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2. Sonntag vor der Passionszeit (4.2.24)


Liebesmüh ist nicht vergebens

22. Februar 1981

2. Sonntag vor der Passionszeit

Sexagesimae

Markus 4,26-29


Jeder von uns hat so seine Hoffnungen für die Zukunft. Wer ein Kind in die Welt gesetzt hat, der wird Hoffnungen mit diesem Kind verbinden. Es soll es einmal gut haben, besser als wir selbst vielleicht. Es soll etwas lernen. Es soll etwas aus ihm werden. Wenn wir selbst Kind sind, Jugendlicher, Heranwachsender, hoffen wir vielleicht, einmal alles besser zu machen. Wir sind bereit, uns einzusetzen; und dann wird sich vieles ändern, hoffen wir. Wenn wir etwas älter sind und schon einiges durchgemacht haben, hoffen wir, dass an irgendeiner Stelle in unserem Leben vielleicht doch noch etwas von dem Wirklichkeit werden möge, was wir uns immer erhofft haben. 

Wir sind mit unseren Wünschen der Gegenwart immer ein Stück voraus. Was noch nicht ist, soll noch werden. Und vieles ist noch nicht. Unsere Gegenwart ist immer gekennzeichnet durch einen Mangelzustand. Vieles bleibt zu wünschen übrig. Wir selbst lassen zu wünschen übrig. Unsere Mitmenschen lassen zu wünschen übrig. Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, lässt zu wünschen übrig. Die Verhältnisse, in denen wir leben, lassen zu wünschen übrig. Ja, es ist vieles nicht in Ordnung. Es ist gut, wenn wir das erkennen, wenn wir daran leiden und wenn wir uns von Herzen nach dem Neuen sehnen, nach dem ganz anderen, dem, was noch nicht ist, von dem wir aber spüren: Es sollte sein. Und gut ist es, wenn wir bereit sind, das Unsrige zu tun, damit das Neue entstehen kann, wenn wir bereit sind, den Acker zu bestellen, die Saat auszustreuen, damit wachsen kann, was wir erhoffen. 

Der Rest ist dann Warten. Vielleicht lange warten. Ich kann mir vorstellen, dass den ersten Christen die Zeit des Wartens allzu lang wurde. Sie hofften auf eine neue Welt, auf das Reich Gottes, wie sie sagten. Aber es wollte einfach nicht anbrechen. Vielleicht haben sie sich dann dieses Gleichnis erzählt, das wir eben gehört haben: Nur Geduld, unsere Hoffnungen werden in Erfüllung gehen. Die Ernte wird kommen. Die Saat unserer Hoffnung wird aufgehen. Wir müssen nur warten, so wie der Bauer, der sein Feld bestellt hat. Warten, wir können uns Ruhe gönnen, können auch schlafen gehen. 

Es ist gewiss nicht leicht, auf die Dauer so gelassen zu bleiben. Wenn wir erst erkennen, dass das Kind, das wir großziehen sollen, nicht so geraten will, wie wir es uns gedacht haben, mögen wir wohl unruhig werden. Wenn wir erst merken, dass unsere guten Worte und die wohlgemeinten Maßnahmen nicht zum gewünschten Ziel führen, mögen wir ungeduldig werden. Vielleicht meinen wir, Fehler gemacht zu haben, und wollen es noch einmal anders versuchen. Und noch einmal warten wir – und wenn es auch dann nichts fruchtet?

Oder wenn wir jung sind und bereit, uns einzusetzen und immer aufs Neue erfahren: Man spielt nicht mit. Wir stehen allein. Man lächelt über uns. Man nimmt uns gar nicht ernst. Wenn wir das nicht nur einmal, sondern zweimal, dreimal, häufiger erfahren müssen, kann uns das dann nicht ungeduldig, zornig machen? Kann uns das nicht innerlich zerbrechen? Und mutlos machen, uns umkehren? „Mit mir nicht mehr!“

Und wenn wir älter sind und nirgendwo zur Ruhe kommen, und nirgendwo den Ort gefunden haben, wo wir sagen können: Hier bin ich und hier möchte ich bleiben. Hier bin ich zuhause und geborgen. Hier fühl ich mich wohl. Hier ist mein Sehnen und Hoffen erfüllt? Wenn wir nirgendwo die Menschen gefunden haben, die uns wirklich gernhaben und wir sie?! Wenn wir Enttäuschungen jeder Art erlebt haben und schon viel Zeit verstrichen ist und die Erfüllung unserer tiefsten Wünsche noch auf sich warten lässt?

Kann uns das dann nicht verbittern und eine endgültige Lehre sein: dass alles Hoffen vergebens ist? Kann uns das nicht auf unsere Gegenwart zurückwerfen: dass wir uns arrangieren mit dem, was vor der Hand ist, uns begnügen mit dem Mangel und wunschlos werden, wenn auch nicht glücklich? Dass wir Kompromisse eingehen mit dem Bösen und unsere Freude suchen in dem, was wir bisher verabscheut haben?

Es muss nicht so kommen. Vielleicht haben Sie auch die Geschichte von dem kleinen Jungen gelesen. Für mich verkörpert er dieses Gleichnis von der Saat, die aufgeht, ohne dass wir selbst noch etwas tun könnten. 

