Die Sehnsucht nach Frieden bleibt
„Friede auf Erden allen Menschen!“ Das ist die Weihnachtsbotschaft - eine Sehnsucht, eine Verheißung, ein Auftrag.
Friede in den Herzen aller Menschen - mit sich selbst zufrieden sein, mit seinem Leben. Frieden halten miteinander - von Mensch zu Mensch, in der Familie, unter Eheleuten, zwischen Eltern und Kindern, in der Verwandtschaft, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde. Frieden halten im ganzen Land - zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, Ärmeren und Reicheren. Und Frieden halten unter den Nationen. Wie schwer ist das alles! Aber die Sehnsucht ist da. Sie war immer da. Und sie wird wohl noch lange, lange bleiben.
Menschen in Israel vor 2000 Jahren, vor 3000 Jahren, hofften, dass einmal Ruhe einkehren würde, dass der Bauer ohne Angst vor Überfällen sein Land bestellen und die Nomaden ohne Sorgen ihre Herden hüten könnten. Mächtige Völker aus dem Norden und ein mächtiges Volk aus dem Süden durchzogen mit ihren Soldaten immer wieder das Land, zerstörten, plünderten, vergewaltigten, verschleppten.
Die Sehnsucht nach Frieden für ihr kleines Volk wurzelte tief, in ungezählten Erfahrungen des Leids, der Ohnmacht, die Sehnsucht nach einer Hilfe aus der Höhe. Denn wer könnte helfen? Ein übermenschliches Werk müsste vollbracht werden.
Menschen in Israel heute - die Sehnsucht nach Frieden ist weiter ungebrochen, unerfüllt. Wie eh - und mehr denn je - erscheint alles Tun vergebens, Frieden ist nicht machbar. Alles Menschenmögliche muss getan werden. Der Rest ist unverfügbar. Hoffnung.
Menschen in aller Welt - wie viel Unfrieden, wie viele Kriege - hat es über die Jahrhunderte, die Jahrtausende gegeben?! Und sind nicht überall Männer und Frauen, Väter und Mütter, Kinder, die sich der Gabe des Lebens erfreuen möchten, die spielen und arbeiten und die Schönheiten der Schöpfung entdecken möchten, die sich an den Aufgaben des Lebens erproben, sich lieben und fröhlich miteinander feiern möchten. Die Sehnsucht nach einem Leben in Frieden umspannt unseren Erdball. Nach schrecklichen Erfahrungen haben Menschen, ganze Völker, immer wieder den Vorsatz gefasst: „Dies darf nicht noch einmal geschehen.“
Als sich vor 2000 Jahren der Himmel über dem Feld von Bethlehem öffnete, verkündete ein Engel: „Friede auf Erden allen Menschen.“ Menschliche Sehnsucht - als göttliche Verheißung verkündet.
Ein zarter Engel verkündet die göttliche Botschaft armen Hirten im Dunkel der Nacht auf einem Feld am Rande eines kleinen Ortes: „Geht hin, in einem Stall, in einer Krippe liegend, findet ihr ein neugeborenes Kind, das aller Welt den Frieden bringen wird.“
Als hätte sich der Vorhang der Ewigkeit ein klein wenig geöffnet. Ein Lichtstrahl des Göttlichen erhellte für einen Moment die menschliche Geschichte. „Friede auf Erden“ - Gottes Wort an alle Menschen, ein kurzes Wort. Ein kurzes Wort, doch inhaltsreich und mächtig, als hätte er gesagt: „Ich liebe dich.“
Ein Kind der Liebe ist das Christkind, von Gott gezeugt, von Maria empfangen, der Menschheit geboren.
Gottes Liebe ist Mensch geworden. Ist das nicht der Anfang des Friedens? Die Liebe?! Sich selbst hingeben - statt die Hingabe des anderen fordern? Sich öffnen, die Maske abnehmen, den Panzer ablegen?! Ehrlich sein, wahrhaftig?! Suchen nach dem, was dem anderen guttut, und tun, was seinem Wohl dient?! Verletzungen an der eigenen Seele, am eigenen Leib aushalten, Unrecht aushalten?! Geduld miteinander haben?! Nachsicht üben, verzeihen?!
