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4. Sonntag in der Passionszeit (27.3.22)


Natur und Kultur

30. März 2003 

Lätare, 4. Sonntag in der Passionszeit

Johannes 12,20-26


„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Ein Bild aus der Natur, das uns als Handlungsanleitung dienen soll. Ein Bild aus der Natur als Anleitung zu menschlicher Kultur: „Wer mir dienen will, der folge mir nach“, sagt Jesus. 

Dieser Weg der Nachfolge ist ein Weg der liebevollen Hingabe, ein leidvoller und gefahrenvoller Weg, der auch vor der Hingabe in den Tod nicht zurückschreckt. Ein Weg, der letztlich aber dem Leben dient, neues Leben zur Entfaltung bringt und die Freude am Leben stärkt. „Lätare“ heißt der heutige Sonntag. Das bedeutet „sich freuen“ . Uns des Lebens freuen sollen und dürfen wir, auch auf dem Hintergrund all der Probleme dieses Daseins. 

Natur und Kultur - diese beiden Kategorien werden uns jetzt ein wenig leiten bei unserem Nachdenken über die Worte Jesu aus unserem heutigen Predigtabschnitt. Jesus deutet mit seinen Worten auf seinen Tod hin, auf den Sinn seines Todes und die Folgerungen, die daraus für diejenigen zu ziehen wären, die ihren Lebensweg künftig in seinem Sinne weiterzugehen bereit sind.

Das Weizenkorn ist ein Stück Natur, es ist ein Stück Leben. Es trägt die Anlage in sich, neues Leben zu geben - in der Gestalt eines neuen Weizenhalms mit einer neuen Ähre und vielen Weizenkörnern. Wenn das Weizenkorn neues Leben gibt, dann wird es sich dabei freilich selbst auflösen. Es wird sterben. Es wird nicht mehr es selbst sein. Sein eigenes Leben wird künftig im Leben der anderen sein, wie die Quelle des Lebens und wie eine Erinnerung an früheres Leben.

Das Weizenkorn muss sterben, um selbst neues Leben geben zu können. Mit diesem Bild aus der Natur beschreibt und erläutert Jesus seinen eigenen weiteren Lebensweg. Er wird in Kürze sterben - und sein Tod wird die Grundlage für neues Leben sein. Er deutet damit freilich nicht auf seinen weiteren natürlich-biologischen Werdegang hin. Sein Weg ist ein bewusst gegangener und gestalteter Weg. Wir nennen das Kultur. 

Was mit dem Weizenkorn geschieht, ist ein durch die natürlichen Vorgänge gesteuerter Weg. Hinter dem Weg Jesu aber steht ein Konzept, ein geistiges, geistliches Konzept mit bewussten Zielen und Entscheidungen. Jesus will es so und nicht anders. Das Weizenkorn kann nichts wollen. Das Weizenkorn führt einen in ihm angelegten Plan aus, ein in ihm vom Schöpfer angelegten Plan, so dürfen wir es wohl sagen. Wir könnten wohl auch sagen: Auch Jesus führt einen in ihm von seinem Schöpfer angelegten Plan aus. Aber Jesus folgt diesem Plan mit seiner eigenen Zustimmung. Er hat den göttlichen Plan angenommen, bejaht, für gut und richtig und sinnvoll befunden. Vor dieser Frage stehen auch wir: Wollen wir das annehmen, was Jesus angenommen hat, und seinen Weg mitgehen und weitergehen? Das ist Kultur, menschliche, christliche Kultur.

Wir sind dazu beauftragt - so ist unser christlich-jüdisches Verständnis vom Menschen - wir sind dazu beauftragt, diesen Schritt von der Natur zur Kultur zu vollziehen, und bewusst zu gestalten, was wir als Natur vorfinden, freilich unter Respekt vor der Natur, aber eben nicht unter bloßer Nachahmung der Natur. 

Wenn wir in der Natur z. B. beobachten, wie die Starken überleben und die Schwachen zugrunde gehen, dann können wir diese Linie nicht gradlinig weiterziehen und zum Leitfaden unseres Verhaltens machen - jedenfalls nicht, wenn wir unser Leben im Sinne Jesu gestalten wollen. Wir müssen vielmehr über diesen  Vorgang in der Natur nachdenken. Wir können dann zu dem Schluss kommen, dass der Vorgang in der Natur seinen guten Sinn haben mag, dass wir als menschliche Gemeinschaft aber einen anderen Weg gehen sollten. Unser Weg sollte der sein, dass wir auch dem Schwachen die Lebensmöglichkeiten sichern und dass wir unsere Stärken geradezu als Verpflichtung verstehen, uns dem Schwachen helfend und dienend zuzuwenden. Dass wir dabei ggf. sogar unsere eigenen Privilegien und Bequemlichkeiten hintanstellen und Risiken, Nachteile, Gefährdungen in Kauf nehmen. 

So hat Jesus selbst es gemacht. Wenn er uns in seine Nachfolge ruft, dann auch in dieser Hinsicht: dass wir nicht besinnungslos der Gesetzlichkeit der Natur folgen, wie sie sich uns vordergründig darstellt, und den Schwachen zugrunde gehen lassen oder gar mutwillig zugrunde richten. Dass wir uns statt dessen besinnen und uns fragen, wie wir eigentlich mit Stärken und Schwächen umgehen wollen, nach welchen Kriterien, nach welchen Werten wir unser menschliches Miteinander und unseren Umgang mit der Schöpfung gestalten wollen. 

