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11. Sonntag nach Trinitatis (20.8.23)


Die liebende Prostituierte

19. August 2007 

11. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 7,36-50


Jesus ist zu Gast im Haus eines Gelehrten, im Haus eines Frommen. Er ist zu Gast bei Simon, dem Pharisäer. Er ist zum Essen eingeladen. Er hat Platz genommen. Eine Frau nähert sich Jesus, sie hat Tränen in den Augen, sie trägt ein Glas mit Salböl in der Hand. Sie nähert sich Jesus verschämt von hinten. Sie kniet nieder. Ihre Tränen fallen auf seine Füße. Mit ihren langen Haaren trocknet sie seine Füße. Sie küsst seine Füße und salbt sie mit Salböl.

Dies ist eine Szene von beschämender Menschlichkeit. Diese Frau tut hier etwas ohne Rücksicht darauf, was andere von ihr denken könnten. Sie küsst die Füße eines Fremden, sie erniedrigt sich selbst - so müssen es die anderen sehen. 

Es war eine orientalische Sitte, dem Gast beim Eintreten Wasser zu reichen, damit er sich den Staub der Straße von den Füßen waschen könnte, aber diese Frau verwandelt diese Sitte in eine beschämende Geste der Demut. 

Nach dem Willen des Gastgebers soll sich Jesus diese Geste nicht gefallen lassen. Simon hatte Jesus, entgegen den Regeln der Höflichkeit, kein Wasser zum Waschen der Füße gereicht. Das mag ihm nun peinlich geworden sein. Er versucht vor sich selbst, die Geste der Frau abzuwerten, indem er sich fragt, ob Jesus denn wisse, um was für eine Frau es sich da handelt.

Es handelt sich, so müssen wir den Text wohl auslegen, um eine Prostituierte. Simon, der Gastgeber, der Pharisäer, der Fromme und Gesetzestreue, nennt sie eine Sünderin. Und als solche wird sie nicht nur von Simon gesehen worden sein, sondern von vielen. Sicherlich hat sich die Frau selbst auch so gesehen - als Sünderin, als eine, die das Gesetz übertritt, die die moralischen Regeln missachtet, die sich durch ihr Verhalten außerhalb dessen stellt, was in der Gesellschaft als anständig gilt und geachtet ist.

Eine Prostituierte galt als Sünderin, und auch in unserer Gesellschaft wird sie vielfach als moralisch verwerfliche Person und mit Geringschätzung betrachtet. Wenn wir die Prostituierte in dieser Weise bewerten, sollten wir allerdings auch an die Freier denken. Eine Prostituierte hat mit einer ganzen Reihe von Männern zu tun - auch diese müssten konsequenterweise als Sünder bezeichnet werden. Wenn eine Prostituierte im Durchschnitt mit nur 20 verschiedenen Männern zu tun hätte, dann kämen z. B. auf die geschätzten zweieinhalbtausend Prostituierten in Hamburg 50.000 Freier, also auf zweieinhalbtausend Sünderinnen 50.000 männliche Sünder. 

Ich treibe dieses Zahlenspiel aus Gründen der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit. Denn es geht hier auch um die Stellung und Rolle der Frau. 

Die Frau, die unser Predigttext heute unserem Nachdenken anempfiehlt, ist ein Beispiel für eine typische Ungerechtigkeit. Als Prostituierte wird sie mit dem Makel der Sünderin behaftet - auch gleich stellvertretend mit für die vielfache Zahl von Männern, die anonym und in ihrem Ansehen unangetastet im Verborgenen bleiben. 

Wenn in dieser Sache überhaupt mit moralischen Kategorien geurteilt wird, dann müsste die Prostituierte selbst noch am besten davonkommen. Die Freier kommen in der Regel aus Lust und freien Stücken zu ihr. Es gibt sicherlich auch Prostituierte, die sich für diesen Beruf frei entschieden haben. Viele Prostituierte sind in diese Betätigung aber durch eine Notlage hineingedrängt worden. In Hamburg versuchen z. B. viele junge, minderjährige drogensüchtige Mädchen durch Prostitution das Geld zu verdienen, das sie für den täglichen Stoff benötigen. Zur Zeit Jesu wird es weniger das Drogenproblem gewesen sein, aber gewiss doch die wirtschaftliche Not. 