Ist das nicht der Anfang des Friedens? Das unbeirrbare, unerschütterliche Festhalten an der Liebe? Wie oft lassen wir uns irre machen von Argumenten, die so wahr sind wie der Satz: „Du wirst dir jeden Tag die Hände schmutzig machen.“ Das ist wohl wahr. Doch soll ich deswegen den Schmutz verdammen? Und soll es meine Lebensaufgabe sein, den Schmutz aus der Welt zu schaffen? Nein. Ich tue das Meine für die Reinlichkeit, und dies täglich neu. Nicht die Erfahrung der Lieblosigkeit darf unser Leitfaden sein.
Friede auf Erden - die Liebe ist der Anfang. Der Glaube an die unbeirrbare, unerschütterliche Liebe Gottes ist ein verheißungsvoller Anfang: dass wirklich Frieden werde. Der allmächtige Gott, der die menschliche Geschichte mit all ihren Tiefen und Katastrophen überblickt, der allmächtige Gott, ist in die Niederungen des Menschlichen hinabgestiegen, ist Mensch geworden, hat sich verletzlich gemacht. Er hat sich damit auch zum Gespött gemacht. Er ist verletzt und zu Tode gebracht worden. Aber er ist durch den Tod hindurchgegangen. Seine unbeirrbare, unerschütterlich Liebe ist zu unserer Hoffnung geworden. Die menschliche Sehnsucht hat sich in ihm zur Verheißung verwandelt: Der Friede ist möglich, denn er war schon da - in Jesus Christus, Gottes Sohn.
Wenn doch mächtigste Mann dieser Welt es dem Allmächtigen gleichzutun versuchte! Wenn er sich als Mensch, als bloßer Mensch, ohne Wächter seines Leibes auf den Markt begäbe - in einer jener Städte zwischen den Strömen, wo einst die Geschichte der Liebe Gottes zu den Menschen in Abraham ihren allerersten Anfang nahm! Und wenn er sagte: „Ich reiche euch die Hand. Lasst uns miteinander reden!“, vielleicht würde er das nicht überleben. Aber er hätte der Hoffnung auf Frieden Nahrung gegeben.
Nun werden - schon seit langem - alle genährt, die noch Stärkung suchten, um ihre zerstörerischen Absichten zu rechtfertigen. Die Hoffnung hat es schwerer. Der Glaube an die Verheißung des Friedens hat es schwerer. Der gute Wille hat es schwerer.
Die Sehnsucht nach Frieden für alle Welt bleibt, die Verheißung des Friedens wird heute erneuert. Wir brauchen die Weihnachtsbotschaft, wir brauchen das Weihnachtsfest. Es enthält eine Botschaft an uns alle, an jeden Einzelnen von uns und an die Mächtigen der Welt. Eine Botschaft für das Herz und den Verstand: die Sehnsucht nach Frieden ernst zu nehmen, der Verheißung des Friedens zu glauben und uns für den Frieden in Auftrag nehmen zu lassen: dass wir das uns Mögliche tun - im Sinne dessen freilich, von dem die Weihnachtsbotschaft an uns ergeht: im Sinne der Liebe zu allen Menschen in allen Teilen dieser Welt, unserer Erde, Gottes Schöpfung.
Sie ist nicht leicht - die Sache mit dem Frieden. Um so mehr brauchen wir das Weihnachtsfest. Wir brauchen die frohe Botschaft. Wir brauchen den Glauben an Christus und die Gemeinschaft aller Glaubenden, die Kirche.
Gott hat diese Welt nicht sich selbst überlassen. Wir dürfen die Welt nicht einigen wenigen Mächtigen überlassen. Wir sind zur Verantwortung berufen, zur Mitverantwortung.
„Friede auf Erden“, das ist die Weihnachtsbotschaft, eine Sehnsucht, eine Verheißung, ein Auftrag an uns alle.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 24. Dezember 2002)
