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Misericordias Domini (14.4.24)


Wir sind Hirten und Schafe zugleich

13. April 1989

Johannes 10,11.27.28


Wir sind Hirten und Schafe zugleich. Hirten zu sein, dazu fordert uns der Petrusbrief im 5. Kapitel auf: „Weidet die Herde Gottes.“ Dies ist eine Aufforderung an alle, die sich verantwortlich wissen, das Evangelium in Wort und Tat weiterzugeben. Schafe sind wir, sofern Christus unser aller guter Hirte ist, wie das Johannesevangelium sagt.

Wir befinden uns in einer Doppelrolle: Wir werden geführt, und  wir haben zu führen. Wir werden behütet, und wir sind zum Hüten beauftragt. Wir haben ein Vorbild, und wir sollen Vorbild sein. Wir sind Empfangende und Gebende zugleich, Lernende und Lehrende, Geliebte und Liebende. Wir dürfen schwach sein, und wir sollen stark sein.

Diese Doppelrolle beschreibt den Konflikt zweier Persönlichkeiten in uns. Wir sind nicht dieselben, wenn wir empfangen und wenn wir geben. Als die Empfangenden können wir unersättlich aufnahmebereit sein, als die Gebenden dagegen überaus zurückhaltend. Wenn wir andere für uns verantwortlich wissen, können wir sehr anspruchsvoll sein.

Wenn wir selbst Verantwortung tragen, sind wir geneigt, eben solche Ansprüche als anmaßend zurückzuweisen. Der Widerspruch dieser beiden Rollen in uns ist ein Strukturelement der Sünde.

Der Zuspruch, der aus dem Evangelium an uns ergeht, und der mit ihm verbundene Anspruch kommen in uns nicht zur Deckung. Christus sagt: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ Dies beides bringen wir nicht in Einklang. Wir sind unfähig, so sehr zu lieben, wie wir geliebt worden sind.

Wir geben weniger, als wir empfangen haben. Diese Feststellung soll keine Klage, auch keine Anklage sein. Aber es ist gut, sie im Bewusstsein zu haben. Das mag uns davor bewahren, unbewusst und im Gefühl der Selbstgerechtigkeit von unseren Mitmenschen zu viel und von uns selbst zu wenig zu verlangen.

Trotz unseres offensichtlichen Unvermögens bleiben wir aufgefordert, unsere beiden Rollen in ein und demselben Geist wahrzunehmen. Wir sollen uns bemühen, gute Hirten zu sein, für das Wohl der uns Anbefohlenen nach besten Kräften zu sorgen. Und wir sollen diejenigen, denen wir anbefohlen sind, nicht das Äußerste abverlangen.

Christus hat das Äußerste gegeben. Er hat die Doppelrolle in einzigartiger und nicht nachahmlicher Weise ausgefüllt. Er war der gute Hirte, dem das Wohl der Herde, jedes Einzelnen, der Verlorenen insbesondere, oberstes Anliegen war. Und er war das Lamm, das den gottgewiesenen Weg ohne persönlichen Anspruch ging und sich den Hirten der Gesellschaft aussetzte.

Christus hat alles gegeben, was er von Gott empfangen hat. Er hat sich selbst gegeben. Und er hat so sehr geliebt, wie er von Gott geliebt war. Er hat den Menschen mehr gegeben, als er von ihnen empfangen hat. Und er hat sie mehr geliebt.

Wir können unsere Doppelrolle nicht wie Christus wahrnehmen. Wir dürfen auch auf unser eigenes Wohl bedacht sein. Wir brauchen uns nicht aufzuopfern. Das hat Christus ein für alle Mal für uns getan. Sein Opfer dürfen wir für uns in Anspruch nehmen, sofern wir es nicht zu unserer vorschnellen Entschuldigung missbrauchen.

Wenn ich unsere sechsjährige Tochter morgens in Eile mit dem Rad zum Kindergarten fahre, sagt sie mir: „Papa, du hast doch gesagt, man darf nicht auf der linken Seite fahren.“ Ich möchte ihr dann antworten: „Ich habe dir auch gesagt: ‚Gott liebt auch den Sünder, und den ganz besonders.‘“ Aber diese Antwort unterlasse ich.

Das Opfer Christi dient nicht zu unserer Selbstrechtfertigung. Es soll nicht unsere Verfehlungen entschuldigen, sondern uns zum Tun des Guten befreien.

Die Doppelrolle beschreibt einen Konflikt in uns. Der Konflikt kann zerstörerisch wirken. Er kann aber auch schöpferisch sein. Wenn wir uns bei seiner Lösung von Christus leiten lassen, kann sich Gutes in uns und um uns herum ereignen.

Das, was uns von den wirklichen Schafen unterscheidet, ist unsere Chance: Wir trotten dem Hirten nicht bewusstseinslos hinterher. Wir haben erkannt und begriffen, was der gute Hirte für uns bedeutet. Der Weg, den er uns weist, ist der Weg der Heilung. Daran glauben wir. In diesem Glauben folgen wir dem guten Hirten bewusst. Seine Leitung machen wir zur unsrigen, sodass er leitet durch uns. Das ist keine vollendete Wirklichkeit, aber doch unser Ziel.

(Andacht von Pastor Wolfgang Nein vor der Hamburger Synode am 13. April 1989)

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