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4. Sonntag vor der Passionszeit (6.2.22)


„Hab keine Angst, ich bin bei dir!“

1. Februar 1981

4. Sonntag vor der Passionszeit

Matthäus 14,22-33


Mir gefällt diese Geschichte außerordentlich. Sie hat mit unserem Leben zu tun. Sie greift in die Tiefe unseres Lebens hinein. Es geht, lassen Sie mich das gewissermaßen als Überschrift sagen, es geht um die Angst, die aus der Trennung kommt.

Jesus trennt sich hier von den Volksmassen. Matthäus hat gerade vorher von der Speisung der 5000 erzählt. Diese Menschenmenge will Jesus nun hinter sich lassen. Aber was für diese Geschichte entscheidender ist: Er trennt sich von den Jüngern – für eine kurze Zeit nur, aber immerhin, die hat es in sich! Er drängt die Jünger ins Boot zu steigen; sie fahren voraus über den See, nach drüben, zum anderen Ufer. Jesus bleibt allein zurück; es ist Abend. Er steigt auf einen Berg, um dort zu beten. 

Die Jünger fahren allein auf den See hinaus. Für sie wird das eine sehr sonderbare Situation gewesen sein: Der Mensch, um den seit einiger Zeit ihr ganzes Leben kreiste, lässt sie nun allein. Gewiss, sie werden sich nach einiger Zeit am anderen Ufer wiedersehen, aber dennoch – und wenn nicht?! Sie erleben nun innerlich vielleicht schon ein Stück von dem durch, was sie später erlebten, als Jesus starb und sie sich endlos allein und verlassen fühlten, und dann auch danach, als Jesus ganz von ihnen gegangen war und sie allein zurechtkommen mussten in dieser rauen Welt.

Die Trennung von dem Menschen, um den unser ganzes Leben kreist, der uns besonders nahesteht, der unser ganzes Vertrauen genießt, diese Trennung bringt uns in eine ganz besondere Situation. Wir können sie als Bedrohung erleben. Was selbstverständlich war, ist plötzlich infrage gestellt. Wir sehen die Welt mit anderen Augen. Wir entdecken plötzlich, dass da so viele Gefahren sind, so viele Ungereimtheiten, so viele zusammenhanglose, aber mächtig über uns herfallende Erscheinungen. Die Welt ist zwar nicht anders, als sie vorher war. Aber wir erleben sie anders. Sie kann uns fremd und bedrohlich werden.

Die Trennung von dem uns am nächsten stehenden Menschen gefährdet uns im Innersten. Besonders eindrücklich können wir das bei Kindern erleben. Die Eltern bringen das Kind zu Bett. Dann machen sie das Licht aus und gehen hinaus. Vielleicht schließen sie sogar die Tür.

Was geht jetzt in dem Kind vor? Ich bin kein Kinderpsychologe. Aber ich weiß, dass Kinder im Allgemeinen nicht gern ins Bett gehen und dass sie sich oftmals mit Geschrei und Gezeter dagegen wehren, dass sie allein zurückbleiben müssen in dem dunklen Zimmer.

Die Eltern gehen hinaus. Wird nicht in diesem Augenblick das Kind von Angst befallen? Die Eltern sind weg – und damit doch auch die Basis des Vertrauens in diese dem Kind noch so unbekannte fremde Welt. Solange die Eltern da sind, fühlt es sich sicher und geborgen; nun fühlt es sich ausgesetzt, schutzlos ausgeliefert den unbekannten Mächten. Jeder Schatten, jedes leise Geräusch wird es erschrecken.

Ich kann mir vorstellen, wie das Kind nun langsam in den Schlaf hineinfällt, im Innersten erfüllt von Angst und dem Wunsch nach einem sicheren Halt. Vielleicht träumt das Kind nun so etwas Ähnliches, wie es in unserer Geschichte erzählt ist: Es fährt mit anderen hinaus aufs Meer in einem kleinen Boot, immer weiter hinaus. Die Nacht wird immer dunkler. Das Meer wird unruhig, immer unruhiger, die Wellen schlagen gegen das Boot und schlagen höher und höher. Der Wind kommt vom Ufer her, ist gegen sie gerichtet. Mit dem kleinen Boot geht es auf und nieder. Es kommt mitten auf dem dunklen Meer nicht mehr voran.

