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2. Sonntag nach dem Christfest (5.1.20)


Hoffnung ohne Illusionen

5. Januar 2020

2. Sonntag nach Weihnachten

Jesaja 61,1-3(4-9)10-11


Ein gutes, schönes, friedvolles, gesegnetes neues Jahr wünsche ich Ihnen allen. 

Mit diesem Wunsch sind wir schon beim Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem Propheten Jesaja im 61. Kapitel. Denn auch da geht es um das neue Jahr. "Ein gnädiges Jahr" verkündet der Prophet: "Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn." 

Das sagt der Prophet Jesaja: "Er hat mich gesandt, den Elenden eine gute Botschaft zu bringen." 

Wir brauchen alle eine gute Botschaft, gute Worte, die uns gestärkt und zuversichtlich ins neue Jahr hineingehen lassen. 

Wir haben eine gute Botschaft, wir haben gute Worte, die uns überliefert sind über die Jahrtausende. Sie sind aufgeschrieben, sie wollen immer wieder ausgesprochen werden, sie wollen etwas bewirken. Sie sind nicht immer leicht zu verstehen. Sie müssen ausgelegt werden für uns heute, damit wir ihren guten Sinn erkennen und sie sich in uns entfalten können und zur Wirkung kommen und für uns hilfreich werden in unserem Leben, für uns ganz persönlich, für uns alle gemeinsam und für unser ganzes weltweites Miteinander. 

Morgen haben wir den 6. Januar, Epiphanias, den Tag der Heiligen drei Könige. Es sind damals, so beschreibt es der biblische Text aus dem Matthäusevangelium, Menschen von weither gekommen, um denjenigen zu sehen und zu ehren, von dem sie meinten und hofften, das sich in ihm die guten Worte, die gute Botschaft für alle Welt verkörpern würden. Ihre Hoffnung sollte sie nicht getäuscht haben. 

Die biblischen Autoren schildern, dass da ein Kind geboren worden war, das schon im jugendlichen Alter mit seinen guten Worten die Erwachsenen zutiefst beeindruckte und das dann im Erwachsenenalter mit seinen guten Worten und Taten und seinem ganzen Verhalten viele Menschen in ihrem Innersten so tief zu berühren verstand, dass sie die gute Botschaft geradezu weitergeben mussten. So ist sie bis in unsere Tage überliefert. Und heute sind wir wieder hier, um sie zu hören und zu überlegen, was sie uns zu sagen hat und wie wir sie für uns, für unser Leben, für unser aller Leben dienlich werden lassen können. 

Die gute Botschaft – mit dem aus dem Griechischen stammenden Wort nennen wir sie das "Evangelium". 

Ja, wir haben eine gute Botschaft. Sie wird von manchen nicht mehr so recht verstanden. Aber sie ist so unendlich wertvoll, dass sich jede Mühe lohnt, sie immer wieder zur Sprache zu bringen, sie anschaulich zu gestalten und sie zur Wirkung zu bringen. 

Sie ist so wunderbar, ja, fast zu gut für diese Welt, dass mancher meint, sie allein schon deswegen nicht ganz ernst nehmen zu können. Die Liebe zum Menschen, die Nächstenliebe, die Feindesliebe gar – das ist für manche einfach zu viel des Guten. Das passt für manche, ja, für viele, nach all den täglichen Erfahrungen und nach dem Blick in die ganze menschliche Geschichte einfach nicht in diese Welt. "Das mag für eine jenseitige Welt gelten, aber doch nicht für uns hier und jetzt." So mag das der eine oder andere empfinden. Und Politik lasse sich damit schon gar nicht gestalten. 

Der alttestamentliche Prophet Jesaja wird damals – zweieinhalbtausend Jahre ist das her – auch auf skeptische Ohren und Herzen und Hirne gestoßen sein. Was hatte das Volk Israel in seiner langen Geschichte bis dahin nicht schon alles an Schrecklichem erlebt?! Jesaja spricht zu seinen Landsleuten im Exil, in der babylonischen Gefangenschaft. Er macht ihnen Hoffnung, dass sie würden zurückkehren können in ihre Heimat Israel, nach Jerusalem und dass sie dort den Tempel wieder würden aufbauen können. 

