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6. Sonntag nach Trinitatis (16.7.23)


Wir brauchen den Halt

22. Juli 2001

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1-7


„Fürchte dich nicht, du bist mein!“ Ich höre die Stimme der Mutter, die ihr weinendes Kind in den Armen wiegt und es mit den Worten zu beruhigen versucht: „Hab keine Angst, ich bin doch bei dir!“ Wir haben es hier mit einer ganz grundlegenden existentiellen Situation zu tun, dem Gefühl der Angst, einem diffusen Gefühl der Verlorenheit. Da sind Worte und Gesten der Beruhigung vonnöten. 

Wir leben meist so sicher dahin. Aber es gibt doch immer wieder Situationen, da geht uns alle Sicherheit, da geht uns jeglicher Halt verloren. Da ist plötzlich nichts mehr selbstverständlich. Was uns vertraut war, wird uns fremd, wo wir eben noch festen Boden unter den Füßen hatten, wird alles schwankend und brüchig. Wo wir eben noch aus der Fülle des Lebens schöpften, empfinden wir nun nichts als Leere.

Ich werde nicht die Erzählung eines Kollegen vergessen, der gern in der Natur spazieren ging, der sich stets an der Größe und Schönheit der Schöpfung erfreute - wie er von seinen Gefühlen berichtete, die ihn überkamen, als er einmal nach stundenlangem Marsch im Norden Norwegens allein auf einer Anhöhe stand und in die Weite schaute. In der Einsamkeit der Natur überkam ihn plötzlich ein Schaudern, ein Gefühl des Alleinseins, der Verlorenheit, ein Gefühl der Fremdheit in der Weite des Weltalls. Er beeilte sich dann zurückzukehren in das nächste Dorf. Er war froh, endlich wieder Häuser zu sehen und Straßen und Menschen, Vertrautes.

Wir können wirklich froh und dankbar sein, wenn wir uns wohlfühlen, wenn wir in dem Gefühl leben, zu Hause zu sein, wo immer wir gerade sind und wohnen und leben und arbeiten. In dieser Welt, in diesem Leben zu Hause sein - das ist ganz und gar nichts Selbstverständliches, das ist eine Empfindung, eine bloße Empfindung. 

Denn wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Über die Grenze von Geburt und Tod vermögen wir nicht hinauszuschauen. Wir sind jetzt hier auf diesem Erdball für eine Weile und erleben das Abenteuer Leben. Wir haben in diesen wenigen Jahrzehnten kaum die Zeit, so recht zu erkunden und zu begreifen, was das hier alles auf sich hat. Da brauchen wir ein paar Haltepunkte, Festpunkte, die uns einen Rahmen geben innerhalb der Endlosigkeit von Raum und Zeit, da brauchen wir ein kleines Stück Heimat in der grenzenlosen Weite des Alls, ein kleines Umfeld, in dem wir uns auskennen, wo wir uns selbst wiederfinden können und das, was wir verstehen und handhaben können. 

Das Sicherste sind Menschen, am besten Menschen, die uns gern haben, die uns kennen, die wir kennen, die uns mögen, die wir mögen, mit denen wir eine gemeinsame Geschichte haben und eine gemeinsame Zukunft - und wenn’s nur ein solcher Mensch ist - da haben wir dann schon einen ganz großen Halt. Wenn wir einen solchen Menschen verlieren, kann uns das in eine Orientierungslosigkeit und Haltlosigkeit stürzen - und es kann dann eine Zeit dauern, bis wir uns wieder gefangen haben oder aufgefangen und gehalten sind. 

Was uns auch schon halten kann, sind einfach Zeichen der Kultur und der Zivilisation, ein Umfeld, das uns bekannt ist, in dem wir uns auskennen, das wir einzuschätzen vermögen, in dem wir einen Platz haben und eine Rolle spielen.

Und helfen können überhaupt Zeichen, Rituale, Gegenstände, Gebäude, Orte, die eine Schnittstelle darstellen zwischen dem Geheimnis des Seins und unserer kleinen menschlichen Welt. Die Kirche z. B. ist ein solcher Ort, und der Gottesdienst ist eine solche Gelegenheit mit vielen Elementen, die Fremdes in Vertrautes verwandeln, die Ferne in Nähe verwandeln, die dem Unpersönlichen ein menschliches Antlitz geben.

„Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ Der Urgrund des großen geheimnisvollen, undurchdringlichen, unerklärlichen, unbegreiflichen Seins spricht - er spricht zu uns wie ein menschliches Gegenüber, wie die Mutter zu ihrem Kind spricht. Er ist nicht mehr der diffuse unfassbare konturenlose Urgrund - er ist wie ein Mensch. Wir haben ein Wort für ihn: „Gott“, und wir beschreiben ihn mit Kategorien des Menschlichen. Unser Dasein wird für uns somit kommunikabel, wir können mit dem Fremden, dem Unbekannten und Unbegreiflichen sprechen. Wir können uns etwas sagen lassen, wir können antworten, wir können Gefühle füreinander entwickeln, wir können Erfahrungen miteinander sammeln, wir können eine gemeinsame Geschichte haben. 

Das Volk Israel ist geradezu ein Paradebeispiel für diese Personifizierung des Seins. Wir haben seine Art des Umgangs mit dem Sein übernommen, haben daran angeknüpft und unser Eigenes daraus entwickelt. 

Die Menschen in Israel damals sahen sich geschaffen und begleitet von einem ganz persönlichen Gott, der sich gerade ihnen, dem Volk Israel, ganz persönlich zugewandt hat, wie sich ein Vater, eine Mutter, dem eigenen Kind zuwendet, oder wie sich ein Verliebter seine Liebste auswählt und sich ganz speziell ihr mit ganzer Hingabe zuwendet. Das Volk Israel verstand und versteht seine ganze Geschichte, seine ganze Wanderung durch dieses Dasein als ein kontinuierliches Miteinander mit dem personifizierten Urgrund des Seins, mit Gott, dem Schöpfer und Lenker der Geschichte. Den Menschen in Israel konnte dieses Dasein darum niemals gänzlich fremd sein. Und wenn es ihnen fremd erschien, wenn sie sich verlassen und verloren vorkamen, dann hatten sie doch immer noch ein Gegenüber, dem sie ihre Gefühle der Verlassenheit und Verlorenheit vortragen konnten, dem sie ihr Herz ausschütten, dem sie ihre Klagen vortragen und den sie anklagen konnten und den sie auch um Rettung und Hilfe anrufen konnten. 

Als ihr Land zerstört war und viele von ihnen ins Ausland verschleppt waren, nach Babylon, wo sie in der Fremde leben und darben mussten und ihnen alles Vertraute genommen war, da hatten sie immerhin noch die Geschichte, auf die sie zurückgreifen konnten, die sie in ihren Herzen und Köpfen trugen und die noch einen Boden bereit hielt, auf dem Worte der Hoffnung und des Trostes neue Zuversicht wachsen lassen konnten. 

Um solche Worte handelt es sich in unserem Predigttext: „Ich bin der Herr, dein Gott, Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben“ - eine Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Diese Rückbesinnung auf Ereignisse der Errettung in der Vergangenheit soll die Hoffnung stärken, dass auch nun wieder alles gut werden wird, dass auch das Exil in Babylon ein Ende nehmen und eine Rückkehr in die Heimat möglich sein wird. 

Einer damals unter den Menschen im Exil hatte im Namen Gottes zum Vertrauen und zur Hoffnung aufgerufen - vielleicht im Rahmen eines Gottesdienstes. Er hatte dem Volk gegenüber die Rolle angenommen wie die Mutter gegenüber ihrem Kind: Habt keine Angst. Gott ist bei euch. Er wird euch helfen und heilen und heimbringen in eure Heimat. Denn ihr seid seine geliebten Kinder und werdet es bleiben.

Solchen Zuspruch des Vertrauens und der Hoffnung brauchen wir alle von Zeit zu Zeit. Wir kommen alle immer mal wieder in Situationen, in denen uns die Dinge des Lebens nicht mehr so selbstverständlich sind - wo wir einfach den Zuspruch brauchen, dass alles wieder gut werden wird. 

Die Taufe ist ein solcher grundlegender, zeichenhafter, ritualisierter Zuspruch, der uns die Gewissheit geben soll: Wir sind und bleiben - ich sage es theologisch: Wir sind und bleiben geliebte Kinder Gottes. Wir werden niemals gottverlassen sein, auch wenn uns alles um uns herum fremd erscheint und wir mit nichts und niemandem mehr im Reinen sind. Wenn uns alles Vertrauen und Selbstvertrauen abhanden kommt, dann dürfen wir uns immer noch an den Zuspruch der Taufe erinnern und damit an denjenigen, der ja auch einmal - vom Kreuz herab - gerufen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ und der dann doch zur leibhaftigen Botschaft dafür geworden ist, dass wir niemals aus der Liebe Gottes herausfallen. 

Es ist gut, dass es diese Botschaft gibt, dass es die Kirche gibt, in der diese Botschaft weitergegeben und lebendig gehalten wird. Es ist gut, dass es die Taufe gibt und die vielen Zeichen und Worte des Zuspruchs und der Hoffnung.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 22. Juli 2001) 

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