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Karfreitag (10.4.20)


Uns ist eine Last abgenommen

18. April 2003

Karfreitag

2. Korinther 5,17-21


Jesus Christus ist für uns gestorben - zu unserer Befreiung, zu unserer Erlösung, zu unserer Entlastung. Gott hat sich des Menschen erbarmt und hat in Christus auf sich genommen, was er dem Menschen auferlegt hatte. Gott hat dem Menschen eine Last abgenommen, die sich für den Menschen als zu schwer erwiesen hat. 

Der Mensch ist mit diesem Dasein überfordert. Der Mensch ist mit sich selbst überfordert. Das Dasein und das Menschsein sind Lasten, die der Mensch nicht gut allein tragen kann. 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, er schuf die Natur, er schuf den Menschen und sprach: „Siehe, es ist sehr gut.“ Doch bald kam der Schöpfer zu dem Schluss, dass gar nicht alles so gut war. „Als Gott sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde."

So muss es wohl im Herzen Gottes, des Schöpfers, ausgesehen haben, dachten sich Menschen, nachdem sie schon lange mit Staunen und Entsetzen die immer neuen Untaten beobachtet hatten, mit denen Menschen einander, ja, sie selbst einander immer wieder Leid zufügten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die katastrophalen Regenfälle und Überschwemmungen, von denen ihre Vorfahren berichtet hatten, wohl ein Versuch des Schöpfers gewesen sein müssten, die Schöpfung „Mensch“ zu korrigieren und noch einmal von vorn zu beginnen. 

Eine Besserung war aber nicht eingetreten. Menschen taten weiter Unrecht und fügten weiter einander Leid zu. Und sie sahen den Regenbogen am Himmel und nahmen ihn als Zeichen dafür, dass Gott, der Schöpfer, seine Schöpfung nicht noch einmal so gänzlich zunichte machen würde, dass er vielmehr auf andere Weise dem Tun des Bösen begegnen würde: mit Geboten und Verboten - der Mensch solle wissen, was er tun dürfe und zu unterlassen habe - und mit Strafen und Belohnungen, mit den Mahnungen und Warnungen der Propheten, mit Drohungen und Verheißungen. 

Aber die Bilanz sah am Ende nicht anders aus als am Anfang: „Der Menschen Bosheit blieb groß auf Erden.“ Hatte der Schöpfer sein Geschöpf „Mensch“ überfordert? War der Mensch, ja, ist der Mensch nicht überfordert mit diesem Dasein, mit sich selbst?

Ist der Mensch nicht überfordert mit einem Dasein, das er nicht selbst geschaffen hat, dessen Bedingungen er nicht geschaffen hat und dessen Zusammenhänge er nicht versteht, so sehr er auch nachdenkt, so sehr er auch forscht?! Ist er nicht überfordert mit einem Dasein, das in seinen räumlichen Dimensionen so gewaltig, in seinen zeitlichen Dimensionen so unendlich ist und das in seinen Anforderungen so kompliziert, so schwierig ist, dass auch nicht der Hauch einer Möglichkeit besteht, dies alles zu erfassen und zu bewältigen?! 

Und ist er Mensch nicht mit sich selbst überfordert, wo er doch auch sich selbst nicht erschaffen hat?! Ist er nicht überfordert mit dem Leib, der ihm gegeben ist, mit all den Bedürfnissen und Begierden, mit all den Empfindlichkeiten, und den schwer bis gar nicht kontrollierbaren Regungen des Kopfes und des Herzens?!

Ist der Mensch nicht überfordert mit all den unbeantwortbaren Fragen, den unlösbaren Problemen, den unerklärlichen Geheimnissen, den unerfüllbaren Aufgaben, dem unerträglichen Leid, den unverfügbaren Vorgängen, der unvorhersehbaren Zukunft, dem unergründbaren Sinn?!

Ja, der Mensch ist überfordert mit diesem ihm ungefragt auferlegten Dasein und seiner ihm ungefragt auferlegten Art. Der Mensch ist überfordert, und Gott, der Schöpfer, hat ihm schließlich einen Teil der Last wieder abgenommen, die er ihm mit seiner Erschaffung zugemutet hat. 

Vielleicht hatte der Schöpfer ihm das alles so gar nicht auferlegt und zugemutet. Aber sein Geschöpf „Mensch“ hatte wohl lange gemeint, er müsse diese Last tragen, er müsse selbst wie der Schöpfer sein, er müsse selbst alles können, alles verstehen, alles gut machen, alles verantworten.

Der Mensch ist überfordert, und er hat sich selbst überfordert. Der Mensch leidet am Dasein und an sich selbst. Und er bereitet sich selbst und anderen viel Leid - und kann sich von diesen Lasten nicht befreien. 

Darum ist schließlich Gott selbst gekommen. Vor 2000 Jahren haben Menschen ihn erkannt - in einer menschlichen Gestalt, in jenem Jesus von Nazareth. Gott selbst haben sie erkannt in ihm, in seinem Tun, in seinem Reden, in seinem ganzen Wirken, seinem Leben, seinem Leiden, seinem Sterben, seinem Auferstehen. 

