinweis auf Esau gemeint, der sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufte. Sie erinnern sich vielleicht an die beiden Söhne Isaaks. Jakob, der nur um Augenblicke Jüngere der beiden Zwillinge, hatte ein Linsengericht zubereitet. Als Esau ihn bat, davon essen zu dürfen, gab Jakob ihm unter der Bedingung davon ab, dass Esau ihm dafür den Erstgeburtssegen abtreten würde. Für uns ist dieses Tauschgeschäft schwer nachvollziehbar. Entscheidend ist, dass Esau um des kurzfristigen Vorteils willen - er wollte seinen Hunger stillen - auf etwas verzichtete, was ihm erst in der Zukunft zuteil werden würde, nämlich die mit dem Segen seines Vaters verbundene Verheißung eines großen und wohlhabenden Volkes: „Möglicherweise sterbe ich sowieso bald, was hat mir dann der Segen genützt? So habe ich wenigstens meinen Hunger gestillt.“

Mangelnde Geduld war sicherlich das Problem derjenigen, an die sich der Schreiber des Hebräerbriefes wandte. Und da ihre Lebenssituation schwierig war, und ihre Gemeinschaft von außen und von innen bedroht war, vermochten sie nicht zu erkennen, dass sich bereits in ihrer - wenn auch beschwerlichen Gegenwart - ein Stück der Verheißung Gottes erfüllte.

Unser Briefeschreiber versucht aber, ihnen das plausibel zu machen. „Ihr macht schmerzliche Erfahrungen“, sagt er, „aber versucht doch einmal, eure Nöte in einem guten Sinne zu verstehen als etwas, was euch zwar Schmerzen bereitet, was euch aber dennoch nützt und voranbringen kann. Denkt einmal an einen Vater, der seine Kinder bestraft. Erleben die Kinder die Strafe nicht als eine schmerzliche Erfahrung? Und dennoch ist sie dazu bestimmt, dem Wohl der Kinder zu dienen. Das können Kinder nicht immer verstehen, weil sie den langfristigen Sinn nicht zu erkennen vermögen. Aber so betrachtet doch eure Leidenserfahrung: als etwas, was euch - bei allen Schmerzen - doch voranbringt, dem Ziel entgegen, das euch von Gott verheißen ist. Darum also, richtet die erschlafften Hände und die lahmen Knie wieder auf. Sammelt alle Kräfte, die in euch noch vorhanden sind und stützt euch gegenseitig und richtet euer Leben so ein, dass ihr mit den Beschwernissen zurechtkommt und ihr es euch durch eure Einstellung nicht noch selbst zusätzlich schwer macht. Strebt nach Frieden untereinander, sorgt dafür, dass keiner die Gemeinschaft vergiftet, und passt auf, dass sich nicht so eine Haltung der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung breit macht, wie Esau sie praktiziert hat. Ihr seid doch schon auf Jesus Christus zugegangen. Ihr habt doch schon einmal für wichtig befunden, was in ihm geschehen ist. Ihr habt den Segen der Gnade doch schon sehr zu schätzen gewusst und euch deshalb für ihn entschieden.“ 

Unser Briefeschreiber versucht, seinen Lesern die Bedeutung Jesu Christi noch einmal nahezubringen. Er spricht sie dabei auf ihre Vergangenheit an, auf die Zeit, als sie noch nichts von Jesus Christus wussten, als für sie nur das Gesetz Mose galt, die harte Forderung der Gebote, die sie stets nur unzureichend zu erfüllen vermochten. Die Priester waren nötig, um ihnen durch Opfer und Riten die Schuld immer wieder zu abnehmen. Dann waren sie durch Christus befreit worden. Sein Tod am Kreuz war das Opfer, mit dem er sich selbst darbrachte, um ein für allemal alle Schuld zu sühnen. Aus dieser Vergebung heraus konnten sie nun leben und jeden Tag neu und fröhlich beginnen. Das hatten sie wahrhaftig als eine Befreiung verstanden und angenommen und hatten sich gemeinsam mit anderen auf den Weg in ein neues Leben gemacht.

Wir erleben schon im Alten Testament, wie die Begeisterung über eine neu erlangte Freiheit nachlässt, wenn die ersten Schwierigkeiten auftauchen. „Ach, wären wir nur bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben!“, jammerte das Volk, als es auf der Wanderung durch die Wüste Hunger leidet. Und so werden sich in den ersten christlichen Gemeinden in Krisensituationen manche gefragt haben, um welches Gewinns willen sie all die Schwierigkeiten auf sich nehmen. 

Vielleicht gibt es auch in der DDR Menschen, die sich angesichts der rasanten Umbrüche und ungewissen Zukunftsperspektiven dort schon insgeheim gelegentlich nach der ruhigen alten Zeit zurückgesehnt haben, in der die Freiheit zwar beschnitten war, in der man aber wußte, woran man war.

Der Hebräerbrief ruft dazu auf, trotz aller Schwierigkeiten den Mut nicht sinken zu lassen und verlorenen Mut wieder neu zurückzugewinnen. „Lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken!“ Uns tut eine solche Ermutigung sicherlich auch gut - persönlich wie auch gemeindlich und kirchlich. Wir sind nicht an Leib und Leben bedroht wegen unseres Glaubens. Die Bedrohung ist mehr unsichtbarer innerlicher Art. Sie besteht z. B. in einer Identitätskrise, die sich äußern kann etwa in der Frage: „Was macht eigentlich mein Christsein aus? Was unterscheidet mich als Christ von anderen Menschen? Habe ich den anderen etwas voraus oder ihnen etwas Besonderes zu bieten?“ In der Tat ist wohl vieles von dem, was einmal insbesondere Merkmal christlicher Ethik gewesen ist, in die Strukturen und Grundhaltungen unserer Gesellschaft eingeflossen, vor allem im sozialen Bereich, im Umgang mit den Schwachen der Gesellschaft. Da verschwimmen die Grenzen zwischen dem Christlichen und einer weltlich-mitmenschlichen Art.

Aber dennoch - und auch, um gerade die Grundlage einer menschlichen Gesellschaft zu erhalten - ist es notwendig, dass wir uns auf die Quelle besinnen und uns aus ihr immer neu stärken lassen. Christus ist das „Ja“ Gottes zum Menschen. Und dieses „Ja“ zum Menschen ist ganz und gar keine Selbstverständlichkeit. Es hat in den Strukturen unserer Gesellschaft seinen Niederschlag gefunden. Aber es muss immer neu nachgesprochen werden und in Lebenswirklichkeit umgesetzt werden. Wir sind alle auf dem Weg. Wenn wir durch Tiefen gehen, haben wir es nötig, dass uns einer das „Ja“ Gottes zuspricht. Wenn wir über Höhen gehen, dann ist es unsere Aufgabe, denen Mut zuzusprechen, die darniederliegen. Und wo wir erkennen, dass unsere Gesellschaft dem Menschen die Achtung nicht zukommen lässt, die ihm von Christus her gebührt, da ist es unsere Aufgabe als Christen, als Gemeinde, als Kirche, das Wort Gottes einzubringen. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. Januar 1990)

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