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Ostersonntag (31.3.24)


Gestorben, aber nicht tot

16. April 2006

Ostersonntag

Markus 16,1-8


Das Leben ist uns neu geschenkt! Wir feiern heute unsere Freude und Dankbarkeit und nehmen uns vor zu leben, was wir empfangen haben - zur Ehre dessen, der uns das Leben neu geschenkt hat, zur Ehre Gottes, unser aller Schöpfer.

Vor weniger als vier Monaten haben wir die Geburt eines Kindes gefeiert. Heute ist ein erwachsener Mensch neu geboren worden. Das Kind ist aus dem warmen Mutterleib zur Welt gekommen. Nun hat sich das kalte Grab geöffnet.

Der Chor der Engel hatte in der heiligen Nacht gejubelt. Totenstille lag über dem Land, als die Nacht das Osterlicht empfing.

Die verschlossenen Türen der Gasthäuser hatten die Geburt nicht verhindern können. Und der schwere Stein des Grabes sollte nicht zum Schlussstein des Lebens werden.

Das Leben ist stärker als alle Kräfte des Menschen. Das Leben kann nicht verhindert werden, es kann nicht zunichtegemacht werden. Das Leben wächst aus Wüstensand, in Mauerritzen, sprengt den Asphalt, erblüht in Ruinen, verwandelt auch zerbombte Städte in neue Heimstätten. Und wo millionenfach menschliche Leiber vernichtet wurden, da bleibt der Geist, die Erinnerung der Lieben, der Wille zur Umkehr, die Hoffnung auf neues Leben.

Die Hoffnung hat den Stein vom Grab gewälzt. Gott hat uns die Hoffnung geschenkt und hat sein Versprechen bekräftigt: „Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht ... Solange ich euer Gott bin, sollen nicht aufhören die Barmherzigkeit, das Verzeihen, die Liebe.“

Diese Welt ist Gottes Welt. Seinem Geist entsprang das Weltall. Und seiner Schöpferkraft verdankt der Mensch das Leben.

Gott hat den Menschen mit Ehre gekrönt. Er hat den Menschen zum Mitschöpfer gemacht und hat ihm die Freiheit der Entscheidung gegeben und hat ihn zur Verantwortung berufen.

Der Schöpfer hat es so für gut befunden. Die Ehre hat den Menschen geehrt, und der Mensch hat große schöpferische Leistungen vollbracht. Aber es war der Ehre zu viel. Die Aufgabe war zu groß, die Verantwortung zu schwer. Der Mensch ist an seinen geschöpflichen Begrenzungen gescheitert und immer wieder gescheitert. Die Anforderungen des Lebens haben sich als Überforderung erwiesen.

Da hat der Schöpfer schließlich eingelenkt. Die erdrückende Last hat er abgenommen. Was der Mensch allein nicht zu tragen vermag, darf er in die Hand des Gottes legen. Wo er selbst nicht weiterweiß, darf er sich führen lassen. Was er verschuldet hat, darf er bereuen und sich vergeben lassen.

Der Kerker der ethischen Überforderung hat einen Ausgang. Der Weg in die Freiheit führt über die Schwelle der Bescheidenheit. Wer sich als Sünder bekennt und das Geschenk der Gnade anzunehmen bereit ist, der darf erlöst hinaustreten in das neue Leben.

„Es hatte Jahre gedauert“, sagte einer im Gefängnis Fuhlsbüttel, der dort wegen Mordes einsitzt. „Es hatte Jahre gedauert“, sagte er, bis er sich eingestehen konnte, dass er der Schuldige war an dem von ihm begangenen Verbrechen. Erst das Bekenntnis der eigenen Schuld und Verantwortung eröffnete ihm die Möglichkeit, sich entlasten zu lassen. Er muss weiter einsitzen. Aber die zuvor verdrängte innere Last hilft ihm nun einer tragen. Er ist erleichtert, ja erlöst und frei auch innerhalb der Gefängnismauern.

Wir sitzen nicht ein in Mauern aus Steinen und Stacheldraht. Aber frei sind auch wir nicht. Es sind Begrenzungen anderer Art, die uns gefangen halten: dass wir das Machbare überschätzen, unser eigenes Können, unsere eigene Kraft, dass wir zu wenig dem uns Unverfügbaren vertrauen, dass wir uns selbst zu sehr im Recht sehen und die Schuld bei anderen, dass wir nur glauben wollen, was wir sehen, und nur sehen, was wir glauben wollen - wo doch dieses Dasein ein einziges großes Geheimnis ist.

Wenn wir doch das Unglaubliche glauben könnten, das Undenkbare für denkbar und das Unmögliche für möglich hielten! Und wenn wir doch die Hoffnung niemals aufgäben! Uns würde sich eine Tür öffnen, durch wir uns aus unseren Begrenzungen hinausführen lassen könnten in ein Reich jenseits des Menschlichen und Allzumenschlichen - in die Welt desjenigen, der schon war, als es noch keine Menschen gab, und der noch sein wird, wenn der Mensch nicht mehr ist und der allgegenwärtig und allezeit in allem ist als Quelle und Kraft.

