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Trinitatis (12.6.22)


Das Leben und den Menschen liebevoll annehmen!

 9. Juni 1974

Trinitatis

Römer 11,33-36


„Wer ist Gott?“ Oder: „Was ist Gott?“ – „Dumme Frage“, sagen Sie vielleicht, „das wissen wir doch!“ Aber immerhin gibt es viele, die sagen: „Gott ist tot.“ Sogar Theologen sagen das. Deshalb meine ich, sollten wir uns diese Frage einmal stellen: „Wer oder was ist Gott? Können wir heute noch von Gott reden? Ist es noch nötig, von ihm zu reden? Und wenn ja, wie können wir das tun?“ Unser Predigttext, den ich vorhin als Epistel vorgelesen habe, handelt genau von dieser Frage nach Gott. Ich lese das noch einmal vor:

„Welch eine Tiefe hat Gottes Reichtum, Weisheit und Erkenntnis! Wie unerforschlich sind seine Gerichte, wie unergründlich seine Wege! Wer hat den Sinn des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas gegeben, sodass er ihm jetzt etwas zurückerstatten müsste? Von ihm und durch ihn und auf ihn zu ist alles. Ihm gebührt die Ehre in Ewigkeit.“

Wo wir von Gott reden, da reden wir über unser Leben. „Gottes Wege sind unergründlich“, damit bringen wir zum Ausdruck, wie wir unser Leben erfahren, nämlich als etwas letztlich nicht zu Verstehendes. Den Sinn unseres Lebens können wir nicht selbst erkennen.

Wir sind in diese Welt gesetzt worden durch unsere Eltern, ohne dass man uns vorher gefragt hätte. Wir sind einfach geboren worden, ungefragt. Und wir müssen wieder sterben, ob wir wollen oder nicht. Auch da werden wir nicht gefragt. Das geschieht einfach mit uns. Wir haben bestimmte Eigenschaften mitbekommen: Der eine ist groß, der andere klein, der eine dick, der andere dünn, der eine schlau, der andere weniger schlau. Auch das müssen wir hinnehmen, wie es uns gerade gegeben ist. Bis auf kleine Schönheitskorrekturen können wir da wenig dran ändern. 

Und wir sind in eine bestimmte Situation hineingestellt worden, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit der wir uns aber abfinden müssen: Wir sind als Deutsche geboren, als Kinder armer Eltern vielleicht, in einer Stadt an der See. Ob uns das nun gefällt, danach sind wir nicht gefragt worden. 

Und wenn wir dann durchs Leben gehen, merken wir, dass sich das Leben nicht nach unseren Wünschen richtet: Wir müssen arbeiten, um Geld zu verdienen. Wir müssen jeden Morgen hoch und uns abends zur Ruhe legen. Wir werden mal krank. Wir müssen mal dieses und mal jenes Unglück einstecken. Wir können zwar manches tun, um uns die Schwierigkeiten zu erleichtern; und wir können zwischen dem einen oder anderen Weg wählen. Aber im Grunde bestimmen wir das Leben nicht.

Das ist eben gemeint, wenn wir sagen: „Gottes Wege sind unergründlich.“ Wo unser Leben hinführt, unser persönliches Leben und das Leben unserer Mitmenschen, das wissen wir nicht. Darüber können wir höchstens ein wenig spekulieren. Und warum das Leben nun so verläuft und nicht anders, auch das können wir nicht ergründen. Darüber können wir uns Gedanken machen. Aber einen Sinn werden wir nicht zu erkennen vermögen.

Wenn Paulus also fragt: „Wer hat den Sinn des Herrn erkannt?“, dann ist das gar keine echte Frage. Denn es gibt nur eine Antwort: „Niemand.“ Und wenn er fragt: „Wer ist sein Ratgeber gewesen?“, dann gibt es auch nur diese Antwort: „Niemand.“

Und das bleibt wahr, auch wenn wir noch so eifrig sind: Wir werden nicht die Herren unseres Lebens. Wir bekommen das Leben nicht unter Kontrolle. Es kann einer noch so gut sein, noch so fleißig sein, noch so selbstlos, noch so nett sein, er wird vielleicht schon am nächsten Tag scheitern. 

Und es mag einer noch so faul sein, unbarmherzig, eigensüchtig, unmenschlich sein, er mag vielleicht Glück haben, mag es in seinem Leben zu Ruhm und Ehre bringen. Wie wir auch leben mögen: Wir bekommen den Lauf der Dinge nicht in unsere Hand. 

