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6. Sonntag in der Passionszeit (5.4.20)


Provokation zum Heil

23. März 1997

Palmsonntag

Johannes 12,12-19


Heute rufen sie „Hosianna“, morgen schreien sie „Kreuzigt ihn“. Das ist - kurz gesagt - der Wandel vom Palmsonntag zum Karfreitag. Es ist keineswegs so, dass es am Palmsonntag die Guten sind, die Jesus bejubeln, und Karfreitag die Bösen, die Jesus zu Tode bringen. Die Grenze zwischen Zustimmung und Ablehnung verläuft nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch in den Menschen, in jedem einzelnen, auch in jedem von uns. Wir sind in gewisser Weise gespaltene Persönlichkeiten. Wir sind innerlich zerrissen. Wir haben zwei Seiten in uns, die sich manchmal wie fremd gegenüberstehen können, die miteinander ringen und auch mal gegeneinander kämpfen. An einer Gestalt wie Jesus Christus wird uns dies schmerzlich deutlich. Aber diese bittere Einsicht ist nicht das Letzte. Wir tragen in uns die Sehnsucht nach dem heilen Ganzen. Und eben dies: „Heilung und Heil“ begegnet uns auch und vor allem in eben dieser selben Gestalt, in Jesus, dem Christus, dem Messias, dem Heiland.

Die Gespaltenheit ist ein Grundthema unseres Lebens. Aus ihr ergibt sich auch die Aufgabe unseres Lebens: Zusammenzuführen, was zusammen gehört. Um dies einmal in biologischen Kategorien zu sagen: Wir sind bei der Geburt vom Mutterleib getrennt worden. Aus ursprünglich einer Person sind so zwei Personen geworden. Wieder in den Mutterleib hineinkriechen können wir nicht. Aber die Sehnsucht nach Einheit bleibt. Wir sind auch biologisch auf Einheit hin geschaffen. Erst durch die Vereinigung von Mann und Frau ergibt sich neues Leben. So gehört diese Gespaltenheit geradezu zur Dynamik unseres Lebens: Trennung und Vereinigung, Vereinigung und Trennung. 

Und dies ist nicht nur der biologische Grundvorgang unseres Lebens, dies ist für uns als denkende und empfindende und mit Bewusstsein ausgestattete Wesen auch ein erhebliches Problem - und eine große Aufgabe, nämlich Trennungen auszuhalten und zu akzeptieren, Trennungen aber auch zu überwinden, Getrenntes zusammenzuführen. Die Spannung zwischen beidem, nämlich Trennungen anzunehmen auf der einen Seite, und Trennungen zu überwinden auf der anderen Seite, macht uns durchaus zu schaffen.

Die Gespaltenheit unserer Existenz ist oftmals als Strafe empfunden worden. Besonders eindrücklich ist dies beschrieben am Anfang unserer Bibel als der „Hinauswurf aus dem Paradies“ nach dem Sündenfall. Und so sind wir nun nach biblischem Verständnis unterwegs, unstet und flüchtig, beständig auf der Suche nach der verlorenen Einheit. Diese neue Einheit ist uns in biblischen Bildern verheißen als das Himmelreich, das Reich Gottes. In Jesus Christus begegnet es uns - personifiziert - in der Gestalt eines Menschen. 

An manchen Tagen sind wir mit Dankbarkeit erfüllt für das wunderbare Geschenk des Lebens. An anderen Tagen möchten wir mit Wut und Verzweiflung zum Himmel schreien. Wir haben ein gespaltenes Verhältnis zu unserem Dasein. Es kann gar nicht anders sein. Ja zu sagen zum Leben trotz seiner Zerrissenheit, und Ja zu sagen zum Menschen trotz seiner Gespaltenheit, das ist die Aufgabe unseres Lebens. Dazu sind wir berufen. Durch dieses Ja sind wir entstanden, für dieses Ja werden wir gestärkt durch Christus, und dieses Ja zu leben, gibt unserem Leben Sinn und Ziel. 

Im Evangelium des Palmsonntags lesen wir: Jesus zieht in Jerusalem ein - auf einem Esel. So wird erkennbar, dass sich in ihm eine alttestamentliche Weissagung erfüllt: die Hoffnung der Israeliten auf einen Messias, einen Heiland, einen König, der den Leiden des Volkes ein für alle Mal ein Ende bereiten wird. 

