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7. Sonntag nach Trinitatis (23.7.23)


Angebot der Gemeinschaft

25. Juli 2004

7. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 2,41-47


Hier ist von der Bildung der ersten Gemeinde die Rede. Die ersten Christen verbanden sich zu einer Gemeinschaft. Sie feierten zusammen Gottesdienst, gingen dazu einerseits in den Tempel, andererseits kamen sie zum Gottesdienst, vor allem wohl zum Abendmahl, auch in den Häusern zusammen. Sie trafen sich in den Häusern auch zu geselligen Mahlzeiten. Und sie teilten ihre Habe. Manche sagen darüber: Was die ersten Christen praktizierten, war eine Art Ur-Kommunismus.

Ich möchte diesen Bericht über die erste Gemeindebildung unter drei Aspekten betrachten: unter dem seelsorgerlichen, dem diakonischen und dem kirchenpolitischen Aspekt.

Was das Seelsorgerliche anbetrifft, so geht es hier ja u. a. um das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Wir, um das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft.

In unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Phase spielt der Individualismus eine große Rolle. Es gab vielleicht niemals so viele Singles wie heute. Aber das Singledasein wird auch kritisch hinterfragt. Es gibt etliche Literatur - auch von Autoren im Einzugsbereich unserer Gemeinde -, die z. B. die geradezu verzweifelte Suche nach einem Partner, einer Partnerin beschreibt. Wir sind eben doch nicht so recht für das Alleinsein geschaffen. In der biblischen Schöpfungsgeschichte sagt Gott: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sein.“ Dass an diesem Satz etwas Wahres dran ist, merken viele Alleinlebende - manchmal und phasenweise - schmerzlich.

Natürlich ist auch das Zusammenleben in einer Partnerschaft, in einer Ehe, in einer Familie, in einer Lebensgemeinschaft nicht einfach. Viele Beziehungen gehen nach einer gewissen Zeit in die Brüche. Das ist eben das Problem: Allein tun wir uns schwer und im Miteinander tun wir uns schwer. Wir brauchen beides, das Ich und das Wir, und wir leiden an beidem, am Ich und am Wir.

Der christliche Glaube gibt uns Kraft in beiderlei Hinsicht. Er stärkt uns als Individuen und er macht uns stark für die Gemeinschaft.

Vor Gott stehen wir zunächst einmal allein. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Gott nimmt uns ganz persönlich an - zeichenhaft in der Taufe, so, wie wir sind, mit unseren Stärken und Schwächen, jeden von uns als sein geliebtes Kind. Es ist die göttliche Liebe, die uns aus der Masse der Menschen heraushebt und uns zu einem einzigartigen, unverwechselbaren, unersetzbaren Menschen macht. Gottes Liebe macht uns als Individuen stark. Sie stärkt unser Ich.

Es gehört auch zur Botschaft Jesu, dass wir uns selbst lieben dürfen und sollen. Die Selbstliebe ist geradezu eine Voraussetzung für die Nächstenliebe. Ein starkes Ich ist geradezu eine Voraussetzung für ein konstruktives Leben in der Gemeinschaft.

Es könnte jemand sagen: Wenn wir vor Gott allein dastehen, dann stehen wir ja doch nicht allein da, wir haben ja auch da schon ein Gegenüber, jemanden, der uns anspricht, von dem wir uns etwas sagen lassen können, zu dem wir eine Beziehung pflegen können, Gott eben. Das ist wohl wahr.

So ganz allein fühlt sich vielleicht nur der atheistische Existentialist, und der erlebt dann dieses Dasein als fremd und absurd.

Im christlichen Sinne gibt es kein absolutes Alleinsein. Wir sind niemals gänzlich auf uns selbst zurückgeworfen. Wir dürfen uns immer daran erinnern, dass wir Gott, den Schöpfer, allezeit bei uns haben. Diese Erinnerung macht auch Sinn, denn wir sind ja nicht aus uns selbst heraus entstanden. Wir haben uns nicht selbst geschaffen. Wir sind als - auch als Individuen - von vornherein ein Gemeinschaftsprodukt, ein Geschöpf, an dem Mann und Frau mitgewirkt haben; und die haben vollzogen, was ihnen wiederum von dem letztlichen Schöpfer allen Lebens mit in die Wiege gelegt worden ist.