Wir sind Teilhaber der Schöpfung und Mitarbeiter Gottes. Wir sind in seinen Dienst gerufen, nicht als bloß ausführende Organe, sondern als mitdenkende, mitgestaltende, mitverantwortende Wesen. Das ist freilich eine ganz große Berufung und Herausforderung. Denn in den Plan des Schöpfers haben wir keine direkte Einsicht. Die Hintergründe des Seins vermögen wir nicht zu durchschauen, den Sinn der Vorgänge können wir nur zu erahnen versuchen, und die Folgen unseres Verhaltens können wir nur sehr bedingt abschätzen. Der göttliche Auftrag zur Mitverantwortung darf uns also nicht zur Selbstüberschätzung verführen.

Jesus kann da als eine Art Verbindungsglied zwischen uns und dem Schöpfer dienen. In ihm hat sich das Geheimnis des Daseins in eine für uns menschlich fassbare Gestalt verwandelt. Wir haben die Worte Jesu, sein Reden und Handeln, das, was über ihn gesagt und geschrieben ist. Das ist eine gewisse Konkretion dessen, was für uns als das Geheimnis Gottes so schwer fassbar ist. An Jesus können wir uns orientieren. Das ist eine Hilfe. 

Jesus wird sterben. In der Folge seines Todes wird sich neues Leben entfalten, wie beim Weizenkorn - und doch anders. Hätte jemand das Weizenkorn präpariert und haltbar gemacht für alle Generationen - in einem kleinen Glasbehälter z. B., so wäre das Weizenkorn erhalten geblieben, aber aus ihm wären keine neuen Weizenkörner erwachsen. 

Hätte Jesus die Flucht ergriffen und hätte er sich vor seinen Feinden in Sicherheit gebracht, er hätte wohl noch länger leben können. Aber er hätte so wohl nicht das neue Leben bei anderen zur Entfaltungen bringen können, wie es durch seinen bewusst erlittenen Tod möglich geworden ist. 

Jesus hat sich seinen Feinden nicht entzogen, er hat sich nicht selbst in Sicherheit gebracht. Er wollte es drauf ankommen lassen, nicht um als Märtyrer zu sterben und damit in allen, die an ihm schuldig geworden waren und schuldig werden würden, das schlechte Gewissen ins Unendliche zu steigern. Er wollte in anderer Weise ein Exempel statuieren. Er wollte den Tod willig auf sich nehmen, um so zu einem Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen werden zu können, ein Zeichen der Vergebung allen gegenüber, die jemals schuldig geworden sind und schuldig werden würden. 

In dieser Weise, nämlich als Zeichen der Entlastung von Schuld und als Zeichen der Vergebung, ist sein Tod in der Tat verstanden worden, nachdem er als der Auferstandene zurückgekehrt war - nicht um sich zu rächen, sondern um zu sagen: „Ich bleibe bei euch allezeit bis an der Welt Ende.“ 

Solche Vergebung ist, wenn sie denn von den Schuldbeladenen angenommen wird, solche Vergebung ist wie die Befreiung zu einem neuen Leben. Sie ist die Befreiung zu einem neuen Anfang. 

Das Weizenkorn ermöglicht durch seinen biologisch sich vollziehenden Tod das biologische Leben weiterer Weizenkörner. Das ist ein Vorgang der Natur. Der von Jesus bewusst eingegangene Tod dagegen eröffnet - durch seine Sinnhaftigkeit - ein neues Leben im übertragenen Sinne, im geistigen und geistlichen Sinne. Das ist ein Vorgang der Kultur.

Was in der Natur dem Schwachen zum Verhängnis wird, seine Schwäche nämlich, das ist in der vom Geiste Jesu geprägten Kultur für die Starken eine Herausforderung zur liebevollen, beschützenden Hingabe. 

Die wohl größte Schwäche des Menschen ist seine Schuldhaftigkeit, sein offenbar unverbesserlicher Drang, immer wieder das zu tun, was dem Mitmenschen und der menschlichen Gemeinschaft Schaden zufügt. Es ist ein auf die ganze menschliche Gemeinschaft gesehen letztlich selbstzerstörerischer Drang. 

Diese Schwäche soll dem Menschen aber nicht zum Verhängnis werden. Jesus bietet mit seiner Art im Auftrag und im Namen und in der Kraft Gottes einen Ausweg an, eine Lösung, eine Erlösung: Sein Weg ist die liebevolle Hingabe - an den Schwachen, an den Schuldigen, auch an den Gegner, auch an den Feind. Nicht das eigensüchtige Festhalten am eigenen Leben, den eigenen Vorteilen, dem eigenen Vermögen, der eigenen Sicherheit, sondern die über sich selbst hinausgehende Hingabe ist der Weg. Wenn wir alles loslassen, sind wir frei zu empfangen. Diesen Weg in der Nachfolge Jesu zu gehen, setzt eine Menge an innerer Kraft voraus. Um solche Kraft können wir nur bitten, und immer wieder nur bitten. 

Wir sind Teilhaber der Schöpfung und Mitarbeiter Gottes. Das soll unser weder erschrecken, noch darf es uns übermütig oder überheblich machen. Es ist ein Auftrag, den wahrzunehmen wir berufen sind - in der Nachfolge Jesu und in Verantwortung vor dem Schöpfer und all seinen Geschöpfen.  

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 30. März 2003)

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