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19. Sonntag nach Trinitatis (15.10.23)


 Jesus heilt an Leib und Seele

10. Oktober 1999

19. Sonntag nach Trinitatis

Markus 1,32-39


Der Predigttext und auch die bei­den an­de­ren, die Texte der Epi­stel und des Evan­ge­li­ums, ha­ben mit Kran­ken­hei­lun­gen zu tun. Da­für ist Je­sus ja auch be­kannt, dass er Men­schen ge­sund ge­macht hat. „Haupt­sa­che ge­sund“, hö­ren wir im­mer wie­der - und wir sa­gen es viel­leicht selbst auch im­mer mal wie­der. In­so­fern ha­ben wir es hier mit einem be­deut­sa­men The­ma zu tun.

Da­mals muss die­ses The­ma ei­nen noch hö­he­ren Stel­len­wert ge­habt ha­ben. Denn es gab ja die me­di­zi­ni­sche Wis­sen­schaft in unse­­rem Sin­ne noch gar nicht. Wenn da­mals je­mand, sa­gen wir, Zahn­schmer­zen ge­habt hat, wer konn­te ihm dann hel­fen? Ich ver­mu­te, kei­ner so rich­tig. Der ar­me Mensch muss­te ein­fach lei­den.

Von Zahn­schmer­zen ha­be ich in der Bi­bel al­ler­dings nichts ge­le­sen, aber viel­leicht ha­be ich da was über­se­hen. An­son­sten wer­den je­de Men­ge an­de­rer Krank­hei­ten er­wähnt: dass je­mand blind ist oder taub oder stumm oder ge­lähmt oder aus­sät­zig oder dass je­mand Epi­lep­ti­ker ist. 

Von Je­sus wer­den Wun­der­hei­lun­gen be­rich­tet. Das ist ein Grund, wa­rum man­che Men­schen die Bi­bel nicht ernst neh­men und sa­gen: Das stimmt ja eh nicht, was da drinsteht.

Aber ist es nicht z. B. auch ein Wun­der, wenn wir mit ei­ner klei­nen wei­ßen Ta­blet­te un­se­re Kopf­schmer­zen be­sei­ti­gen kön­nen? Wir ha­ben uns dar­an ge­wöhnt und das Stau­nen ver­lernt. Wir fin­den es nor­mal, dass die Me­di­zin Lö­sun­gen be­reit hält, und sind eher er­staunt oder gar ver­är­gert, wenn das mal nicht so ist.

Da­mals konn­te ein Kran­ker nicht da­von ausg­e­hen, dass er über­haupt je­man­den fin­den wür­de, der ihn wie­der wür­de ge­sund ma­chen kön­nen. Für man­che Krank­hei­ten gab es schon die ei­ne oder an­de­re Me­tho­de, da­mit um­zu­ge­hen und ei­ne Hei­lung zu er­mög­lich. Aber wenn je­mand wirk­lich wie­der ge­sund wur­de, dann er­leb­ten die Men­schen das da­mals vor al­lem als ein Wun­der.

Me­di­zi­ner in un­se­rem Sin­ne gab es noch nicht so recht. Die Prie­ster stan­den an ih­rer Stel­le. Und das zeigt schon, dass bei Krank­heit und Hei­lung we­ni­ger mit mensch­li­cher Kunst als mit gött­li­chem Ein­grei­fen ge­rech­net wur­de.

Viel­leicht liegt schon an die­sem Punkt ein Grund da­für vor, dass Je­sus gar nicht woll­te, dass sei­ne Hei­lungs­tä­tig­keit all­zu be­kannt wür­de. Er hat oft ge­sagt, wenn er mal je­man­den ge­sund ge­macht hat: „Er­zähl’s nicht wei­ter!“ Und hat sich dann selbst schnell da­vonge­macht. Viel­leicht hat er Sor­ge ge­habt, er könn­te es mit den Prie­stern zu tun be­kom­men - oder mit je­nen, die sich für die Ord­nung in der Ge­sell­schaft ver­ant­wort­lich fühl­ten und ihn viel­leicht we­gen Amts­an­ma­ßung am lieb­sten vor Ge­richt ge­stellt hät­ten.

Es kommt ja noch ei­nes da­zu - und das ist auch ein ganz wich­ti­ger Punkt: Krank­heit galt als Stra­fe, als Stra­fe Got­tes für ir­gendein per­sön­li­ches Ver­ge­hen. In uns steckt die­se Vor­stel­lung auch im­mer noch ein we­nig, was wir mer­ken, wenn ei­ner mit sei­ner Krank­heit ha­dert und sagt: „Wo­mit ha­be ich das ver­dient!?“ Die­se Vor­stel­lung war da­mals ei­ne weit ver­brei­te­te, viel­leicht so­gar die herr­schen­de Leh­re. Und das be­deu­te­te: Wer krank war, hat­te ir­gend­wie selbst Schuld. Der Kran­ke war al­so nicht nur mit sei­ner Krank­heit „ge­straft". Er war nun auch öf­fent­lich als ei­ner er­kenn­bar, der ir­gend­ei­ne Schuld auf sich ge­la­den hat­te.