Skeptiker werden für ihre Skepsis jede Menge Argumente aus der Geschichte des Volkes haben anführen können. Die Exilierten konnten dann zwar tatsächlich in ihre Heimat zurückkehren. Aber wenn wir einmal die Geschichte der Israeliten, die Geschichte der Juden bis auf den heutigen Tag bedenken – haben die Skeptiker dann nicht letztlich doch Recht gehabt? Und wenn wir den ganzen Lauf der Weltgeschichte bedenken – müssen wir dann nicht zu dem Schluss kommen: Im Grunde haben die Skeptiker immer Recht!? 

Es gibt zwar auch mancherlei – und immer mal wieder – auch gute Entwicklungen, aber sind sie nicht eher die Ausnahme? Wir haben jetzt fast 75 Jahre Frieden in unserem Land – wann hat es jemals eine so lange Phase des Friedens in unserer Region gegeben? Weltweit betrachtet hat sich auch in diesem letzten dreiviertel Jahrhundert ununterbrochen ein Krieg an den anderen gereiht. 

Das klingt furchtbar, wenn ich das sage. Wenn jemand Hoffnung zu machen versucht, ist es darum wichtig, dass wir die Hoffnung von der Illusion unterscheiden. 

Die biblischen Texte sind von vorne bis hinten völlig illusionslos. Aber sie sind von Anfang bis Ende voller Hoffnung. 

Die biblischen Texte überliefern uns eine ungeschönte Betrachtung des Menschen und der Geschichte des Volkes Israel und überhaupt des ganzen Daseins. Sie liefern uns – illusionslos – eine ungeschönte Betrachtung, aber sie liefern uns eben auch das real existierende Schöne und Gute. Und das ist die Grundlage der Hoffnung. Und die Hoffnung ist die Kraft unseres Lebens. Sie zeigt uns die Richtung auf das Ziel hin, auf das hin sich – im besten Sinne des Wortes – zu leben lohnt. 

Welche Bilder haben wir vor Augen, wenn wir das Leben betrachten, wenn wir uns unser Leben anschauen, wenn wir in die Geschichte zurückblicken, wenn wir das ganze Dasein in den Blick nehmen? Welche Bilder betrüben uns und welche Bilder erhellen unser Gemüt und erfüllen uns mit Freude am Leben und mit Kraft zum Engagement auf ein Ziel hin, das uns sinnvoll und der ganzen Hingabe wert erscheint? Jesaja malt seinen Landsleuten Bilder vor Augen wie diese: "Schmuck statt Asche", "Freudenöl statt Trauer", "schöne Kleider statt eines betrübten Geistes" und "Bäume der Gerechtigkeit". 

Ein Kollege sagte mir kürzlich – er hatte einen Erwachsenen aus einem anderen Kulturkreis zu taufen – er sagte: "Was den Betreffenden, der sich taufen lassen wollte, am christlichen Glauben so besonders und zutiefst beeindruckt hatte, waren die Worte Jesu am Kreuz: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ 

Dieses Bild: Jesus am Kreuz, und diese, seine Worte: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" – wenn dieses Bild und diese Worte die Grundlage für unser menschliches Miteinander wären – im Kleinen wie im Großen und Weltweiten – wäre das nicht ein Segen für uns alle?

Der Verzicht auf Vergeltung. Der beständige Versuch, das Böse mit Gutem zu überwinden. Die illusionslose Einsicht in ein Wesensmerkmal menschlichen Verhaltens, das einen immer wieder fragen lässt: "Weißt du eigentlich, was du da tust?" Und die unerschütterliche Hoffnung, dass trotz all des Irrsinns das Gute und Schöne immer wieder erblühen kann. "Die Liebe ist stärker als der Tod", das ist die Botschaft, die von dem Gekreuzigten ausgeht. 

