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21.-27.11.2021


Den Tod vorausdenken 

23. November 1997

Totensonntag / Ewigkeitssonntag

Psalm 90,12 


Den Tod rechtzeitig bedenken – rechtzeitig daran denken und darüber nachdenken, dass wir sterben müssen. Manche stellen sich dieser Aufgabe, um alle Dinge in Ordnung zu haben, bevor sie gehen. Sie entlasten so schon im Vorwege ihre Angehörigen. Alle Papiere sind geordnet, die Wohnung ist aufgeräumt, der Nachlass ist geregelt. Derjenige, der so seinem Tod entgegengeht, hat sich auf diese Weise auch selbst innerlich aufgeräumt.

Wir alle gehen auf den Tod zu. Wer geboren wird, wird sterben müssen. Das ist unausweichlich. Aber nicht nur das, auch das andere kann uns treffen – und manchen unter uns hat es getroffen: Der Tod kann uns einen lieben Menschen nehmen. 

Der Tod ist Teil unseres Lebens. Da können wir nicht davonlaufen. Da ist kein Schutz. Wir könnten die Augen verschließen.

Aber wäre es nicht sinnvoll – und könnte es unserem Leben nicht dienen, wenn wir rechtzeitig den Tod bedächten? 

„Gott. lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Die Angst vor unserem eigenen Ende werden wir uns vielleicht nicht wegdenken können. Und den Schmerz des Verlustes werden wir nicht wegreden können. 

Aber vielleicht mag es uns doch eine gewisse Ruhe geben – und unserem Leben einen tieferen Sinn –, wenn wir über den Tod nachdenken – oder besser gesagt: dem Tod „vorausdenken“.

Z. B. den Abschied schon vorwegnehmen; wir wissen ja, dass er kommen wird. 

Am Abend eines jeden Tages mit Dankbarkeit Abschied nehmen – und den Morgen begrüßen als das wunderbare Geschenk eines neuen Tags. 

Von unseren Lieben mit Dankbarkeit Abschied nehmen, wenn sie sich zur Ruhe legen, wenn sie aus dem Haus gehen, wenn sie auf Reisen gehen, und das Wiedersehen als das Geschenk einer neuen Begegnung feiern: das gemeinsame Frühstück am nächsten Morgen, das Wiedersehen am Arbeitsplatz, die Begrüßung am Bahnhof, das Abendessen, wenn wir wieder beisammen sind.

Dass wir morgens die Augen wieder aufschlagen, ist ja gar nicht selbstverständlich, so wenig selbstverständlich wie, dass wir überhaupt das Licht des Lebens erblickt haben. Und dass wir die Menschen wiedersehen, die uns lieb und wert sind, ist auch ganz und gar nicht selbstverständlich. 

Wir können nichts festhalten, wir können nichts sicherstellen. Was wir tun können, ist: immer wieder danken für all das, was wir bis jetzt gehabt haben, und immer wieder neu das Fest der Freude feiern – ganz klein an jedem Tag – und auch mal größer zu besonderen Anlässen. Jeder neue Tag, jede neue Begegnung ist ein kleines Fest der Auferstehung. 

Wenn wir es recht bedenken, können wir das Sterben innerlich vorwegnehmen und schon jetzt ein Leben nach dem Tode führen. 

Rechtzeitig loslassen – und beständig loslassen, damit wir immer wieder neu empfangen können. 

Wir haben uns das Leben nicht selbst gegeben. Wir haben es geschenkt bekommen. Wenn es uns gefällt, dann hätten wir gern mehr davon, und wir wollen es nicht wieder hergeben. Aber wir haben keinen Anspruch auf das Leben – und dass es so und so verlaufen möge. Lassen Sie es uns einfach in Bescheidenheit ergreifen, wie es uns gegeben ist, und alles, was hinzukommt, als neue wunderbare, unerwartete Gabe mit Dankbarkeit entgegennehmen. 

Wir haben uns auch die lieben Menschen um uns herum nicht selbst gegeben. Sie sind uns über den Weg geschickt, sie sind uns anvertraut. Wir haben keinen Anspruch auf sie – und dass unser gemeinsames Glück ewig sei. Lassen Sie uns einfach ganz bescheiden danken, dass sie da sind, und nicht klagen, wenn das uns geschenkte Glück ein Ende hat. 

Das heißt: Klagen sollen wir wohl dürfen – ja, das dürfen wir, das sollen wir; denn auch die Klage kann der Ausdruck unseres Dankes sein. Auch in der Klage drücken wir unsere Wertschätzung des Lebens aus: 

„Gott, warum hast du uns die wunderbare Gabe des Lebens genommen? Warum hast du uns den lieben Menschen genommen? Warum hast du unserem Glück ein Ende gesetzt?“

Wenn wir es nur nicht bei der Klage belassen! 

Lassen Sie uns unser Leben bewusst führen. Solange unser Herz schlägt, solange wir uns gegenseitig haben, lassen Sie uns jede Stunde unseres Daseins und jeden Augenblick unseres Miteinanders wertschätzen. 

Das rechtzeitige Vorausdenken über den Tod mag uns die Augen öffnen für das Leben. Es mag uns helfen, die Großartigkeit und Schönheit der Schöpfung wahrzunehmen. Es mag uns helfen, die Prioritäten unseres Lebens neu zu setzen.

Den Tod vorausdenken: Das ist, wie wenn einem Blinden die Augen geöffnet werden, oder einem Tauben die Ohren. Es eröffnet sich eine neue Welt. Die Welt eröffnet sich uns neu. Und es kann dann auch so sein, wie wenn einem Stummen die Zunge gelöst ist: zum Dank für das Wunder des Lebens.

Und wenn uns dann der Tod tatsächlich und hart getroffen hat? Wenn uns ein lieber Mensch genommen ist? Dann ist nicht alles zunichtegemacht. Dann ist nicht alles infrage gestellt. Dann ist nicht alles verloren. 

Der Tod in seiner Wirklichkeit trifft uns hart, das ist wohl wahr, und fügt uns Wunden zu. Wir leiden heftige Schmerzen, und unsere Tränen werden wir nicht zurückhalten können.  

Aber wir werden uns dann besinnen auf das Geheimnis des Lebens: dass unser Leben mehr ist als die Tage zwischen Geburt und Tod, dass unser Leben mehr ist als das Leibliche, dass unser Leben mehr ist als das, was wir denken können. 

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wir sind eingebettet in das Geheimnis der Liebe Gottes. Seinem Schoß ist alles Leben entsprungen. In seine Hände geben wir alles zurück, in ihm bleiben wir untereinander eins.

In unserem Herzen tragen wir ein Stück Himmel, und in diesem Himmel bleiben uns alle gegenwärtig, denen wir in Liebe verbunden sind. Vielleicht gehen wir an bestimmte Orte, um uns zu erinnern. Es mag sein, dass sich unser Herz öffnet, dass wir einander in neuer Weise begegnen und dass wir weiterhin miteinander sprechen.  

Der Tod kann unser Leben nicht zunichtemachen. Das Leben ist stärker als der Tod. Die Liebe ist stärker als der Tod.

„Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir leben können.“

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 23. November 1997)

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