Die Moral
7. März 2010
Okuli, 3. Sonntag in der Passionszeit
Epheser 5,1-8a
Die „Moral“ - der Klang dieses Wortes löst vermutlich sehr unterschiedliche Empfindungen aus, auch unangenehme. Der Text kann einen geradezu erschrecken. "Unzucht, Ausschweifungen, Habgier, gemeine, dumme, schlüpfrige Reden …“ - wir wissen, dass wir uns anständig verhalten sollen, aber der erhobene Zeigefinger, der gefällt uns nicht. Wir lassen uns nicht gern erziehen. Irgendwie fühlen wir uns klein gemacht von einer moralischen Instanz. Manche haben gerade deswegen ein Problem mit der Kirche, weil sie das Gefühl haben, da werden sie gegängelt, da wird ihnen gesagt, was sie zu tun und zu lassen haben - auf altmodische Art.
„Christliche Ethik“ - das klingt schon erheblich würdevoller. „Werte“ - dieser Begriff ist sogar modern. Manche Menschen finden deswegen Kirche wieder interessant und wichtig, weil ihnen aufgegangen ist, dass da eine Einrichtung ist, die die grundlegenden Werte des Lebens hochhält, indem sie sie aufbewahrt, weiterträgt, in die gesellschaftliche Diskussion einbringt und ihre Achtung immer wieder anmahnt.
Kirche ist als Institution allerdings auch eine Einrichtung, die aus Menschen besteht, die sich mit ihrer manchmal - in Anführungszeichen - „allzu menschlichen“ Art nicht an die Werte halten, die sie verkünden.
Trotzdem bleibt für viele Menschen Kirche der Ort, an dem es um Werte geht, die wir als menschliche Gemeinschaft brauchen, Werte höherer Art, die mehr beinhalten als die Spielregeln unseres täglichen Lebens.
Wie gesagt, den erhobenen Zeigefinger mögen wir nicht. Aber die Bedeutung höherer Werte wird wohl kaum jemand in Abrede stellen. Diese Werte zu diskutieren in gegenseitigem Respekt vor der persönlichen Entscheidungsfreiheit eines jeden Einzelnen, wird wohl mehrheitlich als wichtig angesehen werden.
Die beiden heutigen Texte, die Epistel und die Evangelienlesung, wirken etwas grob mit ihren extremen Formulierungen. Aber das soll uns jetzt nicht davon abhalten, die in ihnen enthaltenen wichtigen Aussagen zu bedenken.
Unser Predigttext nennt mehrere Bereiche, in denen es um Werte geht, die zu diskutieren uns nun angetragen wird. Der eine Bereich ist das Geld. Das ist eines der zentralen Themen des Lebens. Der Volksmund sagt: „Geld regiert die Welt.“ Uns ist wohl klar: Das darf nicht sein. Geld darf nicht an oberster Stelle stehen. Geld darf nicht regieren. Da muss noch was drüber sein. Geld darf nicht herrschen, es muss dienen - dem Wohl des Menschen, und zwar nicht nur dem Wohl Einzelner, sondern auch dem Wohl der Gemeinschaft.
Und Geld darf auch gern der Ehre Gottes dienen. Eine Kirche zu bauen z. B., kostet Geld. Aber das Geld ist grundsätzlich gut angelegt. Nicht weil die Geldgeber dann vielleicht in den Himmel kämen, sondern weil es angemessen ist, demjenigen unter uns einen Ort zu geben, dem wir unser Dasein verdanken und ohne den es weder uns noch unsere Lieben noch Geld noch Essen und Trinken gäbe.
Nur in Klammern füge ich hinzu: In St. Markus gab es nach dem 2. Weltkrieg, als unsere Kirche zerstört war und die Frage des Wiederaufbaus anstand, die Diskussion, ob das Geld benutzt werden sollte, die Kirche oder zuerst Wohnungen wiederherzustellen. Das war und das ist eine interessante Diskussion. Denn bei der Verwendung von Geld geht es auch um Werte und um Prioritäten in unserem Leben. Wir sollten allerdings nicht das Wohl des Menschen gegen die Ehre Gottes ausspielen. Beides gehört vielmehr zusammen. Gerade deshalb sollte uns auch die Nähe Gottes in der räumlichen, anschaubaren, begehbaren und nutzbaren Gestalt von Kirchengebäuden Geld wert sein. Gerade nach der Erfahrung des Dritten Reiches, in dem z. B. Kirchenglocken in todbringende Waffen umgeschmolzen worden waren und die Werte der Menschlichkeit in Hass und Verachtung und einen Vernichtungswahn verdreht worden waren, gab es eine Sehnsucht nach den verlorengegangenen Werten der christlichen Tradition.
Kirche hatte sich während des Dritten Reiches zwar auch nicht nur vorbildlich im Sinne einer christlichen Ethik verhalten. Aber es war dennoch spätestens am Ende des Dritten Reiches vielen Menschen klar geworden: Über uns darf nicht der Führer sein. Da ist vielmehr ein ganz anderer, ein Geheimnisvoller, von dem wir herkommen und auf den wir zugehen und der in allem gegenwärtig ist, dem wir uns verdanken, von dem uns wertvolle Worte überliefert sind und dem Respekt und Liebe und Ehre gebührt - und der uns gern auch etwas kosten darf.
Der Bau von Kirchen war für Paulus noch kein Thema. Aber wie wir mit Geld und Besitz und Eigentum umgehen und umgehen sollten oder nicht umgehen sollten, dazu hatte er etwas zu sagen.