Und wir haben uns nicht nur nicht selbst geschaffen. Wir haben auch die selbstständige Lebensfähigkeit nicht aus uns selbst heraus erlangt. Denn dass wir überhaupt mit eigenem Verstand und aus eigener Kraft heraus leben können, hat zur Voraussetzung, dass sich jemand jahrelang um uns gekümmert hat, mit viel Liebe oder weniger Liebe, aber auf jeden Fall mit einem enormen Einsatz. Denn ein Kind groß zu kriegen, bis es selbstständig ist, das ist Knochenarbeit und kostet viel Mühe, Kraft, Geld und Hintanstellung eigener Bedürfnisse - seitens der Mutter, des Vaters oder auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Heimes oder der Ersatzeltern.

Wir verdanken unsere Existenz der Hingabe anderer, und zwar sowohl der materiellen wie der menschlichen Hingabe. Wir brauchen das auch später - in welcher Form auch immer: menschliche Fürsorge, menschliche Ansprache, menschliche Annahme. Die Beziehung zu unserem göttlichen Gegenüber ist das eine. Wir brauchen aber auch menschliche Beziehungen, einen gewissen Ausgleich dafür, dass wir vor langer Zeit aus dem Mutterleib hinausgeworfen worden sind und uns nun allein in dieser Welt bewegen. Wir würden gern in irgendeinem mitmenschlichen Kontext die Geborgenheit wiederfinden.

Uns auf das Mitmenschliche einzulassen, dazu macht uns der christliche Glaube Mut und gibt uns dafür Kraft und hält dafür viele gute Überlegungen und Ratschläge bereit. Er hilft uns insbesondere, mit dem Tatbestand umzugehen, dass das menschliche Miteinander oftmals sehr konfliktbeladen ist, und rät uns, es immer wieder in Liebe miteinander zu versuchen. Das ist der wesentliche Sinn des Wirkens Jesu, die Botschaft seines Lebens, seiner Kreuzigung und Auferstehung: das liebevolle Ja zu jedem einzelnen Menschen und der Auftrag an uns, einander ebenso in Liebe immer wieder anzunehmen. So werden wir, das ist die Verheißung, ein Stück jener Geborgenheit wiedererlangen, die uns bei der Geburt abhanden gekommen ist.

Die ersten Christen haben sich in diesem Sinne menschlich zusammengetan und haben sich dabei regelmäßig auf ihre gemeinsame geistige und geistliche Grundlage besonnen.

Sie sind aber noch einen Schritt weiter gegangen: Sie haben sich auch gegenseitig geholfen und einander beigestanden in ganz materieller Hinsicht. Sie haben ihr persönliches Hab und Gut verkauft und haben alles miteinander geteilt. Das ist ein gewaltiger Schritt. Sie haben sich quasi als Gemeinde zu einer Art Großfamilie zusammengeschlossen, in der ja auch einer für den anderen einsteht und sich jeder für jeden mitverantwortlich fühlt. Die Gemeinschaft der Brüder von Taizé können wir vielleicht als eine solche geistliche Großfamilie ansehen. Oder ansatzweise auch die Koinonia, eine Gemeinschaft, die unserer Gemeinde verbunden ist.

Großfamilien ohne speziellen geistlichen Hintergrund, aber eben mit diesen internen Verantwortlichkeiten gab es früher in unserer Gesellschaft und gibt es heute noch in vielen Ländern. In unseren Breiten haben der Sozialstaat und viele soziale und diakonische Einrichtungen einen großen Teil der Verantwortung für den Mitmenschen und Mitchristen übernommen. Die Großfamilie als Schutzgemeinschaft und auch die Gemeinde als Schutzgemeinschaft ist dadurch längst weitgehend überflüssig geworden. Teilweise ist das Gefühl der persönlichen Verantwortung füreinander von einem Anspruchsdenken abgelöst worden: dass für jegliches Problem stets eine institutionelle Hilfe vorhanden sein müsse.