Das Leben ist mehr, als aus dem Mutterleib geboren werden. Und es ist mehr, als ins Grab gelegt zu werden. Leben heißt auch, sich staunend über Anfang und Ende hinausführen lassen, sich in einer größeren Hand bergen lassen, sich fallen und auffangen lassen, sich loslassen und sich neu schenken lassen, sich immer wieder neu gebären lassen, sich leiten lassen, sich gute Worte sagen lassen, sich verzeihen lassen, sich lieben lassen.

Wir wollen ja leben, und wir wollen das verheißene Mehr an Leben. Wir wollen, was uns so schwer fällt zu können. Darum lassen wir das Fünkchen Hoffnung in uns nicht untergehen.

Als die Frauen am Ostermorgen zum Grab gingen, um den Leichnam zu salben - trugen nicht auch sie eine völlig verrückte Hoffnung im Herzen? „Wer wird uns den Stein von des Grabes Tür wälzen?“ Wie konnten sie annehmen, im Morgengrauen das Grab betreten zu können?

Die Hoffnung war ihnen vorausgeeilt und ließ sie eine neue Wirklichkeit sehen, die die Frauen wohl nicht zu hoffen gewagt hätten. Was sie nicht zu begreifen vermochten und was ihnen die Jünger nicht glauben wollten, musste in ihren Herzen erst langsam Gestalt annehmen: Ihr geliebter Jesus war gestorben. Aber tot war er nicht.

Die Frauen fanden den Leichnam nicht, und er wurde von niemandem gefunden. Die leibliche Gestalt Jesu war nicht mehr. Und dennoch wurde Jesus gesehen, von Frauen und Männern, in anderer Gestalt, nach dem Aussehen wie ein Mensch, aber mit den Augen allein nicht als der Jesus von vorher zu erkennen. Das Herz musste brennen, wenn er sprach und das Brot brach wie einst.

Die Hinrichtung Jesu am Kreuz hatte sie verunsichert, aber nur für kurze Zeit. Der Schock des gewaltsamen Endes Jesu wich bald dem Glauben an die Unzerstörbarkeit seiner Botschaft. Für seine Anhänger war Jesus auferstanden. Er lebte. Und bald würde er sie beauftragen, in seinem Geiste weiterzugeben, was sie von ihm erfahren und mit ihm erlebt hatten: seine barmherzige, verzeihende, liebevolle Zuwendung zu den Menschen, den gering Geachteten insbesondere, in all ihren existentiellen Nöten. 

Ihr Jesus hatte sie zu seinen Lebzeiten das Mehr an Leben erfahren lassen. Ihr Glaube an den Auferstandenen ist der Glaube an die Unzerstörbarkeit seiner lebenspendenden Botschaft.

Viele haben aus der Auferstehung Jesu auch und vor allem für sich den Glauben an eine persönliche Auferstehung nach dem leiblichen Tode entnommen. Andere sehen sich durch die Auferstehung für ihr Leben hier und jetzt gestärkt.

Vielleicht haben Sie einmal den Film gesehen „Das Leben ist schön“, ein Film über die Grausamkeiten des Nationalsozialismus, doch mitten drin das liebevolle Ja zum Leben. Oder sehen Sie sich den Film über die Ex-DDR an: „Das Leben der anderen“. Inmitten menschenverachtender Bespitzelung wächst fast unscheinbar ein Pflänzchen an Menschlichkeit. Oder lassen Sie sich - vielleicht noch einmal - von dem Film „Chocolat“ zur Freude am Leben verführen.

Ostern ist da, wo wir uns neu gebären lassen und uns das Leben in Dankbarkeit und Freude aufs Neue schenken lassen. Die österliche Lebenskraft sprengt die Fesseln in uns und reißt die Mauern ein und befreit das Schöne und Gute in uns und verwandelt uns und lässt uns erblühen wie die Wüste nach langersehntem Regen. Wo die Starken den Schwachen beistehen, wo sich Streitende die Hand reichen und die Soldaten verfeindeter Nationen auf dem Schlachtfeld gemeinsam ein Weihnachtslied singen und sich die Völker versöhnen, wo wir Böses mit Gutem vergelten, wo einer den anderen in den Arm nimmt und mit guten Worten tröstet, wo wir Gnade vor Recht ergehen lassen und uns in allem von der Liebe leiten lassen, da hat sich das Grab in uns zur Stätte der Geburt verwandelt, und Christus ist in uns aufs Neue auferstanden.

Heute feiern wir die Auferstehung Jesu. Jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest. Möge die österliche Lebenskraft auch unseren Alltag verwandeln.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. April 2006)

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