Gott selbst ist in die Niederungen dieses Daseins hinabgestiegen, hat sich selbst den Bedingungen seiner Schöpfung ausgesetzt und hat leibhaftig mit durchlitten, was die von ihm geschaffenen Geschöpfe von Anbeginn der Schöpfung haben durchleiden müssen. 

Er hat die Nöte und Sorgen seiner Eltern erlebt, die Versuchungen des heranwachsenden Menschen, den Hunger nach Speise, den Hunger nach guten Worten, die Schmerzen der Krankheit, die Trauer über den Verlust geliebter Menschen. Er hat die Bedrohung des eigenen Lebens erlebt, die Zweifel, die Fragen, die Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Frage von Schuld und Vergebung, die Frage nach dem Rechten und dem Unrechten. Er hat die Einsamkeit erlebt, das Problem der Gewalt, das Problem von Freund und Feind, von Wohlergehen und Elend, von Verstehen und Nichtverstehen.

Er hat das alles selbst durchlebt und erfahren, wie schwer es dem Menschen fällt, mit dem Leben und mit sich selbst zurechtzukommen, und wie schwer es dem Menschen fällt, das Gute und das Rechte zu tun. 

Da hat sich Gott seiner Kreatur „Mensch“ erbarmt. Er hat ihn von der Vorstellung befreit, er müsse alles wissen und können, er müsse das alles tadellos bewältigen und er müsse das alles verantworten. 

Gott sagt seiner Kreatur Mensch: „Wirf alles auf mich, was dich belastet. Ich will es tragen. Wirf deine Sorgen und Nöte, deine Ängste, deine Fragen und Zweifel, dein Versagen, deine Schuld - wirf alles auf mich. Ich will es tragen. Du, Mensch, bist meine Kreatur, du darfst Kreatur sein, du bist meine geliebte Kreatur. Du darfst schwach sein, du darfst Fehler machen, du darfst versagen, du darfst schuldig werden, du darfst Verantwortung abgeben. Du musst nicht „Ich“ sein. Du musst nicht Gott selbst sein. Du musst nicht auch sein wie Gott. Ich bin dein Gott und du bist mein Geschöpf, mein geliebtes Geschöpf. Lass mich dein Gott sein. Lass dich lieben, lass dir helfen, lass dir vergeben. Wirf alles auf mich und lass mich dich befreien. Ich nehme alles auf mich.“ Das sagt Gott dem Menschen in Jesus Christus vom Kreuz herab. 

Dem Menschen ist eine Last abgenommen. Der Mensch darf Geschöpf sein und darf sich zu seinen Grenzen als Geschöpf bekennen. Er ist damit nicht entmündigt. Er behält seine Würde. Er behält die Freiheit der Entscheidung. Er bleibt verantwortlich für sein Tun. Alle Gebote und Verbote, alle Mahnungen, Warnungen, Drohungen, Verheißungen gelten auch weiterhin. Aber nach jedem Scheitern soll der Mensch immer wieder neu beginnen dürfen. Aus jedem Untergang soll er neu auftauchen dürfen zu neuem Leben. Wenn die Sonne untergeht und wir die Kleidung ablegen, dann dürfen wir auch ablegen, was uns am Tag belastet hat. Und wenn die Sonne aufgeht, dann dürfen auch wir uns frei erheben mit neuer Lebenskraft und Freude. 

So ist das Kreuz zu einem Zeichen der Entlastung, zu einem Zeichen der Befreiung, der Erlösung geworden. Der Schöpfer hat sich seines schwachen Geschöpfes „Mensch“ erbarmt. Er hat sein fehlerhaftes Geschöpf nicht noch einmal in einer Sintflut vernichten wollen. Er hat sich selbst zu Tode bringen lassen. Als hätte sich der Schöpfer für seine fehlerhafte Schöpfung „Mensch“ selbst bestraft, so lässt er sich in der menschlichen Gestalt des Jesus von Nazareth hinrichten. 

Vom Anblick der Hinrichtung geht ein Schrecken aus. Unsere Augen werden uns geöffnet über uns selbst. Wir sind niedergedrückt. Wir spüren unser Versagen, unsere Ohnmacht. Wir spüren unsere Ratlosigkeit, die Unbegreiflichkeit des Geschehens. Wir spüren die Last der Schuld, aber wissend, dass dies nicht das Ende ist, dass die Entlastung bevorsteht, dass wir bereits entlastet sind. Wir erblicken im Kreuz bereits das, was sich für die Jünger erst zu Ostern offenbaren wird: das Geschenk eines neuen, befreiten, fröhlichen Lebens.

Und so können wir dann durchs Leben gehen: belastet und doch erleichtert, traurig und doch getröstet, nach dem Weg suchend und doch geführt, tastend nach Halt, doch stets geborgen, schuldig, doch niemals verdammt, beständig vom Ende bedroht, zugleich und immer mit einem Anfang beschenkt.

Das Leben ist nicht leicht, wir haben es schwer und wir machen es uns schwer. Gott hat uns eine Last abgenommen. Lassen wir uns befreien und helfen wir einander, das Leben zu bestehen - im Geiste dessen, der sich unser erbarmt und sich für uns hingegeben hat. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 18. April 2003)

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