Diese Erfahrung drückt sich in der anderen Frage unseres Textes aus: „Wer hat Gott etwas gegeben, sodass er ihm jetzt etwas zurückgeben müsste?“ Auch diese Frage hat nur eine Antwort: „Niemand.“ 

Und so können wir uns hinstellen vor eine Klagemauer und die Wand anschreien und sagen: „Was soll das alles, dieses Leben und Sterben, diese Ungerechtigkeit, dieses vergebliche Mühen?“ So könnten wir gegen die Wand schreien, oder so könnten wir zu Gott rufen. Doch was kommt dann? Wenn wir uns ausgeschrieben haben, wie leben wir dann weiter?

Eines der Mädchen, die vor kurzem Abitur gemacht haben, sagte mir so ungefähr Folgendes: „Ich kann keinen Sinn im Leben erkennen. Aber das ist ja auch egal. Ich lebe einfach!“

Wenn ich es recht sehe, denken viele so wie dieses Mädchen. Ihre Antwort auf die Unerträglichkeit des Lebens ist: „Wir leben einfach.“ Und damit haben sie eine ganz bestimmte Entscheidung gefällt. Wie nämlich leben sie? Wodurch lassen sie ihr Leben bestimmt sein? 

Wenn sie sagen: „Wir leben einfach“, dann kommt doch darin zum Ausdruck, dass das Leben automatisch vor sich geht, ohne dass man seinen Sinn und seine Richtung erkannt zu haben braucht. Und das ist ja in der Tat so: Man kann gewissermaßen automatisch leben. Der eigene Körper sagt einem schon, was man zu tun hat, ohne dass man viel nachzudenken braucht. Er meldet sich, wenn er Hunger hat oder Durst, und er zwingt mich damit, mir etwas zu essen zu besorgen. Er zwingt mich damit auch, einer Arbeit nachzugehen und mir das nötige Geld für das Essen zu besorgen. Er meldet sich, wenn er müde ist, wenn er friert, wenn er sich nicht wohlfühlt. Er zeigt mir auch an, was ihm gefällt, gute Musik vielleicht, Kriminalfilme, Fußballspiele. Er meldet sich beständig und drängt mich, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er steuert damit mein Leben, ohne dass ich dabei über den Sinn all dessen nachzudenken brauche.

Und es ist nicht nur mein Körper, der mich gewissermaßen von innen heraus vorwärtsdrängt. Ich kann mich auch von außen automatisch führen lassen. Das Leben mit unseren Mitmenschen, in unserem Staat, in unserer Gesellschaft vollzieht sich ja nach gewissen Spielregeln. Wenn ich mich gegen sie vergehe, bekomme ich das schmerzhaft zu spüren, wenn ich sie befolge, werde ich das als wohltuend empfinden. Und so brauche ich auch da nicht über den Sinn nachzudenken, sondern kann mich führen lassen.

Das also kann die eine Antwort auf die Unergründlichkeit des Lebens sein: Da ich nun einmal geboren bin und leben muss, aber nicht weiß, warum und wie, lasse ich mich von den Bedürfnissen meines Körpers und von den Spielregeln der Gesellschaft führen. Das ist verhältnismäßig einfach. Wenn ich dabei gut fahre, freue ich mich des Lebens, wenn ich in Schwierigkeiten gerate, verfluche ich das Leben.

Das ist eine Antwort. Es gibt noch weitere Möglichkeiten. Es gibt manche, die sagen: „Das Leben hat keinen Sinn, und deshalb ist alles egal. Deshalb gibt es weder gut noch böse und alles ist erlaubt.“ Sie haben vor nichts mehr Respekt und verfolgen rücksichtslos ihre persönlichen Ziele. 

Und noch weitere Möglichkeiten gibt es. Wo ich keinen Sinn erkenne, kann ich doch versuchen, Gesetzmäßigkeiten im Ablauf des Lebens zu entdecken, die vielleicht ein Zeichen sein könnten für den verborgenen Sinn dieses Daseins. Und ich könnte versuchen, mein Leben auf diese Gesetzmäßigkeiten einzustellen und mir damit das Gefühl eines sinnvollen Lebens zu verschaffen. So können zum Beispiel die Marxisten ein zielstrebiges Leben führen. Sie meinen, den Lauf der menschlichen Geschichte zu kennen. Sie meinen, mit wissenschaftlichen Methoden die Gesetzmäßigkeit erkannt zu haben, mit der sich die menschliche Geschichte notwendig auf ein ganz bestimmtes Ziel zubewegt. Und sie sehen es als die Aufgabe des Menschen an, sich in diese Gesetzmäßigkeit einzufügen. Dadurch erhält das Leben des Menschen Sinn und Ziel.