Wenn immer wieder Mann und Frau sich ganz bewusst wünschen, gemeinsam ein Kind zu bekommen, können wir auch das als eine hoffnungmachende Botschaft nehmen. Der Kinderwunsch erwächst nicht aus der Illusion, ein makelloses Wesen zur Welt bringen zu können. Dass mit Kindern erheblicher Stress verbunden sein kann, verbunden sein wird, und mit Enttäuschungen, das ist Mann und Frau im Vorwege klar. Und trotzdem sind sie erfüllt von der Hoffnung, dass es ein schönes Miteinander werden wird, und sind erfüllt von der Bereitschaft, ihr Bestes zum Gelingen zu geben. 

Das ist Hoffnung ohne Illusionen. Dieses elterliche liebevolle Ja zum eigenen Kind ergeht in der christlichen Botschaft in allumfassender Weise an alle Menschen: ein illusionsloses, aber hoffnungsvolles, liebevolles Ja zu jedem einzelnen Menschen. Der Schöpfer erweist seinem Geschöpf Mensch seine Gnade. "Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt", so formuliert es Jochen Klepper in seinem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen", das wir gleich singen werden.

Diese Botschaft immer wieder weiterzusagen und zu feiern und zu gestalten und sie erfahrbar zu machen, das ist Auftrag der Kirche. Darum ist Kirche so wichtig. Und darum ist es so schade, dass Kirche im Augenblick einen so schweren Stand hat in der Gesellschaft – und vielleicht selbst allzu sehr dazu beiträgt, dass viele Menschen nicht mehr so recht wissen, was es mit der Kirche und ihrem Anliegen auf sich hat.

Es ist ein Jammer, verzeihen Sie, wenn ich das jetzt etwas emotional sage, dass mancherorts Kirchen geschlossen oder umgenutzt oder gar abgerissen werden. 

Die Bibel ist zugegebenermaßen kein einfaches Buch. Und was sich in den zweitausend Jahren Kirchengeschichte abgespielt hat, ist in vielerlei Hinsicht keine gute Werbung für die Kirche.

Aber das Anliegen von Kirche ist und bleibt unendlich wichtig: das sehr liebevolle und hoffnungsvolle Ja zum Leben und zum Menschen auf dem Hintergrund einer illusionslosen Wahrnehmung des menschlichen Wesens und der menschlichen Geschichte und überhaupt des ganzen Daseins. 

Über der Krippe im Stall von Bethlehem schwebte von Anfang an das Kreuz. Ist es nicht geradezu unglaublich, dass in jener Zeit, die so voller Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten war, ein Mensch, der all die Nöte und Probleme, die Ungerechtigkeiten und Schrecklichkeiten am eigenen Leib erfahren hatte, ein so liebevolles Verhältnis zum Leben und zum Menschen hat entwickeln und leben und über den Tod hinaus hat durchhalten und zur Botschaft seines Wirkens hat werden lassen können? Ja, das ist geradezu unglaublich: das liebevolle Ja zum Leben und zum Menschen. 

Es könnte einer sagen: Die Liebe ist zu gut für diese Welt. Ja, sie hat etwas Überweltliches. Sie ist zu einem erheblichen Teil mehr Sehnsucht als Realität. Aber sie ist etwas so Wunderbares, dass wir nicht von ihr lassen können und nicht von ihr lassen sollten. 

Wie schrecklich wäre es, wenn wir nicht mehr an die Liebe zu glauben vermöchten! Sie ist der Kern der christlichen Botschaft, sie ist der unaufgebbare und bleibende Auftrag der Kirche, sie ist unser aller Auftrag. Sie ist unsere Sehnsucht, unsere Kraft, unsere Hoffnung. Sie ist der tiefste Sinn unseres Lebens. Möge sie uns und alle Menschen in diesem neuen Jahr leiten und erfüllen – uns allen zum Wohl und Gott, unserem Schöpfer, zur Ehre. Amen.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 5. Januar 2020)

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