Allerdings kann es sein, dass angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme in unserem Land unsere persönliche Verantwortung füreinander im Rahmen der Familie, im Rahmen der Gemeinde und überhaupt von Mensch zu Mensch wieder mehr gefordert ist als zuvor.

Wir sollten den Staat, die Kirche, die Firmen, die gemeinnützigen Institutionen zwar nicht vorschnell aus ihren Verantwortlichkeiten entlassen. Aber dass wir uns stets auch und wieder intensiver auf unsere ganz persönliche Verantwortung füreinander besinnen, kann nur gut sein und entspricht unserem christlichen diakonischen Auftrag, dem Auftrag an uns als einzelne Christen und als Gemeinde. In diesem Sinne sollten wir uns ruhig mal wieder auf die ersten christlichen Gemeinden besinnen. Das ist ja auch der Sinn unseres heutigen Predigttextes.

Auch in einer anderen - nämlich kirchenpolitischen – Hinsicht besinnen sich manche auf die Urgemeinde - und damit komme ich zum Dritten. Sie sagen nämlich angesichts der gegenwärtigen Finanznot in der Kirche: Gottesdienst kann man auch in den Häusern feiern. Dazu braucht man nicht unbedingt eine Kirche, wie ja die Urgemeinde beweise. Folglich könne man die eine oder andere Kirche durchaus aufgeben, abreißen, verkaufen, umnutzen.

Einen solchen Rückgriff auf die erste Gemeinde möchte ich nicht unterstützen, jedenfalls nicht, wenn er dazu dienen soll, Bemühungen um die Bewahrung von Kirchengebäuden vorschnell aufzugeben oder zu demotivieren.

Im Vergleich zur ersten christlichen Gemeinde sind wir in mancher Hinsicht doch ein Stück weiter. Unsere heutige ganze Gesellschaft ist vom christlichen Gedankengut durchtränkt, auch wenn das vielen vielleicht nicht so bewusst ist. Das, was Kirche an Inhalten anzubieten hat, ist gewollt und gewünscht, auch wenn das nicht jeder in jedem Augenblick zugeben würde.

Auch die Orte der Besinnung, die Kirche in Form der Kirchengebäude vorhält, sind gewünscht, auch wenn sie von den meisten Menschen nicht gerade häufig aufgesucht werden. Aber die meisten Menschen sind im Zweifelsfall, im Krisenfall, in bedeutsamen Situationen ihres Lebens froh und dankbar, dass es Kirchen gibt und sie überall und jederzeit ohne große Mühe zugänglich sind.

Im Gegensatz zur Urgemeinde, die sich ganz vereinzelt in einer feindseligen Umgebung zu behaupten hatte, sind wir schon seit vielen Jahren und immer noch - und werden es hoffentlich bleiben - Volkskirche, in dem Sinne nämlich, dass wir für die Gesamtbevölkerung wirklich von grundlegender Bedeutung sind. Von Kirchenaustritten und mangelndem Gottesdienstbesuch und abnehmenden Kirchensteuern sollen wir uns diesbezüglich nicht irritieren lassen. Unsere Gesellschaft braucht - neben all dem Materiellen - auch das geistliche Brot, das die Kirche anzubieten hat.

Kirche ist und bleibt von allergrößter Bedeutung. Wir sollten kirchliche Standorte von daher keinesfalls vorschnell aufgeben.

Die Urgemeinde war die Urzelle. Aus der einen Zelle ist ein ganzer Körper geworden, ein den ganzen Globus umspannender Leib, die weltweite Kirche. Das können wir nur mit Staunen und mit Dankbarkeit feststellen. Der schönste Dank ist wohl, dass wir mithelfen, dass dieser Leib Christi lebendig bleibt und weiter wächst. Das wird jedem einzelnen von uns und uns allen gemeinsam und der ganzen weltweiten Gemeinschaft guttun - und Gott die Ehre geben. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 25. Juli 2004)

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