Die Frau aus unserer biblischen Geschichte sah sich belastet mit dem Makel der Sünderin. Was für eine Leidensgeschichte hat sie hinter sich? Wir wissen es nicht. Offensichtlich aber ist, dass sie in Jesus einen Menschen erkannt hat, der sie anders wahrnimmt als die anderen. Zu ihm hat sie ganz offensichtlich großes Vertrauen und Zutrauen. Er ist für sie anders als die Männer, mit denen sie sonst zu tun gehabt hat. Und so scheut sie sich nicht und schämt sie sich nicht, ihm in der allerdemütigsten Form zu begegnen.

Jesus lässt diese Frau gewähren. Er nimmt ihre Gesten der Dankbarkeit, der Zuneigung, der Ehrerbietung an. Und er nimmt die Frau in Schutz gegenüber der geringschätzigen Reaktion des Simon. 

Die Frau findet bei Jesus das, was sie bei ihm vermutet hat. Ihr Vertrauen erweist sich als gerechtfertigt. Vielleicht ist sie anschließend zu einer der Anhängerinnen Jesu geworden. Jesus hatte nicht nur die zwölf Jünger, die zwölf Männer. Zum Kreis seiner Anhänger zählten auch viele Frauen. Unsere kleine Episode könnte dafür eine Erklärung liefern. Frauen fühlten sich mit ihren besonderen Belastungen offensichtlich bei ihm verstanden und angenommen. 

Im Stadtteil St. Georg hinter dem Hauptbahnhof hier bei uns in Hamburg unterhält die Kirche seit 1985 das Café Sperrgebiet. Vielleicht haben Sie davon gehört. Dort haben nur Frauen Zutritt. Es ist eine Zufluchtsstätte vor allem für Mädchen und junge Frauen im Alter bis zu 21 Jahren, die drogenabhängig sind und sich prostituieren. In der Monatszeitung Hinz & Kunzt, aber auch anderswo, können Sie gelegentlich einiges darüber lesen. Die Leiterin des Cafés berichtete einmal von einer jugendlichen Prostituierten, die seit ihrem 12. Lebensjahr in St. Georg ist und in vier Jahren ihres Anschaffens einige Tausend Freier gehabt hat. Dieses Mädchen sagte zu ihr am Muttertag, sie wäre die erste Mutter, die es je gehabt habe. 

Was für eine Kindheit hat dieses Mädchen gehabt! In ihrer Rolle als Prostituierte verdient sie nicht Geringschätzung und Verurteilung, sondern besonders liebevolle Zuwendung. 

Das Neue Testament berichtet mehrfach von Begegnungen Jesu mit Prostituierten und mit anderen Gruppen, die gesellschaftlich geächtet waren. Jesus verwehrt uns, mit dem Finger auf andere zu zeigen und auf einige abzuwälzen, woran wir ggf. selbst schuldhaft beteiligt sind und was unsere Gesellschaft insgesamt sich als Schuld zurechnen lassen müsste. 

Die Prostituierten - und die Zöllner, die oftmals im Neuen Testament wegen ihrer beruflichen Vergehen als Sünder mitgenannt werden - sollen damit nicht von ihrer eigenen Verantwortung für sich selbst entbunden werden. Das wäre ja auch eine Art von Entmündigung. Aber es dürfen nicht Einzelne und einzelne Gruppen zu Sündenböcken gemacht werden. Es lebt niemand für sich allein und aus sich selbst heraus. Und es wird niemand allein aus sich selbst heraus schuldig. Da ist immer Mitverantwortung für die Zusammenhänge, aus denen heraus Not und Schuld entsteht. 

Jesus erkennt die Not dieser Frau. Er erkennt ihr Bedürfnis nach wahrer, echter Liebe. Und er erfährt durch ihre Gesten, dass sie selbst noch liebesfähig ist. Was in ihr noch an positiven Kräften enthalten ist, das stärkt er durch seine liebevolle Reaktion. Durch den Zuspruch der Vergebung befreit er sie von der Last der Geringschätzung und Verurteilung. Er verharmlost nicht die Prostitution, sondern er nimmt die Not der Frau und ihren Hilfeschrei ernst. 

Die Frau glaubt an Jesus, an sein Verständnis, an seine Menschlichkeit, an seine Gerechtigkeit. Sie findet ihren Glauben bei ihm bestätigt. Sie geht aus dieser Begegnung gestärkt hervor. Jesus formuliert es mit den Worten: „Frau, dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin in Frieden.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 19. August 2007

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