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1. Sonntag nach dem Christfest (29.12.19)


Das Kind jüdischer Herkunft ist für alle geboren

30. Dezember 1984

Sonntag nach Weihnachten

Lukas 2,25-38


Nach dem Weihnachtsfest richtet sich unser Blick auf die Ereignisse, die dem Geschehen der Heiligen Nacht folgten. Was ereignete sich, nachdem das Kind in Bethlehem geboren war? Wie ging es weiter?

Der Evangelist Lukas, wie überhaupt die Evangelien, auch Matthäus, Markus und Johannes schildern die Ereignisse, den Werdegang Jesu nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Vielmehr deuten sie die Ereignisse, die ihnen aus dem Leben Jesu überliefert sind. Welche Bedeutung hat dieser Mensch, der da in Bethlehem geboren ist, bekommen? Wer die vier Evangelien sorgfältig vergleicht, wird feststellen, dass bei vielen Ähnlichkeiten die Evangelisten die Bedeutung Jesu auf ihre je eigene Art, also recht verschieden voneinander, darstellen.

Das ist manchmal schon an Kleinigkeiten festzustellen. Dafür möchte ich ein Beispiel nennen. Zu den langweiligsten Texten der Evangelien gehören die sog. Genealogien, also das, was wir auf Deutsch „Stammbäume“ nennen. Matthäus und Lukas führen in ihren Evangelien den Stammbaum Jesu auf. Es ist verständlich, dass kaum ein Mensch sich dazu überwinden kann, diese langen und langweiligen Listen durchzulesen, wer von wem abstammte. Wer aber wenigstens einmal nachgesehen hat, von welchem Menschen Jesus letztlich abstammte, der wird festgestellt haben, dass diesbezüglich die Stammbäume bei Matthäus und Lukas voneinander abweichen, und man muss hinzufügen: charakteristisch voneinander abweichen. Matthäus führt den Stammbaum Jesu auf Abraham zurück. Lukas dagegen zieht die Linie weiter zurück bis auf Adam.

Der kleine Unterschied ist typisch für die unterschiedliche Darstellung der Bedeutung Jesu in den Evangelien des Matthäus und Lukas. Abraham ist der Stammvater des Volkes Israel, der Gründer des Volkes Israel, wenn man so will. Adam ist der erste Mensch, der Begründer der Menschheit. Wir können also Folgendes feststellen: Indem Matthäus den Stammbaum Jesu auf Abraham, den Stammvater des Volkes Israel zurückführt, betont er die Bedeutung Jesu für eben das Volk Israel, für die Juden.

Lukas dagegen, indem er die Linie der Vorfahren Jesu bis auf Adam zurückverfolgt, stellt die Bedeutung Jesu für die ganze Menschheit heraus. Wenn wir die Evangelien weiter durchlesen, stellen wir fest, dass dieser Unterschied tatsächlich charakteristisch ist für jeweils das ganze Evangelium. Lukas liegt besonders daran aufzuzeigen, dass Jesus nicht eine innerisraelitische, innerjüdische Angelegenheit geblieben ist, dass er viel mehr für alle Menschen gekommen ist.

Ich stelle dies heraus, weil der Text, der uns heute aus dem Evangelium des Lukas für die Predigt aufgegeben ist, nun allerdings sehr den jüdisch-israelitischen Ursprung Jesu herausstellt. Maria und Josef bringen Jesus wenige Wochen nach seiner Geburt zum Tempel in Jerusalem. Das Kind wird dort nach jüdischem Ritus beschnitten; die Eltern bringen im Tempel ein Opfer dar. Lukas, dem es besonders um die universelle Bedeutung Jesu geht, stellt demnach heraus, dass die Eltern Jesu mit ihrem Kind ganz nach jüdischer Sitte verfahren sind. Sie haben die Vorschriften des jüdischen Gesetzes genau erfüllt.

Was sich dann des Weiteren im Tempel abspielt, liegt zunächst ebenfalls auf dieser Linie. Da ist von zwei hochbetagten Menschen die Rede, die in dem Kind Jesus die Erfüllung ihrer Erwartungen erblicken. Es handelt sich dabei nicht um persönliche Erwartungen, sondern um solche nationaler Art. Simeon hatte, wie er sagt, auf den Trost Israels gewartet, und Hannah auf die Erlösung Jerusalems.

Wir sind geneigt, Trost und Erlösung als individuelle Begriffe zu verstehen, als etwas, das mit unserem persönlichen Innenleben zu tun hat. Aber schon die Hinzufügungen „Israel“ und „Jerusalem“ machen deutlich, dass es hier nicht um bloß Persönliches, sondern um eine Sache des ganzen Volkes geht. Und dies kommt schließlich auch in einem anderen Begriff zum Ausdruck, mit dem Simeon die Erfüllung seiner Erwartung bezeichnet, und der Jesus dann als Beiname gegeben wurde. Simeon spricht davon, dass er in Jesus den Christus erkannt habe. Diese Bezeichnung „Christus“ ist gleichbedeutend mit dem alttestamentlichen „Messias“, und hiermit ist der „König“ gemeint.

In dem Begriff Messias ist die Hoffnung des Volkes Israel auf einen Trost, eine Erlösung nationaler politischer Art enthalten, dass nämlich ein König kommen möge, der dem Volk Israel endlich dauerhaften Frieden und Freiheit von Fremdherrschaft bringen möchte.

Zur Zeit Jesu waren es die Römer, die das Land besetzt hielten. In den Jahrhunderten zuvor hatte eine fremde Macht nach der anderen sich als Besatzungsmacht in Israel abgelöst. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass Simeon und Hannah Erwartungen solcher Art gehabt haben und diese in dem Kind Jesus erfüllt sehen, wenn sie in ihm den Trost Israels und die Erlösung Jerusalems gekommen sehen.

