Barmherzig kritisch
4. Februar 2007
Septuagesimae
(3. Sonntag vor der Passionszeit)
Matthäus 9,9-13
Beim ersten Lesen dieses Textes fiel mir der Titel eines Liedes von Franz-Josef Degenhardt ein – Sie werden ihn vielleicht kennen: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“. Der Titel ist schon fast sprichwörtlich geworden. Er enthält eine soziale Kritik von „denen da oben“ gegenüber „denen da unten“. Im Lied ist diese Kritik ironisch gemeint und richtet sich in Wirklichkeit von „denen da unten“ gegen „die da oben“. Degenhardt hat mit seinem Lied Partei ergriffen für „die da unten“. Er war stets eine umstrittene Persönlichkeit. Das ist bei den, die gesellschaftliche Kritik üben, eine wohl unausweichliche Folge.
Spiel nicht mit den „Schmuddelkindern“ – die „Schmuddelkinder" müssten eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn „Schmuddelkinder“ sind sie nur aus einer bestimmten Perspektive – eben von oben her betrachtet.
So verhält es sich auch mit den Zöllnern und Sündern. Sünder sind die Betreffenden nur aus einer bestimmten Perspektive -– aus der Sicht nämlich der gehobenen religiösen gesellschaftlichen Schicht: der Pharisäer und Schriftgelehrten und Hohenpriester. Auch wenn Jesus hier von den Kranken spricht, meint er dies ironisch.
Es ist an dieser Stelle vielleicht einmal wichtig, vorsorglich darauf hinzuweisen, dass wir die biblischen Äußerungen über die Pharisäer, Schriftgelehrten, Hohenpriester nicht als historisch korrekte Bewertungen dieser gesellschaftlichen Akteure jener Zeit verstehen dürfen. Gerade die Pharisäer, die ja auch in unserem Text ausdrücklich erwähnt werden, sind im Neuen Testament sehr einseitig negativ dargestellt worden als diejenigen, die übermäßig streng die Einhaltung der religiösen Gesetze forderten, ohne diese selbst in der geforderten Weise einzuhalten. Der Pharisäer ist durch die sehr einseitige Kritik der neutestamentlichen Texte zu einem Inbegriff des Heuchlers geworden – bis hin zu dem Getränk mit eben diesem Namen, dem Kaffee, in dem ein kräftiger Schuss Rum enthalten ist – der obendrauf aber ein Häubchen Schlagsahne hat, wodurch der Duft des Rums verdeckt werden soll, damit keiner merkt, was in Wirklichkeit im Kaffee enthalten ist.
Wenn wir hier und jetzt einen echten lebenden Pharisäer aus der Zeit des Neuen Testaments unter uns hätten, dann würde der ganz bestimmt sehr erbost sein über diese, wie er das zu Recht empfinden würde, diskriminierende Art der Beschreibung seiner Gruppe.
Die neutestamentlichen Texte schildern die Pharisäer wirklich sehr einseitig negativ – diskriminierend ist schon der richtige Ausdruck. Und nicht nur die Pharisäer kommen in diesen Texten so schlecht weg, sondern überhaupt die Gegner Jesu.
Das Auftreten Jesu war eben sehr konfliktreich. Und Jesus ist am Ende gewaltsam zu Tode gekommen. Da haben sich die verschiedenen neutestamentlichen Autoren im Rückblick in Erklärungen versucht. Diese dürfen wir wirklich nicht als historisch korrekt verstehen. Sonst würden wir uns in antijüdische Vorurteile hineinreißen lassen mit möglichen Folgen, wie sie historisch vielfach belegt sind und wie wir sie auch in unserem Land vor gar nicht langer Zeit in dramatischster Weise erlebt haben.
Also, das neutestamentliche Reden über die Pharisäer und überhaupt über die Gegner Jesu müssen wir mit Vorsicht betrachten. Diese Warnung muss immer mal wieder ausgesprochen werden.
Es ist andererseits so, dass das Wirken Jesu nun einmal, wie bereits gesagt, sehr konfliktträchtig gewesen ist. Und für unsere Theologie ist das Leiden Jesu und seine Kreuzigung theologisch von grundlegender Bedeutung. Wir können diese Konflikte nicht einfach streichen. Aber – und das ist eben ganz wichtig – wir müssen von der wirklichen historischen Situation in einem gewissen Maß absehen und nach dem theologischen Gehalt der Konflikt- und Leidensgeschichte Jesu in seiner wesentlichen, grundlegenden Bedeutung fragen.
Wir könnten z. B. fragen: Die Pharisäer – sind das nicht wir? Wir – mit zumindest einem Anteil unserer Wesensart. Müssen nicht wir uns die Kritik Jesu zuziehen? Sind nicht wir diejenigen, die sich mit einem manchmal problematischen Maß an Selbstgerechtigkeit gelegentlich über die anderen erheben und andere abqualifizieren? Was sagen wir denn manchmal z. B. über Arbeitslose? Was sagen wir manchmal über Ausländer? Wie reden wir über Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit, über Muslime z. B.? Wie reden wir über Arme, über die Länder, in denen Armut herrscht? Wie reden wir über Obdachlose? Wie reden wir über „die Reichen“? Wie reden wir über Menschen mit Behinderungen? Wie reden wir über Straffälliggewordene? Wie reden wir als Männer über Frauen, als Frauen über Männer? Wie reden wir über Vorgesetzte, wie reden wir über Mitarbeiter?
Es geht um das Thema Vorurteile, um die Klassifizierung von Menschen, von Gruppen; es geht um das Thema Selbstgerechtigkeit. Es geht darum, dass sich die einen über die anderen erheben.
