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Sonntag vor der Passionszeit (11.2.24)


Gerechtigkeit - Sehnsucht und Auftrag

11. Februar 2018

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Amos 5,21-24


Diesen schönen Satz könnten wir einrahmen und uns irgendwo sichtbar hinhängen: "Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach."

Gerechtigkeit ist ein Lebensthema, ein Sehnsuchtsthema, ein gesellschaftspolitisches Thema, ein nie endendes Thema. 

Ich erinnere mich an zwei kleine Mädchen, zwei Schwestern. Die Mutter gab der einen Tochter einen kleinen roten Ball, der anderen Tochter gab sie einen gleichartigen kleinen blauen Ball. "Warum gibt meine Mutter meiner Schwester einen blauen Ball?", fragte sich die erste. "Das ist doch ungerecht!" Und blitzschnell nahm sie ihrer Schwester den kleinen blauen Ball weg und drückte ihr den roten in die Hand."

So ähnlich - nur viel dramatischer - war das auch bei den beiden Brüdern, den ersten Kindern, von denen die Bibel berichtet. Abel brachte ein Opfer von den Erstlingen seiner Herde dar. Der Rauch stieg nach oben. Sein Bruder Kain brachte ein Opfer von den Früchten des Feldes dar. Der Rauch verwehte, ohne nach oben zu steigen. "Das ist doch ungerecht", dachte sich Kain grimmig. Er tötete seinen Bruder Abel.

Als ich mich vor einigen Jahren noch regelmäßig mit den Seniorinnen und Senioren traf – mittwochs nachmittags zu Kaffee und Kuchen, einer kleinen Besinnung und einem Thema –, fing ich einmal etwas provozierend einen Satz an mit den Worten: "Das Leben ist ..." Und spontan vollendeten einige der älteren Damen den Satz mit dem Wörtchen "ungerecht". Das Leben ist ungerecht. Ja, so mögen wir das manchmal empfinden. Und wir hätten es doch gern gerecht.

"Warum gerade ich?", fragen wir manchmal, wenn uns etwas zugestoßen ist. "Bin ich denn schlechter als andere? Womit habe ich das verdient?"

Das hat sich auch Hiob gefragt, der Mann im Alten Testament. Ein Unglück nach dem anderen hatte ihn ereilt. Dabei war er doch immer rechtschaffen und fromm gewesen. "Womit habe ich das verdient?" Er beklagt sich über die Ungerechtigkeit. Bei wem beklagt er sich? Bei wem können wir uns überhaupt beklagen über die vielerlei kleinen und großen Ungerechtigkeiten des Lebens? 

Das kleine Mädchen hätte sich bei der Mutter beklagen können: "Warum gibst du mir einen roten Ball und meiner Schwester einen blauen?" Bei wem hätte sich Kain beklagen können – dafür, dass der Rauch verweht wurde und nicht zum Himmel aufstieg? Hätte er sich beim Wind beklagen sollen? 

Die biblischen Autoren haben ihre besondere Art, über die unverfügbaren Dinge des Lebens zu reden. Sie nehmen die Dinge des Lebens auf eine persönliche Art und sprechen nicht nur von der Natur und dem Leben und dem Schicksal und dem Zufall und vom Glück und Pech. Sie drücken sich in persönlicher Weise aus. Sie sprechen von Gott, dem Schöpfer, dem Vater und dem Herrn und Lenker der Geschichte.

So fühlte sich Kain ungerecht behandelt von Gott, bei dem er sich mit seinem Opfer doch hatte bedanken wollen. Und Hiob fühlte sich ungerecht behandelt von Gott, in dessen Sinne er meinte sein Leben rechtschaffen geführt zu haben. Hiob geht mit Gott ins Gericht. Er klagt Gott an, er flucht und verflucht sein Leben: "Warum hast du mich überhaupt zur Welt kommen lassen?!" Alles Klagen nützt ihm nichts. 

Würde es uns etwas nützen, wenn wir das Schicksal anklagen? Würde es uns etwas nützen, wenn wir die Natur anklagen, wenn wir das Pech anklagen, wenn wir das Leben anklagen? Es würde alles nichts nützen. Mit vielem müssen wir uns wohl oder übel abfinden. Das ist jetzt nicht gut formuliert. Also besser gesagt: Es ist wichtig und weise zu lernen, in einem konstruktiven Sinne das anzunehmen, was für uns unverfügbar ist. 

Die biblischen Autoren haben, wie gesagt, eine persönliche Art, über das manchmal schwer erträgliche Unverfügbare des Lebens zu sprechen. Der Apostel Paulus fragt: "Ist denn Gott ungerecht?" Und Paulus antwortet: "Keineswegs. Gott ist nicht ungerecht."

