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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres (12.11.23)


„Unverschämt hoffen“

12. November 1995

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 18,1-8


Es geht um das Thema „Hoffnung“. Jesus erzählt ein Gleichnis, mit dem er seine Jünger zur Hoffnung ermutigen will. Hoffnung wird für denjenigen zu einem Thema, der in der Krise steckt, der eine Ohnmacht spürt gegenüber dem Lauf der Dinge. Wenn wir selbst nicht mehr wissen, wie wir rauskommen können aus einem Problem, dann stellt sich für uns die Frage: Geben wir auf, schmeißen wir alles hin, heulen wir uns die Hucke voll vor Verzweiflung, treten wir vor Wut gegen die Wand - oder bleiben wir ruhig und gelassen, rechnen wir noch mit dem Unmöglichen, vertrauen wir darauf, dass sich doch noch fügen wird, was wir selbst nicht mehr hinbekommen? 

Als Lukas sein Evangelium schrieb, befanden sich die Anhänger Jesu in einer verzweifelten Lage. Als Anhänger jenes Jesus von Nazareth, den sie als den Christus verehrten, waren sie ein kleines Häuflein in einer feindseligen Umgebung. Wie sollte es weitergehen? Wegen ihres Glaubens waren sie gefährdet. Ob sie als Gruppe, als Christen überleben würden, war eine offene Frage.

Lukas also überliefert uns ein Hoffnung machendes Gleichnis Jesu, eine kleine Geschichte, die wir übersetzen müssen in unsere je eigene Lebenssituation, damit sie uns etwas Persönliches zu sagen hat. 

Diese kleine Geschichte handelt von zwei Personen, von einer Witwe und einem Richter. Die Witwe ist hier diejenige, die sich in der Situation der Ohnmacht befindet. Sie erwartet von dem Richter Hilfe in ihrem Rechtsstreit. Nur der Richter kann ihr helfen, aber der will nicht. Aus irgendwelchen Gründen will sich der Richter nicht mit dem Fall der Witwe beschäftigen. Er wird hier als ungerechter Richter bezeichnet. Das heißt, die Witwe hätte wohl ein Recht auf seine Unterstützung, aber er ist nicht bereit.

Was soll die Witwe machen? Sie gibt nicht auf. Sie wiederholt einfach ihre Bitte an den Richter immer wieder und wieder, bis dieser seinen Widerstand entnervt aufgibt und sich sagt: Diese Frau muss ich endlich loswerden - soll sie doch ihr Recht bekommen, bevor sie womöglich am Ende ausfällig und mir gegenüber gar noch gewalttätig wird.

Die Frau hat den Richter mit ihren ständigen Bitten lange genug genervt, bis sie schließlich ihren Willen bekommen hat. 

Nun will Jesus seinen Jüngern mit diesem Gleichnis sagen: Wenn sich schon der ungerechte Richter durch die unablässigen Bitten der Frau schließlich hat weichklopfen lassen, wird sich dann nicht Gott um so eher durch eure Bitten erweichen lassen? Lasst nicht nach im Gebet, gebt eure Hoffnung nicht auf. Ihr werdet sehen, am Ende könnt ihr ans Ziel gelangen, wie auch die Witwe an ihr Ziel gelangt ist. Betet, betet, betet.

Ich muss sagen, es fällt mir nicht ganz leicht, diese Empfehlung so weiterzugeben, wie sie hier steht, weil sie doch etwas missverständlich ist. Es könnte einer das Gebet als eine Möglichkeit missverstehen, das, was wir selbst nicht mehr schaffen können, mit anderen Mitteln doch noch zu bewirken. Oder umgekehrt, wenn einer nicht zum Ziel gekommen ist, könnte er denken, es müsse wohl daran gelegen haben, dass er nicht genug gebetet habe. Das wäre ganz übel. Das wäre dann bei allem Schmerz noch ein Schlag obendrauf. 

