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3.-9.7.2022


Die drinnen und die draußen

Lukas 19,10


Um darzustellen, was mit „verloren“ gemeint ist, benutzt Jesus Bilder, die eine Trennung von der Gemeinschaft beschreiben. Das Schaf löst sich von der Herde. Es bleibt eine Vielzahl von Schafen, 99 in diesem Fall, zurück. Auch der verlorene Groschen ist nicht der einzige im Besitz der Witwe. Sie hat noch mehr davon. Und der Sohn trennt sich von der Familie. Er lässt einen Bruder, den Vater - eine Mutter wird nicht erwähnt - und die Angestellten seines Vaters zurück und begibt sich allein in die Fremde.

Diese Bilder sind durchaus missverständlich, da die „Verlorenheit“ im theologischen Sinne als Qualitätsbegriff gemeint ist. Sie bezeichnet nämlich eine negative Eigenschaft: die Behaftung mit dem Makel der Sünde. Man könnte meinen, die zurückgebliebene Menge, die 99 der Schafherde, und die im Geldbeutel der Witwe verbleibenden Groschen und die Familie, die der Sohn zurücklässt, wären von diesem Makel frei. Dieser Eindruck kann sich aufdrängen, weil mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oftmals das Gefühl einhergeht, es sei mit einem alles in Ordnung. Die Übereinstimmung mit der Meinung der Mehrheit kann den Eindruck erwecken, korrekt zu denken und zu handeln. Im Strom der Vielen mitzuschwimmen, vermag den Eindruck zu vermitteln, dass die Richtung stimme. Die Zugehörigkeit zur Gruppe kann das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit über die Maßen stärken, sie kann die Zweifel an sich selbst allzu sehr reduzieren und überhaupt das kritische Bewusstsein vermindern. Sie kann einen zweifelhaften Schutz gegen die Infragestellung der eigenen Person darstellen.

Wir wissen natürlich, dass auch mit den Schafen in der Herde nicht alles in Ordnung ist. In der Geschichte vom „verlorenen“ Sohn erleben wir, dass der zu Hause gebliebene Bruder  auch kein ethisches Vorbild ist.

Wenn „verlorensein“ bedeutet „mit dem Makel der Sünde behaftet sein“, dann hätte Jesus in der Herde schon genug zu tun. Denn die Herde ist in diesem Sinne eine Ansammlung von Verlorenen. Für Jesus ist aber offenbar die Trennung von der Gemeinschaft, das Herausfallen aus der Gruppe, das Abweichen von der Generallinie ein nicht unwesentliches Motiv, gerade diesen „Verlorenen“ nachzugehen und die übrigen stehen zu lassen. Denn die von der menschlichen Gemeinschaft Getrennten sind besonders schutzbedürftig. Ihnen fehlt das Elementarste. Sie haben nicht einmal die Zuwendung, die „Sünder“ einander geben können. Sie haben nicht einmal den Halt, den Schwache einander gewähren können. Sie müssen ggf. zu ihrer „Sünde“ hinzu noch die gesammelte Verachtung derer erleiden, die nicht besser sind als sie selbst.

Ihnen also geht Jesus nach. Er hat Ihnen einen festeren Halt anzubieten als die Gruppe. Er gibt ihnen den Mut zur kritischen Selbsterkenntnis. Er gibt ihnen die Kraft, die eigene Schwachheit zu erkennen, einzugestehen und einen neuen Weg zu beschreiten, der nicht mehr der ausgetretene Pfad einer selbstgerechten Mehrheit zu sein braucht.

(Morgenandacht von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. Juni 1983)

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