Wir haben einen Auftrag
14. Juli 1985
6. Sonntag nach Trinitatis
Matthäus 28,16-20
Dieser Bibeltext gehört zu jedem Taufgottesdienst. Er stellt die Legitimationsgrundlage für die Taufhandlung dar: „Wir sind zur Taufe beauftragt durch Jesus Christus.“
Dieser Abschnitt ist in einer sehr feierlichen, erhabenen Weise formuliert. Es sind die letzten Sätze des Matthäusevangeliums. Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu.
Es sind die Worte des auferstandenen Jesus Christus, die letzten Worte, die er an seine Jünger richtet - auf einem Berg, dies erhöht noch ihre Bedeutung, kurz bevor er dann endgültig vor den Augen der Jünger entschwindet.
Man könnte sich diese Worte eigentlich auf seinen Schreibtisch stellen oder auf seinen Nachtschrank. Denn sie stellen ein Programm dar. Sie stellen in knappen Worten den Auftrag Jesu Christi an uns Christen in dieser Welt dar. Sie sind sein Vermächtnis und sein Auftrag an uns.
Ich möchte einmal die einzelnen Sätze in ihrer Bedeutung ein wenig auf aufzulösen versuchen.
„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Hier spricht nicht irgendjemand und hier sagt nicht irgendjemand irgendeine Belanglosigkeit. Hier spricht jemand, der sich in seinem Reden und Handeln von Gott beauftragt weiß und darum für alles, was er sagt und tut, göttliche Autorität beansprucht. Als stünde Gott persönlich vor ihnen, so sollen ihn die Jünger ansehen und annehmen und in diesem Sinne seine Worte beachten. Das heißt, Jesus, der Auferstandene, ruft seine Jünger zu nichts weniger auf, als dass sie ihn als höchste und letzte Autorität akzeptieren und seine Worte als unbedingt verbindlich annehmen.
Vielleicht klingt dies etwas leicht dahergesagt. Der Bedeutungsgehalt dieses Anspruchs Jesu ist in unserer gegenwärtigen Lebenssituation wohl nicht so ohne weiteres voll zu erfassen. Ein Blick auf die nationalsozialistische Zeit kann aber schnell deutlich machen, was das heißt, in Jesus Christus die höchste verbindliche Autorität zu akzeptieren und jeder Ideologie und jedem menschlichen Führer erst an nachgeordneter Stelle den erforderten Respekt zu bezeugen. In manchen politischen Systemen kann ein Christ so in einen scharfen Loyalitätskonflikt geraten. Da wird deutlich, was der Anspruch Jesu Christi bedeutet.
Man kann sich fragen, warum wir das Gewicht des Anspruchs Jesu nicht so sehr empfinden. Wir haben kaum das Gefühl in einem Loyalitätskonflikt zu leben. Wir meinen vielmehr, mit unserem ganzen Verhalten, auch dem staatsbürgerlichen Verhalten, letztlich dem Anspruch Jesu Christi gerecht zu werden. Ich frage mich manchmal, ob es nicht nur raffinierte Werbung und Propaganda ist, die uns den Blick trübt und uns einfach nicht erkennen lässt, dass wir Herren dienen, die uns mit manchen ihrer Ansprüche in Widerspruch zu dem Anspruch Christi bringen.
Also dies ist das Erste, was Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg gibt: Sie sollen in ihm den umfassenden, verbindlichen, göttlichen Anspruch erkennen, der ihre ganze, ungeteilte Loyalität, das heißt Treue und Hingabe herausfordert.
Das Zweite ist die Sendung in die Welt: „Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker.“ Jesus Christus als der Herr des Himmels und der Erde ist nicht nur zu den Menschen in Israel gekommen. Seine Botschaft gilt allen Menschen in der Welt. Wir können dies nur mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen. Denn Dank der Aussendung der Jünger haben auch wir schließlich Anteil bekommen an dieser wunderbaren Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen.
Wenn wir bedenken, dass Matthäus diesen weltweiten Sendungsauftrag gegen Ende des ersten Jahrhunderts aufgeschrieben hat, als die Zahl der Christen noch ziemlich klein war und von einer Kirche noch nicht die Rede sein konnte - es gab nur einzelne verstreute Gemeinden –, dann dürfen wir wohl staunen über diese Vision und über den Mut, solche großen Worte überhaupt zu Papier zu bringen: „Macht zu Jüngern alle Völker.“ Die weltweite Mission ist in Erfüllung gegangen. Wenn es auch nicht immer und überall gelungen ist, Menschen zu Jüngern zu machen, d. h. zu solchen, die sich bewusst und mit ganzem Einsatz in die Nachfolge Jesu stellen, so haben doch ungezählte Menschen immerhin von dem Wort Gottes gehört und damit ein unschätzbares Angebot für die Ausrichtung ihres Lebens erhalten.