Wir müssen uns davor hüten, das Gleichnis misszuverstehen. Es will Hoffnung machen, und das Gebet spielt dabei eine Rolle, auch das regelmäßig wiederholte Gebet. Das ist wahr. Nur dürfen wir das Gebet nicht als Mittel zum Zweck missverstehen. Ich möchte das Gebet einmal so definieren: Das Gebet ist Ausdruck unserer Bereitschaft, unsere Sache in die Hand Gottes zu legen und zu sagen: Nun bist du dran, richte du, Gott, die Dinge so, wie es dir gefällt, und wir werden es dann so zu nehmen versuchen, wie es kommt. Was ich sagen will, ist dies: Das Gebet bringt recht verstanden zweierlei zum Ausdruck: zum einen, dass wir mit der Möglichkeit rechnen, es könnte sich doch noch das ereignen, was wir selbst mit unseren Mitteln nicht mehr bewirken können. Zum anderen, dass wir bereit sind, auch die Nichterfüllung zu akzeptieren, dass wir also bereit sind, den unabhängigen Willen Gottes zu respektieren. 

Wir wissen nicht, wie die Witwe reagiert hätte, wenn ihre permanenten Bitten am Ende doch nichts gebracht hätten. Wäre sie dann vielleicht wirklich gewalttätig geworden? Hätte sie verbittert aufgegeben, hätte sie ihren Glauben an Recht und Gerechtigkeit überhaupt verloren? Hätte sie den Richter und alle Richter verflucht und zum Teufel gewünscht? 

Oder hätte sie auch bei einem Misserfolg ihrer Bemühungen noch eine Möglichkeit gefunden, sich in einem positiven Sinne damit zurechtzufinden? Z. B. vielleicht in der Weise, dass sie sich am Ende gesagt hätte: „Das soll mir eine Lehre sein! So ungerecht wie dieser Richter will ich nicht sein. Wer sich an mich mit einer Bitte wendet, dem will ich zuhören, und soweit es in meiner Macht steht will ich ihm helfen.“ Dass also ihr eigenes Leid ihr eine Herausforderung wäre, anderen in ihrem Leid beizustehen.

Dies wäre übrigens eine sehr konstruktive Art, mit Negativerfahrungen umzugehen. Viele Selbsthilfegruppen werden von diesem Impuls getragen. Das, was Menschen jeweils zu erleiden gehabt haben oder haben, stürzt sie 

nicht in Resignation, sondern führt sie dazu, sich mit anderen zusammenzutun, und nicht nur für sich selbst Hilfe zu suchen, sondern gemeinsam anderen in ihrer Not Hilfestellung anzubieten und sich gegenseitig Mut und Hoffnung zu machen. 

Manchen modernen Zeitgenossen passt die Sache mit dem Gebet grundsätzlich nicht, weil sie die Vorstellung nicht akzeptieren können oder wollen, dass sich manche Dinge eben nicht nach dem eigenen Willen steuern lassen. Was den Rechtsstreit der Witwe anbetrifft, finden sie es vielleicht ganz in Ordnung, dass die Witwe es mit der Nervstrategie versucht hat. Ansonsten hätte sie es vielleicht noch mit anderen Druckmitteln versuchen können. Heutzutage würde man zunächst noch alle weiteren Rechtsmittel auszuschöpfen versuchen.

Dennoch, auch der moderne Zeitgenosse wird einsehen, einsehen müssen, dass es doch genug Situationen der Ohnmacht gibt. Vieles bekommen wir nicht in unseren Griff. Auch ein Rechtsstreit kann für uns ungünstig ausgehen. Wir können uns ungerecht behandelt fühlen und können nichts dagegen unternehmen. 

Überhaupt bleiben wir vor der Erfahrung ungerechter Behandlung nicht verschont. Wir müssen da manches einstecken. Es bleibt uns oftmals nichts anderes übrig, als uns abzufinden. Das gilt für alle Lebensbereiche, und das gilt für viele Dinge des Lebens ganz grundsätzlich. 