Es geht nicht darum, Kritik zu unterdrücken. Es geht nicht darum, dass wir nicht bestimmte Menschen, bestimmte Gruppen, bestimmte Vorgänge kritisch sehen dürften. Wir dürfen durchaus kritisch sein – und gelegentlich sollen und müssen wir auch Kritik üben. Aber es kommt schon sehr auf die Art der Kritik an. Was Jesus einfordert, ist das zur Kritik hinzugehörende Maß an Selbstkritik und das zugehörige Maß an Barmherzigkeit.
Kritik, die die Fehler nur bei anderen sieht, ist nicht in Ordnung. Und Kritik, die es darauf abstellt, den anderen klein und kaputt zu machen, ist auch nicht in Ordnung.
Jesus selbst ist sehr kritisch. Unser Text ist ein Beispiel dafür. Er übt seine Kritik hier zunächst nicht verbal, sondern durch ein ungewöhnliches Verhalten, das von einigen – genannt sind hier die Pharisäer – als provokant empfunden wird. Jesus zieht dadurch zunächst einmal die Kritik anderer auf sich selbst.
Er hat nämlich einen Zöllner als Jünger berufen und setzt sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch und isst mit ihnen. Das fordert die Pharisäer zu der Frage an die Jünger heraus – und die Frage ist nicht informativ, sondern kritisch gemeint: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Die Pharisäer sind empört. Ihre Frage hätte im Sinne des anfangs zitierten Liedes auch lauten können: Warum spielt euer Meister mit den „Schmuddelkindern“?
Was ist aus der Sicht der Pharisäer so schlimm an den Zöllnern? Zöllner waren wegen ihres Berufes schlecht angesehen, weil sie für die römische Besatzungsmacht arbeiteten. Das war aus politischen Gründen anrüchig. Und da die Römer eine andere Religion hatten, verunreinigten sich die Zöllner – aus religiöser Sicht – durch ihren Kontakt mit ihnen. Außerdem wurde den Zöllnern unterstellt, dass sie mit dem Geld nicht immer ehrlich umgingen. Sie werden im Neuen Testament oft zusammen genannt mit den Sündern. „Zöllner und Sünder“ – das war ein feststehender Begriff für „schlechte Menschen“. Mit denen also setzte sich Jesus an einen Tisch. Das war für die Pharisäer, so schildert es unser Predigtabschnitt, ganz offensichtlich eine Provokation. Sie fragen die Jünger empört: „Was soll das?“
Jesus hat mit seinem Verhalten unausgesprochen, faktisch Kritik an bestimmten Einstellungen in der Gesellschaft geübt und zieht damit die Kritik der anderen auf sich.
Wogegen wendet sich Jesus kritisch mit seinem Vorgehen? Er wendet sich dagegen, dass Menschen deklassiert werden, dass sie aus religiösen, aus sozialen, aus politischen, aus moralischen Gründen als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt werden.
Wir können davon ausgehen, dass Jesus unrechtes und unmoralisches, sündhaftes Verhalten keineswegs billigen wollte – nach dem Motto: Ist doch alles nicht so schlimm. Nein, das nicht. Aber er wandte sich dagegen, Menschen, aus welchen Gründen auch immer, auszugrenzen. Wenn mit Menschen etwas nicht in Ordnung war, wenn an ihnen etwas zu kritisieren war, dann sah er es als seine Aufgabe an, sich diesen Menschen mit um so mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihnen zu helfen, wieder zurechtzukommen – so wie ein Arzt sich um heilungsbedürftige Kranke kümmert oder wie sich z. B. eine Lehrkraft um Schüler kümmert, die ja nun mal der Lehre, der kritischen Hinweise auf ihre Fehler und der Erziehung bedürfen.
Was wäre das für eine Gesellschaft, die ihre Kranken ausgrenzt?! Im Dritten Reich ist dies z. B. mit behinderten Menschen geschehen. Was wäre das für eine Gesellschaft, die ihre minderbegabten Kinder und Erwachsenen sozial an den Rand drängt, die Straffälliggewordene sozial ächtet, die Andersdenkende, Andersredende mundtot macht und Andershandelnde und Andersseiende auszuschalten versucht?! Das Leben in einer solchen Gesellschaft wäre wohl in menschlicher Hinsicht – gelinde gesagt -– sehr unangenehm.
Wo Probleme, welcher Art auch immer, in Menschen gesehen werden, da kann die Lösung nicht sein, dass sie an den Rand gedrängt werden, dass sie deklassiert werden, dass sie geächtet werden oder auch nur verachtet werden. Das wäre unmenschlich, unbarmherzig. Wo Probleme im Menschen sind, da ist vielmehr besondere Zuwendung vonnöten, um Probleme auszuräumen oder sie zu verringern.
Jesus begegnet der empörten und kritischen Anfrage an sein Verhalten mit einem Hinweis auf einen Propheten des Alten Testaments, Hosea: „Lernt, was das heißt: Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Jesus ruft seine Kritiker zur Barmherzigkeit auf. Als seine Kritiker betrachtet er offenbar nicht nur die Pharisäer, denen die Gesetze so wichtig sind, sondern – wie seine Bezugnahme auf den Opferkult zeigt –, auch die Priester des Jerusalemer Tempels.
Jesus wendet sich gegen Ausgrenzungen jeder Art. Er setzt sich für einen menschlichen, barmherzigen, liebevollen Umgang in der Gesellschaft ein. Er setzt sich mit seiner verbalen und faktischen Kritik erheblichen Risiken aus. Seine Gegner bringen ihn schließlich ans Kreuz. Sein Anliegen aber ist lebendig geblieben.
Sein Reden und Handeln ist auch für uns heute noch ein dauerhafter Anstoß, uns immer wieder für eine menschliche Gesellschaft einzusetzen.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. Februar 2007)