Die Mutter des Jungen war Trinkerin geworden. Der Mann hatte sie betrogen, hatte sie verlassen. Da saß sie nun mit den beiden Kindern. Sie kam über die Trennung nicht hinweg. Sie begann zu trinken. Sie vernachlässigte ihren Haushalt, ging nur noch unregelmäßig zur Arbeit. Sie fiel auf. In der Nachbarschaft wusste man bald, was man von ihr zu halten hatte. Den Kindern gegenüber versuchte sie gut zu sein, soweit ihr das noch möglich war. Sie las ihnen abends Geschichten vor oder erzählte ihnen welche. Sie konnte das wohl ganz gut. Und immer wieder versprach sie den Kindern: Es wird bald besser werden. Sie würde bald aufhören zu trinken. 

Manchmal ging das für einige Zeit ganz gut. Aber dann fiel sie doch wieder zurück, und es war alles beim Alten. Wenn die Nachbarn schimpften, verteidigte der Junge seine Mutter. In der Schule erzählte er gut von ihr: Wie gut sie vorlesen und erzählen könnte. Wenn es zuhause nicht genug zu essen gab, zog er selbst los, ging zum Markt, stapelte leere Kisten, fegte Abfälle zusammen. Dafür bekam er ein wenig Obst und Gemüse, auch Geld. Bald konnte er auch ein paar einfache Sachen kochen. Aber in der Schule fehlte er doch einige Male. Man ließ seine Mutter kommen. Und man sah, was mit ihr los war. Da legte man ihr nahe, in ein Krankenhaus zu gehen. Sie war damit einverstanden. Die Kinder kamen zu Verwandten. „Wenn ich wiederkomme“, sagte die Mutter, „wird alles besser.“ 

Ein halbes Jahr blieb sie fort. Dann kam sie wieder. Es wurde wirklich besser. Aber nur ein Jahr lang. Dann trank sie wieder. Und es war wieder alles beim Alten. Der Junge war unglücklich. Aber er schwänzte nicht mehr so oft die Schule. Die Schule sollte sich nicht wieder bei der Mutter beschweren. Und wenn sie abends in die Wirtschaft ging, blieb er wach, bis er sie zurückkommen hörte. Dann holte er sie unten von der Haustür ab. Es sollte keinen Lärm im Treppenhaus geben. Nie wieder sollte jemand über seine Mutter schimpfen. 

Dieser Junge hatte wohl erkannt, wie es um seine Mutter stand. Er hatte gewiss keine Illusionen, was die Zukunft betraf. Aber er gibt seine Mutter nicht auf, er gibt auch sich selbst und die Beziehung zu ihr nicht auf. Er hat die Mutter noch gern. Deshalb tut er alles, um sie vor Schlimmerem zu bewahren. Er wendet viel Kraft auf und Zeit und Nachsicht, um für die Zukunft noch alle Möglichkeiten offenzuhalten. 

Was kann von der Mutter noch Gutes kommen? Lohnt sich der Einsatz für sie? Das ist für den Sohn offenbar keine Frage. Die Mutter ist der Acker, auf den er in Hoffnung sät. Ob die Saat jemals Frucht bringen wird – wer kann das sagen? Ob die ganze Geduld, die liebevolle Zuwendung ihr eines Tages doch den Weg zurück ermöglichen wird – wer kann das wissen?

Nun mag uns die Trinkerin als ein Einzelfall erscheinen. Aber, ich meine: So ist es nicht. Wir leben vielleicht alle in Beziehungen, die ähnlich verfahren sind, wie die zwischen dem Sohn und der Mutter. Nicht unbedingt im familiären Bereich. Vielleicht am Arbeitsplatz, in der Schule, im Freundeskreis, im Kreis der Verwandten und Bekannten, in der Nachbarschaft. Da mögen wir uns immer wieder Mühe gegeben haben. Wir mögen uns durch Versprechungen immer wieder haben ermuntern lassen. Und dann sind wir doch wieder enttäuscht worden. Und wir stehen vor der Frage: Soll dies nun mein letzter Versuch sein? Wollen wir dann zu anderen Maßnahmen greifen? Oder wollen wir uns dann zurückziehen?

Sollen uns die anderen für immer gestohlen bleiben? Wollen wir uns dann lieber mehr auf uns selbst besinnen? Uns selbst mehr Gutes zukommen lassen?

Ich glaube, wir spüren: Zu einem solchen Rückzug soll es nach Möglichkeit nicht kommen.

So sehr wir auch an enttäuschenden Erfahrungen leiden mögen – schlimmer als das Risiko einer weiteren Enttäuschung ist die Hoffnungslosigkeit. Wir dürfen einander nicht aufgeben, wenn wir nicht uns selbst und unser ganzes Leben überhaupt aufgeben wollen. Wir leben von dieser unerschütterlichen Treue, die in Jesus Christus Gestalt angenommen hat. Er, dieser Jesus Christus, ist die Saat, die als Hoffnung in unsere Welt, in unsere Herzen ausgestreut ist. Enttäuschte Geister könnten ihn als Fehlinvestition Gottes in uns betrachten: „Er wird in uns keine Frucht bringen. Es wird eine Missernte werden.“ Aber Jesus Christus ist uns gegeben. Und Gott, unser Schöpfer, hat noch Geduld mit uns.

Lassen auch Sie uns miteinander umgehen in Hoffnung. Die guten Worte, die wir einander sagen, und die guten Taten, die wir einander tun, vielleicht erscheinen sie vergebens, vergebliche Liebesmüh. Aber keine Liebesmüh ist vergebens. Gute Worte und gute Taten werden Frucht bringen, wenn nicht heute, so doch morgen oder übermorgen. Daran glaube ich, und daran möchte ich festhalten aus Liebe zum Menschen, und zu allem, was uns in diesem Dasein gegeben ist.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 22. Februar 1981) 

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