Auch das ist eine Antwort auf die Unergründlichkeit des Lebens oder, wie wir theologisch sagen können, auf die Unergründlichkeit Gottes.

Als Christen haben wir eine Antwort, die sich von den vorhergehenden deutlich unterscheidet. Als Christen geben wir unsere Antwort von Jesus Christus her. Er hat nichts daran geändert, dass Gott unergründlich ist, aber durch ihn ist uns die Möglichkeit gegeben, mit dieser Erkenntnis auf eine, ich möchte sagen, würdige Weise zu leben. Es heißt: In Jesus Christus ist Gott zum Menschen geworden. Und wir sind aufgerufen, in jedem Menschen Gott zu erkennen. Das heißt, wir sind aufgerufen zu einem Wagnis, zu dem Wagnis nämlich, unser Leben für die Menschen einzusetzen, für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Wir sind aufgerufen, „Ja“ zu sagen zum Leben, das Leben anzunehmen mit aller Freude und mit allem Leid, das Leben als eine Aufgabe zu verstehen, die es zu erfüllen gilt zum Segen der Menschen. Gott ist in Jesus Christus zum Menschen geworden, will sagen: Wir können uns ganz dem Menschen zuwenden, ihn annehmen mit seinen Stärken und Schwächen.

Lassen Sie mich das noch einmal anders sagen. Es bleibt dabei: Wir sind geboren worden und wir müssen sterben. Den Sinn kennen wir nicht. Gott bleibt unergründlich. Aber jetzt sagen wir nicht: „Es ist alles gleichgültig.“ Und wir nehmen das Leben nicht auf uns als eine bedrückende Last, und wir lassen uns nicht einfach vorwärtstreiben durch die Zwänge, die uns unsere natürlichen Bedürfnisse und die gesellschaftlichen Verhältnisse auferlegen. Und wir versuchen auch nicht, uns an wissenschaftliche Vermutungen über den Sinn des Lebens zu klammern. 

Nein, all das tun wir nicht, sondern wir lassen uns zu dem Wagnis aufrufen, unser Leben mit Entschlossenheit für uns Menschen zu leben. Es heißt: „Gott hat die Menschen geliebt. Darum ist er in Jesus Christus erschienen.“ Und es heißt weiter: „So wie er uns geliebt hat, so sind wir aufgerufen, diese Liebe anzunehmen und zu erwidern.“ Und da uns Gott in den Menschen begegnet, sind wir aufgerufen, die Menschen zu lieben.

„Wer oder was ist also Gott?“ Mit Gott meinen wir das, wodurch wir unser Leben bestimmt sein lassen. Und wir lassen unser Leben von dem Aufruf bestimmt sein, der in Jesus Christus an uns ergangen ist, den Aufruf, die Menschen zu lieben. Deshalb sprechen wir auch vom lieben Gott.

Diesem Aufruf zu folgen ist ein Wagnis, und dieses Wagnis nennen wir den christlichen Glauben. Es ist ein Wagnis, weil unsere täglichen Erfahrungen diesen Aufruf als einen blanken Hohn erscheinen lassen. 

Wir kennen uns doch, uns Menschen. In unserer ganzen menschlichen Geschichte haben wir eine Untat an die andere gereiht. Wenn wir ein Buch aufschlagen über die großen Ereignisse der Weltgeschichte, dann lesen wir von Kriegen. Und unser tägliches Leben ist ein Abbild dieser Geschichte. Wegen dieser gegenteiligen Erfahrungen ist es keine leichte Sache, den christlichen Glauben zu leben. Die täglichen Erfahrungen drohen uns immer wieder umzuwerfen. Wir sind immer von Resignation und Illusion bedroht. 

In der Sprache der Christen, die uns den Glauben überliefert haben, heißt es deshalb: „Wir bedürfen der Stärkung durch den Heiligen Geist.“ Und deshalb sind für den christlichen Glauben diese drei Dinge wichtig: Gott der Vater, Gott der Sohn Jesus Christus und der Heilige Geist. Uns darauf zu besinnen, ist der Sinn dieses Sonntags, der Trinitatis heißt, Tag der Dreifaltigkeit. 

Der christliche Glaube ist eine schöne Sache, denn er ist ein Weg, das Leben und die Menschen zu lieben. Es ist der Glaube an den lieben Gott. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 9. Juni 1974)

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