Die Hoffnung nicht aufgeben
22. Juli 1973
5. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 5,1-11
Um die Wirtschaft in unserem Land ist es recht gut bestellt. Die Leute kaufen und kaufen. Die Umsätze sind zum Teil enorm. Für manche Produkte werden die Lieferfristen immer länger, weil die Hersteller mit der wachsende Nachfrage einfach nicht Schritt halten. Wenn Sie sich zum Beispiel Einbaumöbel kaufen wollen, können Sie gut sechs Wochen auf die Lieferung warten. Wer in der richtigen Branche tätig ist, kann sich sagen: „Die Arbeit lohnt sich.“ Wenn er die Tagesarbeit hinter sich hat, weiß er: „Ich habe mich nicht umsonst abgemüht." Und er kann zufrieden und mit Ruhe dem nächsten Tag entgegensehen.
Aber wo die Bäume in den Himmel wachsen, fällt auch viel Schatten. Da gibt es auch Firmen, die schwer zu kämpfen haben. Da wird den ganzen Tag vor Anstrengung geschwitzt, und am Abend, wenn man Bilanz zieht, stellt man fest: „Unter dem Strich trotz aller Mühen ein negatives Ergebnis.“ Um mit den Bildern unseres heutigen Predigttextes zu sprechen: Da ist man hinausgefahren, Fische zu fangen, des nachts, denn in der Nacht ist die Ausbeute gewöhnlich am größten. Aber man hat umsonst auf den Schlaf verzichtet: „Wir haben nichts gefangen. Eine traurige Bilanz. Zum Weinen!" Man fragt sich: „Lohnt es sich überhaupt, solche Anstrengungen zu wiederholen? Man wird zaghafter. Wenn sich die Misserfolge häufen, beginnt man dreimal zu überlegen, ob sich der Einsatz noch lohnt, ob man seine Erwartungen herabschrauben, seine Ansprüche auf ein Minimum reduzieren soll.
Das ist ja auch in der Schule so. Habe ich drei Fünfen hintereinander geschrieben, freue ich mich über eine Vier. Eine Drei oder Zwei erwarte ich fast gar nicht mehr und wage auch kaum noch, sie zu erhoffen. Misserfolge können uns die Hoffnung nehmen. Dabei ist es für unser Leben doch so wichtig, die Hoffnung nicht aufzugeben. Wo keine Hoffnung mehr ist, da ist gewissermaßen die Seele am Sterben. Wer sich von dem Gedanken bestimmen lässt: „Es hat ja doch keinen Sinn mehr!“, der verkümmert seelisch. Der bringt sich selbst in Gefahr, der beraubt sich der Kraft zum Leben. Wie Hoffnungslosigkeit geradezu zum körperlichen Tode, zum Selbstmord führen kann, erfahren wir immer mal wieder aus der Zeitung.
Allerdings, manchmal genügt eine kleine Ermunterung durch jemanden, dem wir vertrauen, der uns sagt: „Gib nicht auf!“ - und wir sind bereit, es noch einmal zu versuchen. Das ist doch bemerkenswert. Auch Simon und die anderen Fischer bei ihm lassen sich von Jesus ermuntern, wieder auf den See hinauszufahren und die Netze erneut auszuwerfen. Die letzte Nacht war erfolglos gewesen. Simon glaubt nicht recht daran, dass es heute am Tage anders sein soll. Er bringt seine Skepsis deutlich zum Ausdruck, indem er auf den nächtlichen Misserfolg hinweist: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen.“ Aber trotz seiner Skepsis fährt er hinaus, halbherzig zwar, ohne wohl recht an einen guten Ausgang zu glauben, und wohl auch ohne recht zu wissen, weshalb er wider sein besseres Wissen den neuen Versuch unternimmt. Es ist wohl so, dass die Aufforderung einer Person, die Vertrauen verdient, eben dieses bewirken kann: nämlich Hoffnungslosigkeit zu überwinden, Mut zu machen für einen neuen Versuch. Das müssen wir uns auch für unsere Beziehungen untereinander merken. Können wir nicht unsere Mitmenschen hier und da über ihre Hoffnungslosigkeit hinweghelfen, indem wir ihnen sagen: „Versuch's doch noch einmal! Gib nicht auf!"