Von Habgier ist in unserem Text die Rede, dass nämlich manche rücksichtslos mehr und mehr wollen und die Not anderer nicht mitbedenken. Das ist ein delikates Thema. Hier wäre z. B. das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zu diskutieren, was auch bedeutet: das Verhältnis zwischen Egoismus und Gemeinsinn und das Verhältnis zwischen dem persönlichen Eigentum und der Verantwortung für das Gemeinwohl. In unserem Grundgesetz heißt es z. B.: „Eigentum verpflichtet.“
Geld ist ein sehr existentielles Thema. Wer keines hat, hat ein erhebliches Problem. Drei Euro können für einen Menschen schon sehr wichtig sein. Das erleben wir jede Woche mehrfach, wenn Nichtsesshafte um eine Unterstützung bitten.
Wer viel Geld hat, kann damit auch ein Problem haben. Wenn jemand davon süchtig wird und meint, es immer weiter vermehren zu müssen, oder wenn es jemand dem berechtigten Zugriff des Staates zu entziehen versucht. „Geld verdirbt den Charakter“, sagt der Volksmund. So muss es natürlich nicht sein. Der Spruch weist aber auf eine Gefahr hin.
Wie schön wäre es, wenn alle ihr finanzielles Auskommen hätten! Wir dürfen ja träumen und sollten es auch tun: Wenn doch jeder Mensch zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf, einen Arzt in der Nähe und eine Arbeit hätte, um sich und seine Lieben selbst zu versorgen! Und wenn doch die Starken und gut Begabten und reichlich Ausgestatteten den Schwachen dabei helfen würden, eigenständig in ausreichendem Maße für sich selbst sorgen zu können!
In unserem Sozialstaat gibt es dafür gute, wenn auch beständig verbesserungswürdige Regelungen. Weltweit gesehen ist da noch enormer Handlungsbedarf. Geld kann viel Gutes bewirken. Es kann auch zerstören und unsere Weltgemeinschaft an den Rand des Ruins bringen. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Moral, eine Frage der Ethik. Manchen würden wir gern den erhobenen Zeigefinger zeigen. Aber auch da hat der Volksmund einen Spruch: „Drei Finger zeigen dabei auf uns selbst.“
Unser Predigttext nennt nicht nur das Geld. Er spricht auch von Unzucht, Hurerei, Ausschweifungen. Das ist auch ein weites Thema: die Sexualmoral. Da ist es ähnlich wie mit dem Geld: Fluch und Segen liegen nahe beieinander. Um beim Segen anzufangen: Durch die Sexualität entsteht neues menschliches Leben. Ohne Leben säßen wir nicht hier und könnten uns über all dies keine Gedanken machen.
Neues menschliches Leben entsteht nicht wie neues Leben bei den Tieren. Während jene dem natürlichen Drang unkontrollierbar folgen, können wir kraft unseres Verstandes, unseres Bewusstseins, unseres Willens, unserer Entscheidungsfreiheit darüber mitbestimmen, ob neues Leben entstehen soll oder nicht.
Der Schöpfer hat aber auch in uns den natürlichen Drang hineingegeben, und zwar einen sehr starken und zeitweise sogar geradezu übermächtigen Drang. Er macht uns geradezu Lust und eine zeitweise unbändige Lust, neues Leben zu schaffen. Für diese Art der positiven Motivation dürfen wir dankbar sein und sie mit Freude annehmen und sie genießen.
Allerdings ist der Umgang mit der Sexualität auch mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden. Allein schon das Kinderkriegen können wir nicht gedankenlos geschehen lassen – aus sehr verschiedenen Gründen. Für Paulus war es z. B. noch kein Thema, dass eine rasant wachsende Weltbevölkerung mit einem zunehmend anspruchsvolleren Lebensstil die Ressourcen der Erde einmal knapp werden lassen könnte. Wir müssen das heute zumindest mitbedenken.
Die Verantwortung im Bereich der Sexualität ergibt sich aber vor allem aus den Konsequenzen für das zwischenmenschliche Miteinander. Die Sexualität kann uns schöne und tiefe Erfahrungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen machen lassen. Sie kann aber auch sehr zerstörerisch sein. Sie kann etwas Spielerisches haben. Aber sie darf dennoch nicht zur Leichtfertigkeit verführen. Und da sie in uns wie eine Naturgewalt wirken kann, verlangt sie uns auch ein erhebliches Maß an Disziplin ab.
Die Sexualität hat ihre ganz private Seite. Da hineinzureden, steht niemandem das Recht zu. Aber wegen der zwischenmenschlichen Seiten und der gesellschaftlichen Folgen spricht Paulus das Thema an.
Jede Zeit, jede Gesellschaft muss sich neu darauf verständigen, wie sie die Phänomene der menschlichen Natur in menschliche Kultur verwandelt.
Es ist nicht so einfach, die Werte höherer Art konkret zu bestimmen. Es ist aber wichtig, dass wir uns um sie bemühen. Das gehört zur Würde, die uns der göttliche Schöpfer als seine ihm ebenbildlichen Geschöpfe zugesprochen hat.
Als Leitfaden unserer Bemühungen kann uns die Liebe dienen. Als menschlich-göttliches Leitbild haben wir Christus vor uns. Wir können nicht sein wie er. Wir können ihm wohl auch nicht so radikal nachfolgen, wie es uns der heutige Evangelientext anträgt.
Aber wir haben eine Richtung, eine Wegweisung, wir haben einen Zuspruch und einen Anspruch, eine Kraft und eine Hoffnung. Wir haben ein Licht. Wenn wir es ernst meinen, kann das göttliche Licht auch durch uns scheinen. Das gebe uns Gott.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 7. März 2010)