Obwohl es Lukas darauf ankommt, die Bedeutung Jesu für alle Menschen darzustellen, unterlässt er es also dennoch nicht aufzuzeigen, dass dieses Kind als jüdisches aufgewachsen ist und zunächst in einem israelitisch-jüdischen Kontext verstanden wurde und auch von uns so verstanden werden muss.

Während des Dritten Reiches hatte es den untauglichen Versuch gegeben nachzuweisen, dass Jesus in Wirklichkeit gar kein Jude gewesen sei. Man hatte versucht, das Augenmerk darauf zu richten, dass Jesus von den Juden umgebracht worden ist.

Wir spüren dagegen bei Lukas, dass dieser in einer geradezu liebevollen Art den jüdischen Ursprung Jesu darstellt und uns damit darauf aufmerksam macht, dass der Jesus, der schließlich zum Heiland aller Menschen geworden ist, seinen Anfang in einem bestimmten Volk genommen hat. Und ich möchte hinzufügen, dass das Wissen um diesem Zusammenhang ein Grund sein sollte, dem jüdischen Volk in einer besonderen Weise verbunden zu sein.

Nun ist Jesus also auch zum Heiland aller Menschen geworden. Auch dies klingt in den Worten des Simeon immerhin an, wenn er in seinem Lobpreis formuliert: „Meine Augen haben den Heiland gesehen, den du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden.“

Hier stellt sich nun eine ganz grundsätzliche Frage. Wenn die Bedeutung Jesu zunächst von den Erwartungen des Volkes Israel, von den Juden her zu verstehen ist, Erwartungen, wie sie zum Beispiel in der Bezeichnung Christus, Messias enthalten sind, aber auch wie sie in den Überlegungen des Paulus zum Ausdruck kommen, wie ist dann die Bedeutung Jesu einzuschätzen, nachdem er die Grenzen des jüdischen Volkes und der jüdischen Religion überschritten hat?

Noch einmal konkreter gefragt: Was bedeutet Jesus uns, uns als Deutsche und auch uns als einzelne Menschen? In unserem Volk ist ja nicht die Hoffnung auf einen Messias lebendig gewesen und wir haben auch keine Gesetzesreligion gehabt, was für Paulus die Grundlage gewesen ist, um die Bedeutung Jesu darzustellen.

Und die Frage hinsichtlich der universellen Bedeutung Jesu ist ja auch nicht nur: Was bedeutet uns Jesus als Deutsche? Er ist ja in vielen Völkern bekannt geworden, die alle ihre eigenen Voraussetzungen, ihre eigene Geschichte und Kultur haben. Was hat Jesus den Menschen in den jeweils unterschiedlichen Völkern zu sagen. Das kann im Konkreten ja nicht immer dasselbe sein. Wir werden geneigt sein, nach dem allgemeinen Menschlichen zu suchen, nach dem, was allen Menschen gemeinsam ist, nach den Problemen, vor denen jeder Mensch steht: zum Beispiel dem Problem des Todes, den Problemen des Alterns, der Krankheit, der Schuld, der letztlichen Unverfügbarkeit unseres Lebenslaufes, der Undurchschaubarkeit unseres Daseins. Solche existenziellen Probleme verbinden uns alle in unserer Art als Menschen, und wir können fragen: Hat uns dieser Jesus nicht uns allen etwas Gemeinsames zu sagen?

Diese existentiellen Probleme sind durchaus eine Grundlage, auf der wir uns über die Grenzen hinweg auf ein gemeinsames Verständnis der Bedeutung Jesu verständigen können. Was hat uns Jesus zum Beispiel in Bezug auf das Problem des Leidens zu sagen? Da lernen wir doch z. B. die Vorstellung von einem allmächtigen Gott in einem neuen Licht zu sehen. An der Person Jesu erleben wir, dass unsere Vorstellung von einem allmächtigen Gott nicht mehr in der Erwartung bestehen kann, dass er allem Leid ein Ende setzt. In der Person Jesu lernen wir als ein Wesensmerkmal Gottes das Mitleiden begreifen. Gott ist nicht mehr nur derjenige, von dem wir erwarten können, dass er Leid abschafft und von vornherein verhindert. Gott stellt sich uns in Christus als einer dar, der mitleidet, und darin z. B. mag Christus für jeden Menschen zum Erlöser werden. Zum Erlöser nämlich für alle, die angesichts von Not und Elend der Welt an Gott irre zu werden drohen. Christus versöhnt mit Gott, den wir durch ihn als den Mitleidenden begreifen.

Und noch in einer anderen Hinsicht können wir Jesus als den Erlöser für alle Menschen verstehen, was nämlich den Zusammenhang von Leid und Schuld anbetrifft. Auf die uns alle bewegende Frage, wie weit unser Leid seine Ursache wohl durch unsere eigenen Verfehlungen schuldhaft verursacht sein mag, gibt Christus eine erlösende Antwort. Die menschliche Schuld zwar bejahend stellt er doch heraus, dass damit noch nicht das Urteil über den Menschen gesprochen ist: Gnade geht vor Recht, Vergebung vor Verdammung.

So lernen wir durch Christus einen barmherzigen, gütigen und gnädigen Gott kennen. Und wenn damit auch längst nicht unsere Probleme gelöst sind und wir auch noch längst nicht unser Dasein zu durchschauen vermögen, so hat das, was da in Israel einst seinen Anfang genommen hat, doch einen neuen Zugang zu unserem Leben eröffnet.

Das biblische Zeugnis von Christus hat uns auf einen neuen Weg gebracht. Gehen müssen wir auf diesen Weg selbst, jedes Volk auf seine Art überall auf der Welt.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 30. Dezember 1984)

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