Wir mögen darüber streiten. Es gibt auch etliche biblische Geschichten, die von der Gerechtigkeit Gottes handeln: Der reiche Mann und der arme Lazarus. Der reiche Mann lebte in Saus und Braus, während der arme Mann kaum zu essen hatte. Der Reiche kümmerte sich nicht um den Armen. Als beide verstorben waren, kam der Arme in den Himmel, der Reiche kam in die Hölle. So kam es schließlich doch zu einer letzten Gerechtigkeit. Diese Geschichte mag ein Trost sein für alle, denen es im Leben nicht gut ergangen ist. 

Über die Grenze unseres leiblichen Todes vermögen wir aber nicht hinauszuschauen. Wir leben jetzt und hier zwischen Geburt und Tod und erleben das Auf und Ab des Lebens, das Schöne und Schwere. 

Ist das Leben ungerecht? Eine einfache Antwort gibt es nicht. So recht können wir uns auf das Leben wohl keinen Reim machen. 

In mancher Hinsicht fühlen wir uns vielleicht privilegiert, in anderer Hinsicht vielleicht benachteiligt vom Leben, vom Schicksal, von Gott.

Wir können uns da keinen rechten Reim drauf machen. Aber wir spüren doch in uns den Wunsch und die Sehnsucht, dass es gerecht zugehen müsse im Leben – und dass Gerechtigkeit etwas Großes und Wichtiges ist, vielleicht etwas letztlich Unerreichbares, aber etwas, das sein sollte, das zumindest vor uns liegen sollte wie ein Ziel, wie ein großes, erhabenes Ziel, das wir niemals aus den Augen verlieren sollten. 

So haben das schon die Menschen zu den biblischen Zeiten empfunden. Selbst wenn sie manchmal an den Ungerechtigkeiten des Lebens irre zu werden drohten und in ihrem Glauben an den göttlichen Schöpfer und Herrn der Geschichte irre zu werden drohten, sind sie nach Zweifeln doch immer wieder zu der Überzeugung und dem festen Glauben zurückgekehrt, dass die Gerechtigkeit etwas Höchstes und Größtes und Gottgewolltes ist – und dass sie uns als Auftrag gegeben ist. 

Ja, wir spüren wohl beides: Wir wollen Gerechtigkeit – für uns selbst zuallerst und unsere Lieben, aber auch für alle – das ist das eine: Wir wollen Gerechtigkeit. Und das andere ist: Wir sollen uns selbst um Gerechtigkeit bemühen, dass wir für das, was wir ersehnen, auch unseren eigenen Beitrag leisten, dass wir uns also auch für Gerechtigkeit einsetzen, dass wir Ungerechtigkeit vermeiden und abschaffen und kritisieren und für die Gerechtigkeit kämpfen, soweit uns dies eben möglich ist. 

Wenn wir in diesem doppelten Sinne die Gerechtigkeit als Sehnsucht und als Auftrag verstehen, bleibt die Frage: "Was ist denn gerecht und was ist ungerecht?" 

Es gibt Ungerechtigkeiten, die offensichtlich sind oder die wir zumindest als offensichtlich erleben. 

Es sind solche offensichtlichen Ungerechtigkeiten, die der Prophet Amos kritisiert. In Israel gab es zu seiner Zeit – im 8. Jahrhundert vor Christus – einen gewissen Wohlstand. Einem Teil der Gesellschaft ging es wirtschaftlich sehr gut, dem Königshaus insbesondere und auch den Vertretern des religiösen Kultes, die dem Königshaus nahestanden. Es gab, wie wir heute sagen würden, eine soziale Schere, die sich bis zum Unerträglichen hin geöffnet hatte. Arme und Schwache wurden ausgenutzt, betrogen, ausgebeutet. Und was Amos dann noch zusätzlich als besonders unanständig empfand: Im religiösen Kult gaben sich die Reichen und Mächtigen fromm und selbstgefällig. Seine heftige Kritik am Kult, an den Liedern und der Musik mag ich gar nicht wiederholen. Was Amos meint, lässt sich zusammenfassen mit den Worten: "Ihr könnt im Tempel nicht sein wie fromme Lämmer, und draußen seid ihr wie reißende Wölfe." Er kritisiert die Scheinheiligkeit, die Selbstgerechtigkeit, die Unglaubwürdigkeit und die offenkundige soziale Ungerechtigkeit.