Dass manche Kinder in Hungergebieten geboren werden, andere in Regionen des Wohlstands - allein das mag man schon als eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit betrachten. Bei allem menschlichen Bemühen werden wir an diesem Tatbestand bestenfalls geringfügig etwas verändern können. Dass Kinder nur noch in Lebenssituationen hineingeboren werden, in denen sie ausreichend ernährt werden können, das ist einer fernen Zukunft vorbehalten, über die keiner von uns verfügen kann. 

In der theologischen Fachsprache sprechen wir von den eschatologischen Dingen - damit sind die Dinge gemeint, die sich erst in einer für uns unabsehbaren Zeit regeln werden, sozusagen am Ende der Zeit, wenn Gott selbst seine Schöpfung neu ordnen und nach seinem Willen gestalten wird. Unsere Bibel handelt in vielen Texten von dieser Hoffnung auf die Endzeit: dass also doch einmal die Zeit kommen wird, in der es die vollkommene Gerechtigkeit geben wird, in der es keine Not, keine Tränen geben und das Glück vollkommen sein wird. 

Im neuen Testament lesen wir sogar von der Erwartung der Menschen, dass diese Endzeit nahe bevorstünde. Viele meinten, in dem Auftreten Jesu schon ein Zeichen für den Anbruch der Endzeit zu erkennen. 

Auch in unserem Text ist etwas von dieser Naherwartung zu spüren. Wir haben es vorhin gehört: „Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen?“ Und dann heißt es ganz deutlich: „Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht schaffen in Kürze.“

Wir müssen heute feststellen: Fast 2000 Jahre sind seitdem vergangen, und die vollkommene Gerechtigkeit lässt immer noch sehr auf sich warten. 

Es wäre aber schrecklich, wenn wir deshalb nun in Hoffnungslosigkeit und Resignation verfallen würden. Es ist wichtig, geradezu lebenswichtig, dass wir uns unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit bewahren, dass wir unsere Hoffnung nicht aufgeben, und dass wir auch das uns Mögliche auf dem Weg dorthin tun. Die Vision einer gerechten Welt, einer Welt des Friedens und des Wohlergehens dürfen wir nicht aufgeben. Sie muss unserer Leitbild bleiben in unserem ganzen Ausblick auf das Leben, unser Leitbild für unser ganzes Verhalten. 

„Ein Volk ohne Vision geht zugrunde“ hat eine Theologin mal ihr Buch betitelt. Sie hat Recht. Und das gilt nicht nur für ein Volk, für eine Bevölkerung insgesamt, das gilt für jeden Einzelnen. Wir leben von Visionen, von Erwartungen, von Hoffnungen, die über das hinausgehen, was im Augenblick Fakt ist, was im Augenblick unsere Erfahrung ist. 

Im Grunde muss in uns immer zweierlei gleichzeitig vorhanden sein: Die große Vision, die großen Ideen, die große Hoffnung zum einen, und die Bereitschaft, die Gegenwart mit ihren Unvollkommenheiten und Ungerechtigkeiten zu akzeptieren, zum anderen - so wie ja übrigens Gott, unser Schöpfer, viel von uns erwartet und uns doch so akzeptiert, wie wir sind. Diese Spannung zwischen hohen Erwartungen und großer Bescheidenheit ist ein wesentliches Merkmal des Christseins. Sich bescheiden mit dem, was wir haben und sind, und doch nicht nachlassen, sich auszustrecken nach dem, was jenseits unserer Möglichkeiten liegt, was wir nur erreichen können mit unserer Sehnsucht, mit unserer Hoffnung - das macht wesentlich unser Christsein aus.  

Diese beiden Elemente sind auch das Merkmal des Gebets. Im Gebet bringen wir vor Gott, was wir selbst nicht zu bewirken vermögen. Und wir sagen zugleich: Lass es uns genug sein, Gott, an deiner Gnade; lass uns dankbar annehmen, was du uns schenkst; und hilf uns tragen, was du uns auferlegst. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 2. November 1995)

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