Das ist ei­gentl­ich ein schreck­li­ches Kon­zept, ei­ne furcht­ba­re Ein­stel­lung zur Krank­heit. Denn sie kann da­zu füh­ren, dass die an­de­ren beim An­blick ei­nes Kran­ken sa­gen: „Der hat selbst Schuld, nun soll er doch selbst se­hen, wie er mit sei­ner Krank­heit zu­rechtkommt!“ Es steckt et­was ziem­lich Un­barm­her­zi­ges in die­sem Er­klä­rungs­mu­ster. Krank zu sein, war von da­her in dop­pel­ter Hin­sicht schlimm.

Die­ses Er­klä­rungs­mu­ster ist übri­gens im­mer um­strit­ten ge­we­sen. Im alt­te­sta­ment­lichen Buch Hiob wird es aus­führ­lich in Zwei­fel ge­zo­gen. Je­sus hat die­ses Kon­zept ganz ein­deu­tig ab­ge­lehnt und hat sich für sei­ne Ab­schaf­fung ein­ge­setzt.

Als der Ge­lähm­te zu ihm ge­bracht wur­de zum Beispiel, sag­te er zu dem Mann als er­stes: „Dir sind dei­ne Sün­den ver­ge­ben.“ Und dann sag­te er zu ihm: „Steh auf und geh!“

Hier se­hen wir: Die Krank­heit hat zwei Sei­ten. Die ei­ne ist das kör­per­li­che Pro­blem, die Läh­mung. Aber die­ses kör­per­li­che Pro­blem ist ja nach dem da­ma­li­gen Ver­ständ­nis ver­ur­sacht durch ei­ne Schuld des Kran­ken. Al­so muss zu­nächst ein­mal die Schuld die­ses Menschen aus der Welt ge­schafft wer­den. Das macht Je­sus durch die Ver­ge­bung. Er ver­gibt die Schuld. Da­mit ist die Ur­sa­che der Krank­heit be­sei­tigt. Folg­lich ist der zwei­te Teil der Übung leicht: Je­sus sagt zu dem Mann: „Steh auf!“ Und der steht auf und geht nach Haus.

Man könn­te jetzt den­ken: Wenn Je­sus so ver­fährt, dann ak­zep­tiert er ja doch die Vor­stel­lung von der Krank­heit als Stra­fe Got­tes. Da­zu kann ich sa­gen: Nein, das tut er nicht. Er macht, sa­ge ich mal et­was sa­lopp, das Spiel zwar mit. Aber da­mit führt er das Kon­zept ad ab­sur­dum. Er löst vor den Au­gen der Men­schen das Pro­blem Krank­heit in­ner­halb der Vor­stel­lun­gen der Zu­schau­er. Und die mer­ken schon, dass hier et­was nicht stimmt, dass hier et­was Un­er­hör­tes pas­siert.

Die Zu­schau­er er­regt zu­nächst gar nicht, dass der Kran­ke wie­der ge­hen kann. Was sie er­regt ist dies: dass Je­sus sich er­dreistet, dem Kran­ken die Sün­den zu ver­ge­ben, denn das stün­de nur Gott zu - oder in sei­ner Ver­tre­tung den Prie­stern - und nicht ei­nem da­her­ge­lau­fe­nen Wan­der­pre­di­ger.

Je­sus muss dann al­so wie­der zu­sehen, dass er sich da­vonmacht, da­mit ihn die Obe­ren der Ge­sell­schaft nicht we­gen Amts­an­ma­ßung fest­neh­men las­sen kön­nen.

Je­sus steht für Ver­ge­bung. Er hat uns klar ge­macht: Der Mensch, je­der Mensch, lebt von der Ver­ge­bung. Und die­se ist uns von An­fang an zu­ge­sagt. Das ist die fro­he Bot­schaft, das Evan­ge­li­um.