Unsere Erzählung schildert dann, wie der Erfolg tatsächlich eintritt, und zwar ein unerwartet großer Erfolg. Simon fängt mit seinem Boot eine Menge Fische. Die Netze beginnen von der übermäßigen Last fast zu zerreißen. Er muss die Fischer des anderen Schiffes um Unterstützung bitten. Und sie füllen die Schiffe so voll, dass sie zu sinken drohen.
Diese Erzählung will uns nicht sagen: „Jesus ist ein Wundertäter, der Fische da hinzaubern kann, wo keine sind.“ Sondern er will uns auffordern, auch da einen neuen Versuch zu wagen, wo wir ihn dem Augenschein nach für aussichtslos halten, wo wir meinen aufgeben, resignieren zu müssen.
Dieser Aufforderung zu folgen, ist manchmal schwer. Eine persönliche Niederlage tut immer weh. Wir haben Angst vor dem Versagen. Wir verlieren die Hoffnung, weil wir uns selbst den Erfolg nicht mehr zutrauen. Deshalb sollten wir auch das andere aus unserem Text heraushören, nämlich dieses: Erfolg oder Misserfolg beruhen nur zum Teil auf unserem eigenen Tun.
Ein Geschäftsmann zum Beispiel kann zwar fleißig oder faul sein, und davon hängt sicherlich sein geschäftlicher Erfolg mit ab. Aber es kommen doch viele Dinge hinzu, die außerhalb seiner Kontrolle liegen: die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Bedürfnisse der Kunden, sein eigenes Wohlbefinden: Wenn er krank wird, nützt ihm sein ganzer Fleiß nichts. Der Erfolgreiche sollte sich nicht zu viel einzubilden. Der Erfolg ist ihm gegeben. Am nächsten Tag schon kann er fallen. Desgleichen braucht auch der Erfolglose nicht zu verzweifeln. Auch sein Schicksal kann sich am nächsten Tag wenden. Unsere Erzählung stellt diese Situation gleichnishaft dar. Den Fischern wird ein ganz unerwarteter Erfolg beschert. An Erfolg oder Misserfolg brauchen wir unseren eigenen Wert nicht zu messen. Das freilich tun wir allzu oft.
Die Konsequenz dieses Denkens, das Eine wie das Andere auf unser persönliches Konto zu verbuchen, kann recht unheilvoll sein. Wer meint, dass sich jemand seinen Erfolg allein als persönliches Verdienst zurechnen kann, der ist nicht weit davon entfernt, bei anderer Gelegenheit zu sagen: „Du hast selbst schuld, dass du es nicht weiter gebracht hast!“ Dieser Haltung begegnen wir immer wieder. Sie kann unmenschlich sein. Denn sehen wir einmal unser eigenes Leben an: "Ist es vornehmlich durch Erfolg oder Misserfolg bestimmt?" Diese Frage kann sich nur jeder selbst beantworten. Vielleicht ist es so, dass wir uns alle nicht zu den besonderen Glückspilzen zählen, dass wir uns mehr zu den normalen Menschen rechnen, die ein gutes Maß an Enttäuschungen erlebt und gelernt haben, die großen Erwartungen von damals herabzuschrauben, damit die weiteren Misserfolge nicht mehr so schwer ins Gewicht fallen und wir die kleinen Gewinne schon als Erfolg verbuchen können.
Lassen wir uns gern von dem Erfolgreichen sagen: „Du hast es zu nichts gebracht? Du bist selbst schuld daran?" Sicher nicht! Aber doch müssen wir uns das immer wieder anhören. Es werden ständig Vergleiche gezogen. Wir selbst versuchen, dem anderen überlegen zu sein, und wir kosten nicht selten die Niederlage des anderen aus, als wäre sie unser eigener Sieg. Es ist deshalb so schwer, mit dem Scheitern fertig zu werden. Zu wissen, wenn ich als Geschäftsmann einen Reinfall erlebt habe, werden sich die Konkurrenten daran ergötzen. Oder: Wenn ich durch’s Examen gefallen bin, werden sich die anderen freuen. Oder: Wenn ich straffällig geworden bin, werden die anderen darin ihre Befriedigung finden. Dieses Wissen ist wirklich unangenehm und macht es uns manchmal schwer weiterzumachen. Wenn wir scheitern, wird es nicht viele Menschen geben, die uns sagen: „Versuch's noch einmal! Mach weiter! Es wird schon gut werden!“ Solche aufmunternde Barmherzigkeit ist eher spärlich gesät. Wir brauchen nur uns selbst ehrlich zu fragen: „Wenn unser Nachbar scheitert: Bin ich dann im Grunde meines Herzens vielleicht sogar froh darüber, weil ich mit meinen eigenen Misserfolgen nicht mehr allein bin, weil sich gezeigt hat, dass der andere doch nicht stärker ist als ich?“ Wenn der Gescheiterte mit dieser Unbarmherzigkeit nicht fertig wird und an ihr zugrunde geht, sollten wir wissen, dass wir alle mit schuldig sind.
