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Letzter Sonntag nach Epiphanias (28.1.24)


Eine Schatzkiste guter Worte

1. Februar 1998

Letzter Sonntag nach Epiphanias

2. Korinther 4,6-10


Ich machte mal bei einer nicht mehr ganz jungen Dame einen Geburtstagsbesuch. Sie setzte in der Küche den Kaffee auf, und ich ließ meine Blicke im Zimmer ein wenig umherschweifen. Neben dem Telefon, das gleich vor ihrem Sessel auf dem Wohnzimmertisch stand, sah ich eine Art Postkarte oder Ansichtskartekarte liegen, oder was mal eine Karte gewesen war. Sie sah aus, wie gerade von der regennassen Straße aufgelesen und wieder getrocknet, fleckig, eingerissen, zerknittert und wieder glattgemacht. Ein etwas unansehnliches Stück, aber es mußte wohl eine Bedeutung haben. Ich konnte sehen, dass da ein Spruch aufgedruckt  war.  

Als die ältere Dame den Kaffee hereintrug, hielt ich meinen Blick noch für einen kurzen Moment auf diese unansehnliche Karte gerichtet, und sie hatte die Botschaft verstanden, denn sie begann gleich zu erzählen, was es mit der Karte auf sich hatte. 

„Die habe ich draußen vor der Tür gefunden“, sagte sie. „Eigentlich hatte ich sie nur aufgehoben, um sie in den Papierkorb zu werfen, aber dann sah ich, was da drauf steht - und dann habe ich sie mitgenommen und ein bißchen saubergemacht und habe sie mir neben das Telefon gelegt. Denn ich habe eine dumme Angewohnheit“, sagte sie weiter: „Wenn ich telefoniere, fange ich immer wieder von meinen ganzen Wehwehchen an, das geht mir selbst auf den Geist, aber in meinem Alter zwickt es ja hier und da, und dann das mühselige Treppensteigen und dann das knappe Geld - und dann war jemand unfreundlich zu mir und das Wetter war schlecht und die Heizung fiel aus und das Getrampel der Nachbarn über mir, das Kindergeschrei draußen ... Mein eigenes Gejammer hat mich eigentlich selbst noch elender gemacht. Da kam mir diese Karte ganz recht. Und ich habe sie extra neben das Telefon gelegt, damit sie mich bremst.“ 

Sie reichte mir die Karte rüber, damit ich lesen könnte, was da drauf stand. Da war eine dicke Überschrift: „Probleme, die ich heute nicht habe“ - und darunter eine lange Liste: „Heute habe ich keine Kopfschmerzen. Heute habe ich mir den Arm nicht gebrochen. Heute brauche ich nicht zu frieren. Heute hat mir noch niemand ein schlechtes Wort gesagt. Heute quält mich der Hunger nicht. Heute gab es keinen Fliegeralarm.“ Und so ging es weiter - eine Liste von Problemen, die man haben könnte. „Das hilft mir“, sagte sie, „zu lesen, was ich heute alles nicht habe an Problemen, das hebt meine Stimmung. Das hilft mir, leichter zu ertragen, was mich gerade bedrückt.“

„Gut, dass Sie die Karte nicht weggeworfen haben“, sagte ich. „Ja“, meinte sie, „die Karte sieht wirklich nicht mehr schön aus, aber das, was drauf steht, ist wunderbar.“

Sie erzählte mir noch von einigen weiteren Sprüchen, die sie gesammelt hat. Manches hat sie irgendwo und irgendwie gehört und sich dann selbst aufgeschrieben, auf irgendeinen Zettel, und hat sie in einer alten Keksdose aufbewahrt. „Dies ist meine Schatzkiste“, sagte sie, „lauter nette und kluge und hilfreiche Sprüche, auch ein paar kirchliche“, fügte sie hinzu. „Die kenne ich alle auswendig. Die trage ich hier - in mir,“ und sie zeigte da hin, wo das Herz sitzt. Ich konnte mir nicht verkneifen, ihr zu sagen: „Dann sind Sie ja sozusagen selbst eine Schatzkiste.“ – „Aber ’ne ziemlich olle Kiste“, konterte sie schlagfertig. „Finde ich gar nicht“, entgegnete ich meinerseits - und das sagte nicht nur aus Höflichkeit. Denn in dem Augenblick war es, als funkelte ihr innerer Schatz in ihren Augen. Jung und lebendig erschien sie mir. 