Amos fühlte sich zu dieser Kritik von höherer Warte berufen. Er fühlte sich zu dieser Kritik von Gott beauftragt. Auf Wohlgefallen ist er mit seiner Kritik bei denen, die er kritisierte, nicht gestoßen. "Verschwinde!", wurde ihm gesagt. "Geh hin, wo du hergekommen bist!", wurde ihm mit drohender Mahnung geraten. Amos kam nämlich aus dem Südreich und kritisierte die Zustände im Nordreich. Israel war damals geteilt: Das Nordreich mit der Hauptstadt Samaria hieß Israel, das Südreich mit der Hauptstadt Jerusalem hieß Juda. Und im Südreich, in dem Örtchen Tekoa hatte Amos als Schafzüchter gearbeitet, bevor er sich ins Nordreich begab und dort die Verhältnisse kritisierte. Das wäre also in etwa vergleichbar, wie wenn jemand damals aus der Bundesrepublik in die DDR gegangen wäre und dort die Verhältnisse kritisiert hätte. 

Es ist gut und wichtig und richtig, dass Amos das offensichtliche Unrecht angeklagt hat. Es ist auch in Ordnung, dass er sich mit seiner Kritik auf seinen göttlichen Auftraggeber beruft. Gerechtigkeit ist ein Wert, der – vereinfacht gesagt – von oben kommt.

Denn stellen wir uns diese Frage einmal grundsätzlich: "Woher kommt der Auftrag zur Gerechtigkeit eigentlich?" Das lässt sich nicht präzise beantworten. Manche würden vielleicht sagen: "Das ist ein Naturrecht." Das wäre aber auch nicht sehr präzise. Wir haben ja schon gesehen: Von Natur aus gibt es schon zahllose Ungerechtigkeiten, Vorzüge für den einen, Nachteile für den anderen: Der eine wird sehr intelligent geboren, der andere mit mäßiger Begabung. Die eine wird schön geboren, die andere weniger schön. Der eine wird gesund, der andere mit Handicaps geboren. Und es gibt das Recht des Stärkeren in der Natur. 

Ob wir sagen: "Gerechtigkeit ist ein Naturrecht oder ein göttliches Recht", macht im Ergebnis nicht den großen Unterschied. Gerechtigkeit ist für unser Empfinden wohl in jedem Fall mehr als etwas, worüber ein weltlicher, menschlicher Gesetzgeber willkürlich entscheiden könnte. Der Auftrag zur Gerechtigkeit könnte nicht per Gesetz abgeschafft werden. Er kann per Gesetz bekräftig werden, das wohl. Unser Grundgesetz sagt zum Beispiel: "Eigentum verpflichtet." Ja, das ist gerecht. 

Gerechtigkeit ist ein schwieriges Thema, gerade, wenn es konkret wird. Gerechtigkeit lässt sich nicht mit dem Rechenschieber verwirklichen. In der biblischen Geschichte von den Arbeitern im Weinberg warteten am frühen Morgen auf dem Markplatz alle darauf, Arbeit zu bekommen. Einige wurden gleich eingestellt, andere erst zu später Stunde. Am Ende bekamen alle den gleichen Lohn. Diejenigen, die früh eingestellt worden waren, beklagten sich, dass die anderen, die weniger Stunden gearbeitet hatten, genauso viel Geld bekamen. Beklagten sie sich zurecht? Hätten sich nicht auch die anderen beklagen können, die später eingestellt worden waren, wenn sie weniger Geld bekommen hätten? Sie waren doch auch bereits am frühen Morgen bereit gewesen zu arbeiten. Aber es hatte für sie noch keine Arbeit gegeben. Das war doch nicht ihr Verschulden gewesen!

Gerechtigkeit lässt sich nicht mit dem Rechenschieber verwirklichen. Zur Gerechtigkeit gehört auch die Menschlichkeit, die Güte und Barmherzigkeit, die Nächstenliebe, der Versuch, dem anderen in seiner je besonderen Situation gerecht zu werden. 

Das kleine Mädchen mit dem roten Ball wollte offenbar die absolute Gleichbehandlung, ein menschlich nachvollziehbares Verständnis von Gerechtigkeit, aber ein wohl eher kindliches. 

Offensichtliche Ungerechtigkeiten zu beklagen, wie der Prophet Amos es tat, ist das eine. Aber im Konkreten einander menschlich gerecht zu werden oder die Verhältnisse in einer Gesellschaft oder gar weltweit so zu gestalten, dass damit allen Gerechtigkeit zuteil wird – darum können und sollen wir uns bemühen – mit bestem, liebevollem und ehrlichem und wahrhaftigem Willen und der Bereitschaft, möglichst jeweils einen Konsens zu erzielen. Es ist aber eine Aufgabe, die weit über das Menschenmögliche hinausgeht. Was wir selbst nicht schaffen, dürfen wir getrost in die Hand Gottes legen.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 11. Febuar 2018)

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