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3. Sonntag nach Ostern (8.5.22)


Der Mensch – gut gemacht?

7. Mai 1995

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

1. Mose 1,1-4a.26-31a;2,1-4a


Die einzelnen Sonntage des Kirchenjahres haben Namen, in der Regel lateinische Namen. Der heutige Sonntag hat den Namen „Jubilate“ – „Jubiliert, lobt, preist, freut euch!“ Mit diesem Wort beginnt der 66. Psalm – in der Übersetzung Luthers: „Jauchzt Gott, alle Lande.“

Der fröhliche Charakter dieses Sonntags wird durch den heutigen Predigttext unterstrichen. Er ist der Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose entnommen. Der Schöpfungsbericht beschreibt die Erschaffung der Welt in sechs Tagen; am siebten Tag ruhte Gott von der Arbeit aus. Jeder Abschnitt endet mit den Worten: „Und Gott sah, dass es gut war.“

„Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Das ist schon was, wenn man auf das Werk seiner Arbeit zurückblicken kann und sagen kann: „Toll, gut gemacht, das ist gelungen!“

Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht – die biblische Geschichte, die ja ein Versuch ist, die Realität unseres Lebens und die Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu interpretieren und in Worte und Bilder zu fassen. Die biblischen Texte schildern in den ersten Kapiteln Ereignisse, die so sind, dass unser Sohn einmal sagte, als ich versuchte, ihm die Bibel von Anfang an vorzulesen: „Hör auf“, sagte er, „ich will das nicht mehr hören!“ Es kam ihm zu viel Negatives vor. Denn nach dem guten Anfang der Schöpfungsgeschichte kommt als nächstes der Sündenfall im Paradies: Adam und Eva tun das Verbotene und werden aus dem Paradies hinausgeworfen. Es folgt der Brudermord: Kain bringt in seiner Eifersucht seinen Bruder Abel um. Das Nächste ist die Sintflut: Gott ist enttäuscht von seiner Kreatur Mensch. Er bereut sein Schöpfungswerk und lässt bis auf die Familie Noahs alle Menschen in den Fluten untergehen. Und nach dem Neuanfang wird es auch nicht besser. Es folgt der Turmbau zu Babel, eine Erzählung über den Größenwahn des Menschen.

Wenn wir die Buchdeckel dann doch nicht schließen aus Frust über derart unerquickliche Geschichten und weiterlesen, dann stoßen wir auf immer neue Darstellungen der Unzulänglichkeit und Boshaftigkeit der Menschen: Eine Kriegsschilderung reiht sich an die andere, Lüge, Betrug, Hass, Verbrechen jeder Art – eine Gemeinheit folgt der anderen. Es könnte einer sagen: „Die Bibel macht den Menschen schlecht.“ Wir können aber auch sagen: „Die biblischen Autoren haben die menschliche Geschichte nicht geschönt. Sie haben sich nicht geschämt, den Menschen so darzustellen, wie sie ihn zu ihrer Zeit erlebt haben, und wie wir ihn auch heute noch vielfach erleben.“

Ich sage all dies, weil morgen der 8. Mai ist, und weil wir in diesen Tagen fünfzig Jahre zurückblicken auf ein Ereignis, das einen Abschnitt unserer Geschichte abgeschlossen hat, der zu dem Schrecklichsten gehört, was sich in der menschlichen Geschichte überhaupt ereignet hat.

Die Frage, die sich stellt angesichts des Rückblicks auf die Ereignisse in den Jahren zwischen 1933 und 1945, ist doch diese: „Was ist der Mensch? Wer ist dieses Wesen, das zum einen zu bewundernswerten Höchstleistungen, zum anderen aber auch zu so unvorstellbaren Untaten fähig ist?“ Diese Frage stellt sich im Rückblick auf unsere jüngste Zeitgeschichte. Diese Frage hat sich aber immer gestellt, und sie stellt sich auch heute noch und immer wieder – täglich – angesichts immer neuer Schreckensmeldungen aus allen Teilen der Welt.

„Was ist der Mensch?“ Wir könnten auch gezielter fragen: „Wer sind die Deutschen?“ Oder: „Wer waren die Deutschen in jener Epoche, der vor fünfzig Jahren ein Ende bereitet wurde?“ Der Blick auf unsere spezielle Art, auf die Eigenarten und in die Abgründe unseres Wesens als Volk der Deutschen wäre dabei ganz wichtig. Ich möchte es aber angesichts des Predigttextes bei der generelleren Frage belassen: „Was ist der Mensch?“

Ich möchte diese Frage mit einem Satz aus unserem Predigttext verbinden, einem Satz aus der Schöpfungsgeschichte, über den sich schon viele den Kopf zerbrochen haben: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Der Mensch ein Abbild Gottes!??? Hinter diese Aussage müssen wir wohl drei Fragezeichen setzen.