Wollen wir menschlich miteinander umgehen, müssen wir die Aussage unseres Textes ernst nehmen, dass unser Erfolg und Misserfolg nicht in unserer, sondern - theologisch gesprochen - in Gottes Hand liegt, dass wir weder auf das eine allzu stolz zu sein noch an dem anderen zu verzweifeln brauchen.
Diese Erzählung will uns noch etwas anderes ganz Wichtiges sagen: Als Petrus die vollen Netze erblickt, ist er überwältigt von dem großen Erfolg. Er fällt Jesus zu Füßen und sagt: „Herr, gehe fort von mir. Ich bin ein sündiger Mensch.“
Dieser Teil unserer Erzählung erinnert mich an die Geschichte eines etwas naiven, verträumten 15jährigen Jungen, der zum ersten Mal verliebt ist, in seiner Freundin aber nicht bloß einen Menschen aus Fleisch und Blut sieht, sondern zugleich ein reines, engelgleiches Wesen. Das Mädchen spürt dies und fühlt sich unbehaglich. So gern sie ihrerseits den jungen Mann mag, möchte sie doch los von ihm, denn sie merkt, dass sie nicht dem Bild entspricht, das der Freund von ihr hat.
Mit Petrus ist es vielleicht ähnlich. Als er die reiche Ausbeute bemerkt, ist er ganz erschrocken. Denn er mag sich gesagt haben: „So viel Glück habe ich doch gar nicht verdient. Für was für einen guten Menschen musst mich Jesus halten, dass er mich so reichlich beschenkt?! So gut bin ich doch gar nicht! Ich werde sicherlich schon bei der nächsten Gelegenheit Jesus enttäuschen, wenn er gewahr wird, wie schwach ich bin. Seinen Erwartungen werde ich nie und nimmer gerecht werden können!“ So oder ähnlich mag Petrus gedacht haben. Er weist deshalb erschrocken das Geschenk und die Gemeinschaft mit Jesus zurück: „Ich bin nichts für dich. Ich bin ein Sünder. Geh lieber fort von mir!“
Diese Reaktion ist doch ganz verständlich. Geht es uns nicht auch so, dass wir es einerseits zwar ganz gern haben, wenn uns die Leute für etwas Besseres halten, als wir in Wirklichkeit sind, dass uns andererseits aber unbehaglich zumute wird, wo wir uns allzu zu edel eingeschätzt vorkommen?
Jesus hat Simon nicht falsch eingeschätzt. Er sieht in Simon durchaus und gerade den Sünder. Er nimmt Simon aber als sündigen Menschen an und beschenkt ihn reichlich im Bewusstsein seiner Schwachheit. Das will uns der Text sagen, uns, die wir ja alle keine edlen, reinen Engel, sondern schwache, mit etlichen Fehlern behaftete Menschen - im theologischen Jargon gesprochen - „Sünder" sind. Das also will er sagen, dass wir nichtsdestotrotz liebenswerte Menschen sind, würdig auch des allergrößten Geschenkes. Jesus setzt gewissermaßen das Tüpfelchen auf das „I", wenn er sagt: „Zwar bist du Sünder, dennoch schicke ich dich sogar zu den anderen Sündern, damit du ihnen diese Botschaft von der Barmherzigkeit weitersagst.“ Denn das ist barmherzig: den anderen in seiner Schwäche klar sehen, und ihn dennoch nicht wegstoßen und auch nicht über ihn triumphieren, sondern ihn annehmen, mit ihm Gemeinschaft halten und ihn mit unserer Zuwendung reichlich beschenken.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in der Martinskirche, Cuxhaven-Ritzebüttel am 22. Juli 1973)