„Lehrt sie halten alles, was ich euch geboten habe.“ In diesem Teil des Auftrags kommt deutlich zum Ausdruck, dass es Jesus Christus nicht nur um den Glauben im Sinne des Gefühls oder im Sinne einer Herzenssache geht. Vielmehr stellt er auch den Anspruch auf eine veränderte Lebens- und Verhaltensweise. „Lehrt sie halten alles, was ich euch geboten habe.“ Was hat Jesus seinen Jüngern geboten? Er hat ihnen zum Beispiel die Bergpredigt gehalten. Matthäus spricht in seinem Evangelium oft von der besseren Gerechtigkeit. Dieses Stichwort sollten wir uns merken. Die bessere Gerechtigkeit fordert er von seinen Kindern. Besser als was? Eine bessere Gerechtigkeit als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, die in den Evangelien, nicht nur bei Matthäus, so oft als Negativbeispiele geschildert werden.
Ich möchte einmal vortragen, welche Vorhaltungen Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern gemacht hat - das steht alles bei Matthäus am 23. Kapitel. „Sie binden schwere und unerträgliche Bürden zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, aber sie selbst wollen nicht einmal einen Finger dafür krümmen.“ - „Alle ihre Werke tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie sitzen gern obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben's gern, auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten ‚Rabbi‘, das heißt ‚Lehrer‘, genannt zu werden.“ - „Weh euch, ihr Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich vor den Menschen zuschließt!“ – „Weh euch, die ihr den Zehnten von Minze und Kümmel gebt, aber euch um das Wichtigste im Gesetz nicht kümmert, nämlich um das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben!“ - „Weh euch, die ihr die Becher und Schüsseln äußerlich reinigt, im Inneren aber sind sie voll Raub und Gier!“ - „Weh euch, ihr Heuchler, die ihr wie die übertünchten Gräber seid, die von außen hübsch aussehen, aber innen voller Totengebeine und lauter Unrat sind! So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voll Heuchelei und Auflehnung gegen das Gesetz.“
Jesus übt harsche Kritik an der heuchlerischen Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten. Er fordert die bessere Gerechtigkeit, die ihren Namen verdient. Es geht ihm dabei um die sehr praktischen, konkreten Dinge unseres menschlichen Zusammenlebens, unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. So konkret ist das gemeint, wenn Jesus seine Jünger beauftragt: „Lehrt sie halten alles, was ich euch geboten habe!“ Wenn wir uns fragen: „Wie lautet das Gebot Jesu an uns zusammengefasst?“, dann ist die Antwort: „Was Jesus von uns will, ist zusammengefasst im Doppelgebot der Gottes- und Menschenliebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand. Und das andere ich dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Diese Hinweise auf den Anspruch Jesu an uns mögen wie eine Überforderung klingen: Wir wissen ja, was wir tun und wie wir sein sollen, aber wir vermögen’s nicht. Dazu müssen wir nun hören, was noch in dem Vermächtnis und Auftrag Jesu gesagt ist. Es mag sehr tröstlich sein, dass es zunächst heißt: „Tauft sie!“ und erst an zweiter Stelle: „Und lehrt sie halten alles, was ich euch geboten habe.“
Dass die Taufe an erster Stelle steht, heißt doch: Die Zuwendung Gottes, seine Liebe, Barmherzigkeit und Gnade wird uns zuteil, noch bevor wir selbst etwas gegeben, etwas geleistet haben und bevor wir uns durch tadelloses Tun bewährt haben. Das ist das eine Tröstliche.
Das andere ist der Schlusssatz des Evangeliums: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Jesus sagt seine beständige Gegenwart zu, wo er doch Grund genug gehabt hätte, für immer von den Menschen Abschied zu nehmen. Denn welche Misshandlung hatte er gerade am Karfreitag über sich ergehen lassen müssen! Und von denen, die da vor ihm auf dem Berg in Galiläa stehen, heißt es: „Und einige zweifelten!“
Jesus sagt seine immerwährende Gegenwart zu, nicht als Lohn für tadelloses Verhalten oder für besondere Glaubensstärke, sondern aus reiner Barmherzigkeit mit den Schwachen, mit der schwachen, schuldhaften Kreatur Mensch. Solche nachsichtige, vergebende, zuvorkommende Zuwendung ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass die Jünger es wagen können, in die Welt hinauszugehen und anderen Menschen den Anspruch Jesu auf unser Leben weiterzusagen. Für uns liegt in dieser Zusage der Grund, der uns in allen Anfechtungen, Zweifeln, Enttäuschungen trägt und uns zu immer neuer Hoffnung hindurchträgt.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. Juli 1985)