Mir war in dem Augenblick klar, wie wichtig und schön es ist, gute Worte in sich zu tragen. Ein gutes Wort kann wie ein Juwel sein. Es kann uns reich machen, wenn wir auch äußerlich arm sind. Es kann unserem Leben einen Glanz verleihen. Ein gutes Wort kann eine finstere Miene erhellen.  Gute Worte haben eine enorme Kraft. Sie sind unzerstörbar, und sie können immer und überall gegenwärtig sein. Sie können auf Hochglanzpaier gedruckt sein, sie können in Leinen gebunden sein, sie können aber auch auf irgendeinem Papier stehen, das achtlos auf der Straße herumliegt. Oder sie können einfach in uns sein, einmal gelesen, einmal gehört - und sie sind in uns - ganz egal, wie wir gebaut sind, ganz egal, ob wir ein glänzendes oder heruntergekommendes Äußeres haben, ob wir jung oder alt sind. Wir sind eh vergänglich, aber Worte sind unvergänglich. Wir haben sie auf Papier oder wir tragen sie in uns wie in einem Gefäß. Wenn wir mal nicht mehr sind, bleiben die Worte dennoch. Sie haben ein eigenes Leben, sie haben eine geistige Existenz, sie sind wie der Geist in unserem Körper, sie sind wie das Göttliche in unserem menschlichen Gehäuse. 

„Wir haben einen Schatz in irdenen Gefäßen“, so hat Paulus das formuliert. Mit dem irdenen Gefäß hat er sich selbst gemeint. Und die Kraft, die tragende und verwandelnde Kraft der Worte hat er in seiner speziellen Situation  der Anfeindung und Verfolgung und Entbehrung so formuliert: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Wir sind ratlos, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“

Paulus trug Worte Jesu in seinem Herzen. Und er hatte das Bild des Gekreuzigten vor seinem inneren Auge. Und er sah, dass da Zweierlei war: der Leib Jesu, die äußere Hülle, das war das eine, und die göttlichen Worte, die Jesus in sich trug und an die Menschen um ihn herum weitergab, das war das andere. Den Leib Jesu konnten seine Feinde wohl vernichten. Aber seine Worte konnten sie nicht zunichte machen. Die Worte hatten ihr eigenes Leben, und die entfalteten ihre Kraft sogleich und immer wieder in immer neuen Menschen. Bis heute sind sie unzerstört und lebendig und immer noch voller Kraft, fast als stünde er selbst, der Jesus von damals, lebendig vor uns und würde sie uns selbst zusprechen. 

Wir haben an der alten Damen gesehen, was Worte bedeuten können. Ähnliche Beispiele wird vielleicht jeder von Ihnen erzählen können. Als ich noch zur Schule ging, das ist schon etwas her, gab es ein paar Lehrer, die immer mal gern von ihren Kriegserlebnissen erzählten. Da berichtete einer auch davon, wie ein Soldat immer, auch im Schützengraben, das Vaterunser bei sich trug. Anderen ist der 23. Psalm ein ständiger Begleiter: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“

Natürlich gibt es heute auch eine Inflation der Worte. Es wird viel geredet. Und vieles rauscht an uns vorüber - zurecht, möchte ich hinzufügen. Ein Wort ist nicht wie das andere. Sie sind nicht alle gleichwertig. Da steht auch vieles auf Hochglanzpapier, das man gut und gerne vergessen kann. Aber um solche Worte, die eigentlich selbst nur Hülsen sind, Hülsen ohne rechten Inhalt, um solche Worte geht es uns heute Morgen nicht. Und wie man die einen Worte von den anderen unterscheiden kann? Das kann ganz einfach sein. Das kann ohne Nachdenken gehen - wie bei der alten Frau: ein zufälliger Blick auf das durchnässte schmuddelige Papier, das sie gerade in den Müll werfen wollte, und schon war sie im Herzen getroffen, schon hatte sie verstanden, schon trug sie eine neue Kraft in sich. 

Manche Worte offenbaren ihre Kraft allerdings nicht so leicht und offensichtlich. Über manches Wort muss man tatsächlich etwas länger nachdenken. Und manche Worte erschließen sich uns erst in einer bestimmten Situation. Manche Sätze können wir unser Leben lang gekannt haben, und dann plötzlich sagen sie uns etwas. 

Worte, göttliche Worte sind in jenem Menschen damals Fleisch geworden, wie Johannes sagte, und haben jenen Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, verwandelt zu einer göttlichen Gestalt. Göttliche Worte haben ihn zum Leuchten gebracht. „Ich bin das Licht der Welt“, lässt Johannes ihn sagen. Der Leib Jesus wurde zu Grabe getragen, aber die Worte blieben lebendig und voller Kraft. Sie erfassten auch Saulus und verwandelten ihn in Paulus. Sie öffneten ihm die Augen und führten ihn durch viele schwierige Situationen hindurch. 

Paulus formulierte seine Lebenserfahrungen, seine Einsichten, seinen Glauben selbst in vielen guten Worten und schrieb sie auf und ließ sie aufschreiben. Paulus ist nicht mehr da, sein irdisches Gefäß, wie er es nannte, ist längst zerfallen, das Pergament, auf das er schrieb, existiert nur noch in vereinzelten Fetzen. Aber seine Worte sind weiterhin kraftvoll lebendig und haben auch uns heute Morgen bewegt. 

Wir haben dieses ganze dicke Buch voller guter Worte, auch ein irdisches Gefäß, aber zugleich doch auch eine wahre Schatzkiste. Mögen sich möglichst viele dieser Worte möglichst vielen von uns erschließen und wie ein Licht im Dunkeln unseren Weg durchs Leben erleuchten.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. Februar 1998) 

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