So kann Gott nicht sein: wie der Mensch. So kann – rückschauend – Gott nach unserem Verständnis nicht sein, wie der Mensch nach all unserer bisherigen Erfahrung ist. Der Mensch als Abbild Gottes – vielleicht soll hiermit gesagt sein: Der Mensch wurde als Wesen mit eigener kreativer Kraft und Freiheit geschaffen, mit dem Auftrag, sich nun selbst weiter zu entfalten und zu entwickeln. Das war vom Ansatz her gut. Nur als dann dieses so geschaffene Wesen sich mit seiner Freiheit und kreativen Kraft betätigte und seine Fähigkeiten entfaltete, wurde zu einem beträchtlichen Teil etwas Schlechtes daraus. Wenn uns diese Einsicht noch nicht in die Resignation getrieben hat, wenn wir also noch eine Hoffnung in uns tragen, dann können wir hinzufügen: Der Mensch befindet sich noch auf dem Weg. Seine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Vielleicht haben wir es noch vor uns, zu dem zu werden, wozu wir im Akt der Schöpfung entworfen wurden. Vielleicht liegt das Ziel noch vor uns, Ebenbild Gottes zu werden.

Die jüdisch-christliche Tradition jedenfalls ist von dieser Hoffnung geprägt: Sie sieht den Schöpfer weiter am Werk, sein Geschöpf Mensch auf den rechten Weg zu bringen. Noah empfing die Verheißung, dass Gott nicht noch einmal die Menschen auslöschen wolle, dass er die Menschen vielmehr bewahren wolle. Zum Zeichen dieses Versprechens setzte Gott, so schreibt es das 1. Buch Mose, den Regenbogen an den Himmel. Auch die Zehn Gebote und die vielen weiteren Gesetze schildert uns das Alte Testament als gute Gaben Gottes, die nur dies eine zum Ziel haben: den Menschen vor sich selbst zu schützen, die zerstörerischen Kräfte in ihm zu zügeln und seine Absichten in die rechten Bahnen zu lenken. Auch die Propheten werden uns im Alten Testament als Boten Gottes vorgestellt, die die Menschen ihrer Zeit durch Mahnungen und Drohungen und Verheißungen an den guten Willen Gottes erinnern sollten und sie dazu bewegen sollten, sich zum Guten zu bekehren. Der rote Faden der Hoffnung zieht sich vom Alten Testament weiter hindurch ins Neue Testament:

Jesus von Nazareth wird den Menschen als der Christus gesandt, als der Retter, der Heiland, der Erlöser. Er ist der Mensch gewordene Versuch des Schöpfers, seine Kreatur Mensch nun durch die Kraft der Liebe zur Umkehr zu bewegen. Jesus, der Christus, wird uns im Neuen Testament als derjenige geschildert, in dem anschaubar wird, wie der Mensch gemeint war, als Gott ihn schuf. Jesus Christus ist derjenige, an dem wir ablesen können, was gemeint ist mit den Worten: „Gott schuf den Menschen, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ – Christus das Abbild Gottes. Er wird uns durch das Neue Testament nicht einfach als Vorbild hingestellt – im Sinne von: „So sollt ihr alle sein.“ Er verkörpert vielmehr auch die Versöhnung Gottes mit dem Menschen, die Versöhnung des Schöpfers mit seinem in vieler Hinsicht missratenen Geschöpf. In Jesus Christus reicht Gott uns die Hand. Es ist ein Angebot des Friedens, das Angebot zu einem neuen Anfang – im Vertrauen auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Was ist der Mensch? Er ist nach unserem jüdisch-christlichen Verständnis ein Geschöpf Gottes, berufen zur Freiheit, berufen zur Verantwortung, selbst zu wählen zwischen dem Guten und dem Bösen, und ausgestattet mit einer eigenen kreativen Kraft und dem Auftrag, am Werk des Schöpfers mitzuwirken.

Was ist der Mensch? Er ist ein Geschöpf aus Fleisch und Geist. Zwischen beidem ist der Mensch oft hin- und hergerissen. Wenn die rechte Einsicht und der gute Wille da ist, dann kann es dennoch sein, dass der Körper es anders will und es anders bestimmt. Unsere Triebe haben Macht über uns, die Hormone bestimmen unsere Gemütslage. Lust und Schmerz sind vom Verstand oft nicht zu regieren.

Was ist der Mensch? Wir sind und bleiben angewiesen auf geordnete Rahmenbedingungen, wir brauchen die Ermahnungen, wir brauchen die Gesetze, wir brauchen eine politische Ordnung – und es muss eine gute Ordnung sein. Unter den Rahmenbedingungen des Dritten Reiches haben sich die im Menschen vorhandenen zerstörerischen Kräfte in schrecklichem Ausmaß entfalten können. Vor fünfzig Jahren haben wir mit anderen Rahmenbedingungen einen Neuanfang machen können. Das hat viele gute Kräfte zur Entfaltung gebracht.

Was ist der Mensch? Wir sind weiter auf dem Weg, Mensch zu werden, Mensch im Sinne unseres Schöpfers. Wir sind begleitet von der Verheißung, niemals aus der Hand Gottes herauszufallen. Wir sind gestärkt durch die Kraft der Liebe und getragen von der Hoffnung, das Ziel zu erreichen.

Wir haben heute den Sonntag Jubilate, und wir haben Tage des Gedenkens. Wir wollen Gott dankbar sein für seine Schöpfung. Wir wollen ihm danken, dass er seine Kreatur Mensch aus Irrwegen immer wieder herausführt, dass er Schrecken ein Ende bereiten und auch nach immer wieder neuem Unrecht die Kraft der Versöhnung schenken kann.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 7. Mai 1995)

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