Da kommt eine Gestalt übers Wasser daher. In der Angst muss auch sie – wie alles in dieser dunklen Nacht - bedrohlich erscheinen, gespenstisch. Aber die Sehnsucht des Kindes nach Bewahrung lässt diese Gestalt die beruhigenden Worte sprechen: „Hab keine Angst! Ich bin's, dein Vater!“ Das Kind möchte zu dem Vater, aber der Vater ist doch so weit entfernt, und das unruhige Wasser liegt dazwischen. Wie soll es hinüberkommen zum Vater? Es wird im Wasser versinken.

Der Vater soll sagen: „Komm!“ Wenn er das sagt, dann würde es gehen. Denn immer, wenn es einen neuen Schritt wagen sollte, etwas tun sollte, was es noch nie getan hatte – und in seinem jungen Leben gab es fast täglich solche Schritte –, immer dann hatte der Vater gesagt: „Hab keine Angst, tu’s!“ Und so hatte es ein unbekanntes Stück von der Welt nach dem anderen erobern können, und vieles, was ihm zuvor Angst bereitet hatte, war ihm so vertraut geworden.

„Sag, dass ich kommen soll!“ Und der Vater sagt: „Komm!“ Das Kind steigt aus dem Boot und geht auf den Vater zu. Da wird es sich wieder des Windes bewusst und der Wellen und der Tiefe des Meeres. Es droht in der wachsenden Angst zu versinken.

Doch der Vater streckt die Hand aus, ergreift das Kind und zieht es an sich. Er bewahrt es, wie er es schon so oft getan hat: „Du brauchst doch keine Angst zu haben, mein Kind, warum bist du so ängstlich?!“ Das Kind wird ruhiger. Auch die im Boot erkennen nun die rettende Macht des Vaters. Sogar das Meer wird nun ruhig, der Wind legt sich, das Wasser wird still, das Kind schläft. Die Angst der Trennung hat sich im Traum gelöst.

Das Kind wacht am nächsten Morgen auf und findet seine Eltern wieder vor. Auch die Jünger haben ihren Jesus wieder. Aber für jeden von uns kommt einmal der Tag – und für manchen ist er schon gekommen, vielleicht schon des Öfteren –, wo eine Trennung endgültig, unwiderruflich ist, wo wir dann allein dasitzen, vielleicht mit anderen im selben Boot, aber doch getrennt gerade von dem Menschen, der der Inhalt unseres Lebens war. Dann erleben wir das vielleicht auch so, dass wir hilflos umhertreiben in dunkler Nacht, draußen auf dem tiefen Meer, weit entfernt vom rettenden Ufer; die Wellen schlagen hoch, und es geht nicht mehr voran.

Wenn uns dann einer erscheint, der über den Dingen steht, dem all die Bedrohungen der uns jetzt fremd gewordenen Welt ganz offenbar nichts anzuhaben vermögen, dann mag es sein, dass er uns unwirklich erscheint, dass wir nicht glauben können, nicht mehr glauben können, dass da einer so sicher dahergeht.

Wenn dann doch noch ein klein wenig Sehnsucht nach Rettung in uns ist, noch ein Fünkchen Hoffnung, dass uns doch noch jemand wieder festen Grund unter den Füßen geben könnte, dann werden wir vielleicht den Anderen, den Sicheren, bitten, uns Mut und Kraft zu geben mit einem festen und bestimmten Wort: „Sag mir, dass ich mich wieder erheben und gehen soll! Wenn du das sagst, wenn du das von mir willst, dann werde ich die Kraft haben, es zu tun.“

Wenn wir einmal ganz alleingelassen sind, spüren wir, dass wir nicht aus uns selbst heraus die Kraft zum Leben haben. Wir werden ins Leben gerufen. Wir brauchen den, der uns ins Leben ruft: „Komm, fürchte dich nicht, ich bin’s!“ So menschlich ruft uns Jesus Christus ins Leben hinein.

„Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!“ Hier ruft nicht jemand, der alle Naturgewalten, alle Lebensgefahren von vornherein bannen könnte. Hier ruft einer, der uns an die Hand zu nehmen bereit ist, um so gemeinsam mit uns den bedrohlichen Mächten unseres Daseins Widerstand zu leisten.

Wenn wir in diese Situation hineingeraten, dass wir uns alleingelassen fühlen und dann von innen und von außen her bedroht werden, dann wünsche ich uns die Kraft und das Vertrauen, das wir brauchen, um die uns zur Hilfe ausgestreckte Hand ergreifen zu wollen und um Hilfe zu bitten, wie wir es zum Beispiel mit den Worten dieses Liedes tun können: „Hilf, Herr, hilf in Angst und Not, erbarme dich meiner, du treuer Gott. Ich bin ja doch dein liebes Kind, trotz Teufel, Welt und aller Sünd.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. Februar 1981)

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