In der Tau­fe, sym­bo­lisch durch das Tauf­was­ser, wird uns die Ver­ge­bung Got­tes, die ja schon im Vor­we­ge da ist, zei­chen­haft zu­teil. Da­mit wird das Kon­zept von der Krank­heit als Stra­fe Got­tes hin­fäl­lig. Der Kran­ke ist von die­sem Ma­kel künf­tig be­freit, dass er nun die Stra­fe Got­tes sicht­bar an sei­nem Kör­per trü­ge. Und den Zu­schau­ern ist das Ar­gu­ment ge­nom­men: „Der hat selbst Schuld. Nun soll er al­lein zu­se­hen, wie er mit sei­ner Kran­kheit zu­rechtkommt.“

Je­sus legt uns ein neu­es Ver­hält­nis zur Krank­heit na­he: Wo im­mer wir ei­nen kran­ken Men­schen vor uns ha­ben, soll uns die­ser ei­ne Her­aus­for­de­rung zur lie­be­vol­len Zu­wen­dung sein. Das Lei­den ist ei­ne Her­aus­for­de­rung zu lie­bevoller Zu­wen­dung. In die­sem Sinne hat sich im Lau­fe der Ge­schich­te dann auch ein um­fang­rei­ches di­a­ko­ni­sches En­ga­ge­ment der Kir­che ent­wickelt.

Und noch eins ist zu sa­gen. Wir le­sen ja auch da­von, dass Je­sus bö­se Gei­ster aus­ge­trie­ben hat. Das hört sich für un­se­re Oh­ren et­was son­der­bar an. Und wie­de­rum sa­gen ei­ni­ge: „Ty­pisch Bi­bel. Noch ein Grund, sie nicht ernst zu neh­men.“

Aber die­se Dä­mo­nen­aus­trei­bung ver­deut­licht ei­ne ganz wun­der­ba­re Ein­stel­lung zum Men­schen und führt zu ei­ner ganz wich­ti­gen Leit­li­nie im Um­gang mit den Men­schen.

Es geht wie­der um das The­ma Schuld. Wie ge­hen wir mit je­man­dem um, der sich et­was hat zu­schul­den kom­men las­sen?

Die bru­tal­ste Me­tho­de ist die, die wir aus der an­son­sten sehr be­lieb­ten Ge­schich­te von der Ar­che No­ah ken­nen: Der mit Schuld be­la­de­ne Mensch wird ein­fach be­sei­tigt, in dem Fall er­tränkt. Mit neu­en Men­schen wird noch ein­mal der Ver­such ge­macht, ei­ne sün­den­freie Mensch­heit zu schaf­fen. Das hat aber nicht ge­klappt. Das ist auch den Men­schen der bi­bli­schen Zeit schnell klar ge­wor­den. Die Sün­de, das schuld­haf­te Ver­hal­ten des Men­schen, kann nicht be­sei­tigt wer­den, in­dem der schuld­haf­te Mensch be­sei­tigt wird. Dann wä­re ein­fach al­les vor­bei. Ei­ne an­de­re Lö­sung muss­te her.

Die Lö­sung ist eben die­se: Wir müs­sen un­ter­schei­den zwi­schen dem Men­schen und sei­ner Schuld. Der Mensch muss von sei­ner Schuld be­freit wer­den, bzw. von dem, was ihn da­zu treibt, schul­dig zu wer­den.

Wir spü­ren es ja oft­mals ge­rade­zu phy­sisch, dass wir nicht nur ei­ner sind, son­dern min­des­tens zwei: dass da in uns ei­ne Stim­me ist, die sagt: „Tu’s doch!“, wäh­rend die an­de­re Stim­me sagt: „Tu’s lie­ber nicht!“

In uns sind Kräf­te zu­gan­ge, die uns klarma­chen: Wir sind hin- und her­ge­ris­sen. Manch­mal möch­ten wir di­rekt sa­gen: „In uns steckt noch ein klei­ner Teu­fel.“ Und von dem wür­den wir gern frei wer­den, da­mit wir end­lich so lieb und nett und freund­lich und hilfs­be­reit und ge­dul­dig sein kön­nen, wie wir ja ei­gent­lich sein wol­len.

So sieht Je­sus das auch. Er be­trach­tet den Men­schen als ein im Grun­de lie­bens­wer­tes Ge­schöpf, als ein ge­lieb­tes Kind Got­tes mit ganz wun­der­ba­ren Qua­li­tä­ten. Aber im Men­schen steckt eben auch noch das an­de­re drin, der klei­ne „Teu­fel“, und der ge­hört aus­ge­trie­ben. Da­von hat ge­ra­de der Evan­ge­list Mar­kus viel ge­schrie­ben. Er­zie­hung, fin­de ich, ist - ver­zei­hen Sie den Ver­gleich - zu ei­nem gu­ten Teil auch so ei­ne Art Dä­mo­nen­aus­trei­bung.

Krank­heit und Schuld sind zwei gro­ße The­men un­se­res Le­bens. Je­sus hat sich dem Men­schen in bei­der Hin­sicht zu­ge­wandt und hat den Men­schen ge­heilt an Leib und See­le.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 10. Oktober 1999)

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