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Totensonntag/Ewigkeitssonntag (22.11.20)


Abschied vom Exzeptionellen

21. November 2004

Totensonntag

1. Korinther 15,37-38


Das Leben ist wie ein Hauch. Für einen Augenblick sind wir da, und schon haben sich unsere Konturen wieder aufgelöst im Nebel des Unendlichen. Es sind Momente des Bewusstseins – wir rechnen sie in Jahren und Jahrzehnten. Es sind flüchtige Momente der Ewigkeit.

Hunderttausendmal schlägt unser Herz am Tag. Steht es still, wird das, was wir geworden sind, wieder zu dem, was wir einmal waren. Die Bibel sagt: „Erde zu Erde – von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden.“

Wie sind wir ins Dasein gelangt? Aus Abermillionen von Spermien traf eine auf das Ei – und wir waren da. Hätte eine andere der Millionen von Spermien das Ei getroffen – ein anderer Mensch wäre geworden.

Sind wir ein Zufall, eine Laune des Schicksals? Das würden wir uns nicht gefallen lassen. Ganz besonders, einmalig, einzigartig sind wir. Vom ersten Tag an schreit das Neugeborene, als wäre es das einzige auf Welt, und fordert ungeteilte Aufmerksamkeit, volle Hingabe, beständige Präsenz. Es provoziert geradezu zur liebevollen Zuwendung, gibt uns Sinn und Aufgabe, Ziel und einen Lebensrahmen. Das ist gut für das neu in diese Welt hineingeborene Wesen. Das ist gut für uns alle, die wir schon da sind. Denn das würden wir nicht lange aushalten: als bloßer Zufall, als Laune des Schicksals durch die Zeit zu gehen.

Was das Neugeborene so lautstark und unabweisbar einfordert, wird zur tragenden Kraft unseres Lebens und zur Lebensgrundlage, die, wenn sie uns abhandenkommt, unser Leben ins Wanken bringt.

Die Selbstverständlichkeit, die es ja nicht gibt, die Selbstverständlichkeit unseres Lebens ist, wenn sie Teil unseres Lebensgefühls ist, ein großes Geschenk, ein Geschenk auf Zeit. Sie ist uns als natürliche Triebkraft eingeflößt. Sie wird in uns erhalten durch liebevolle menschliche Zuwendung, sie kann durch die Anforderungen des Tages gestärkt werden und sie kann immer wieder neu aus einem geistigen Konzept in unser Hirn und Herz und unsere ganze Physis fließen. Die Kraft, das Leben wie selbstverständlich zu leben – im Wissen, dass es nicht selbstverständlich ist, kann aus einer geistigen, auch einer geistlichen Quelle fließen.

Die gefühlte Selbstverständlichkeit des Lebens bleibt aber unverfügbar. Kommt sie uns abhanden, in Zeiten der Krise, dann kann es unendlich mühselig sein, sie sich neu zu erwerben.

Für den Heranwachsenden z. B. kann das Leben zu einer Frage werden. Vielleicht hat das jeder von uns einmal erlebt – in jungen Jahren, als wir uns unserer selbst bewusst wurden, als wir nicht wussten, was wir denken und wie wir uns verhalten sollten, als wir uns unsere Fragen nicht beantworten konnten und wir Antworten nicht zu akzeptieren in der Lage waren und wir auch gute Ratschläge und liebevolle Zuwendung nicht anzunehmen vermochten. Durch eine solche Phase heil hindurch zu gelangen, gelingt nicht immer. Die Tiefe des Lebens, die sich in unseren Fragen auftut, kann zum Abgrund werden. Und in der endlosen Weite des Lebens können wir verloren gehen.

Glücklich können wir uns schätzen, wenn uns ein liebevolles „Du“ eine innere Mitte schenkt, wenn die Weite zur Nähe wird und sich über die Tiefe ein fester Boden spannt.

Es ist schön, glücklich zu sein. Es ist schön zu lieben und geliebt zu werden. Aber alles ist vergänglich. Was wir haben, werden wir wieder hergeben müssen. Was wir sind, sind wir bald nicht mehr. Was wir können, das können wir nur für eine begrenzte Zeit. Je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu verlieren. Je größer das Glück, desto heftiger der Schmerz, wenn wir loslassen müssen. Je größer die Liebe, desto größer das Leiden.

Trotzdem bleibt das Glück Glück, die Liebe bleibt Liebe, das Leben bleibt Leben. Dass wir sterben müssen, macht das Leben nicht zunichte. Der Tod vermag die Größe des Lebens nicht zu mindern. Das Glück verliert seine Schönheit nicht dadurch, dass es begrenzt ist. Und auch der Liebe vermag die Vergänglichkeit ihren Glanz nicht zu nehmen.

In jedem Augenblick ist die Ewigkeit enthalten. Jeder Moment des Glücks enthält das ganze Glück. In der Liebe sind Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft vereint.

Wir messen das Leben in Jahren. Unser Körper drängt auf die Erfüllung seiner Lebensjahre und auch unser Geist will das Soll erfüllt sehen. Jede erhebliche Abweichung vermehrt die ohnehin schon großen Schmerzen über das unausweichliche Ende des Lebens. Es müssen nicht hundert Jahre sein. Aber eine hohe Zahl von Jahrzehnten hätten wir doch gern für uns und unsere Lieben – bei guter Gesundheit.

Es kostet viel geistige Kraft und Anstrengung des Herzens und Zuspruch von außen, sich mit weniger zufrieden zu geben. Wir sind aufeinander angewiesen und auf gute Worte der Tradition, der Generationen vor uns. Jeder Tag zählt. Jeder Tag ist ein Geschenk – mehr, als wir erwarten durften. Erst wenn wir ganz bescheiden werden und schon im Vorwege alles loslassen, werden wir das, was wir bereits haben, täglich neu als Geschenk entgegennehmen. Wenn wir es dann eines Tages nicht mehr haben, werden wir danken für alles, was uns gegeben war.

Das Leben ist mehr als die Anzahl der Jahre. Es ist etwas nicht Messbares. Es ist etwas unfasslich Geheimnisvolles. Wir erleben das Leben als Freud und Leid. Beides anzunehmen, das Schöne und das Schwere, und die Fragen und Rätsel auszuhalten, dazu will uns einer helfen, der in Gestalt eines Menschen aus dem Reich jenseits unseres Verstehens zu uns gesandt worden ist. Die biblischen Texte beschreiben ihn als Heiland, weil er Menschen wirklich heilen konnte an Leib und Seele.

Wir brauchen jemanden, der uns an die Hand nimmt, der uns in den Arm nimmt, der uns zuhört, der uns tröstet, uns die Tränen trocknet und uns weiterhilft. Die ganze Welt braucht so jemanden, und für die ganze Welt ist er gekommen.

Dieses Leben von ganzem Herzen anzunehmen und es – wann immer es sein mag – in Trauer zwar, doch auch mit Dankbarkeit wieder herzugeben –, dazu will er uns helfen.

Das Leben ist schön, auch wenn es manchmal unendlich schwer sein kann. Diese Schönheit kann uns nichts und niemand rauben. Wir legen Blumen aufs Grab als Zeichen des blühenden Lebens, als Zeichen der Liebe, die stärker ist als der Tod. Aus der Liebe Gottes sind wir geboren. In die liebevoll geöffneten Arme Gottes kehren wir am Ende zurück.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. November 2004)

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