Jesus bekommt die Gespaltenheit seiner Gesellschaft zu spüren. Die einen bejubeln ihn. Es sind jene, die am Tag zuvor erlebt haben, dass er einen Toten wieder zum Leben erweckt hat, Lazarus in Bethanien. Der Evangelist Johannes sieht gerade in solchen spektakulären Aktionen die Bewunderung eines Teils der Bevölkerung begründet. Jesus erweist sich durch ungewöhnliche Aktionen als ein Mensch mit göttlichen Kräften: Er verwandelt Wasser in Wein, er macht einen Blinden sehend und erweckt sogar einen Toten wieder zum Leben. Das macht Eindruck. Und das hat manche von der Göttlichkeit Jesu überzeugt.

Andere aber nehmen diese spektakulären Aktionen ganz anders auf. Sie fühlen sich bedroht durch jenen Außenseiter, der die überkommene Ordnung und damit auch ihre gesellschaftliche Position durcheinanderbringt. Es sind die Pharisäer, die den Jubel der Bevölkerung missmutig zur Kenntnis nehmen und nun überlegen, wie sie Jesus trotz seiner offenkundigen Popularität doch noch aus dem Verkehr ziehen können.

An Jesus scheiden sich die Geister, könnten wir sagen. Die einen begeistert er, die anderen verschreckt er. Und, wie gesagt, diese unterschiedlichen Reaktionen lassen sich nicht nur einfach auf unterschiedliche Personen und Personengruppen verteilen. Es können auch dieselben Personen sein, die so unterschiedlich auf Jesus reagieren. Man könnte fast sagen: Das hängt von der Tagesverfassung ab. Wir erleben an uns selbst, dass wir den einen Tag voller Glaubenszuversicht, den anderen Tag dagegen voller Zweifel sein können. An einem Tag mag uns Jesus wirklich der Christus sein, der uns inneren Frieden schenkt, der unsere inneren Spannungen auflöst, der uns befreit, der uns Kraft gibt, uns mit Zuversicht und Lebensfreude erfüllt. An anderen Tagen mag er uns fremd sein und erdrückend und uns belasten mit schlechtem Gewissen und Abwehrkräfte in uns auslösen.

Als Jesus in Jerusalem einzieht, begibt er sich in die Höhle des Löwen. Er begibt sich in die Enge der Stadt, noch dazu an einem großen Fest, wo viele Menschen beisammen sind. Anders als auf dem flachen Land in Galiläa, wo er sich in Augenblicken der Bedrohung immer schnell davonmachen konnte, muss es hier zur Konfrontation kommen. Jesus sucht die Konfrontation. So stellen es die Evangelisten da. Es soll zur Entscheidung kommen. Die Vertreter der politischen und religiösen Institutionen sollen sich bekennen, und die Bevölkerung soll sich bekennen. Und auch die Jünger, die engsten Vertrauten Jesu, sollen sich bekennen. 

Der Einzug Jesu in Jerusalem ist eine Provokation. Sie geht blutig aus. Sie ist für alle Beteiligten eine äußerste Herausforderung - und für einige auch eine Überforderung. Jesus verliert sein Leben am Kreuz. Aber auch Judas verliert sein Leben. Er nimmt sich selbst das Leben, weil er seine Schuld nicht verwinden kann. Petrus verstrickt sich in Lügen und wird zum Verleugner seines Herrn. Auch die übrigen Jünger erweisen sich alle als ganz normale schwache Menschen. Ein Held ist keiner von ihnen. Die Hohenpriester machen sich an einem Unschuldigen schuldig. Pilatus versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen. Und die Bevölkerung, die gerade noch Jesus zugejubelt hatte, lässt sich zum Aussprechen des Todesurteils verführen. 

Wie kann aus dem provokanten Einzug Jesu in Jerusalem Heil entstehen? Ich möchte den Einzug Jesu in Jerusalem mit der Verabreichung eines Medikamentes vergleichen. Der Arzt gibt uns ein Medikament, und zwar eines von der Sorte, die den Körper zunächst aufwühlt, die dem Körper durch diese Auseinandersetzung aber hilft, Abwehrkräfte zu entwickeln, d. h. aus sich selbst heraus die Kräfte zu mobilisieren, die den Körper gegen künftige Attacken schützen.

Das Vorgehen des Arztes hat etwas Paradoxes an sich, denn er versucht die Heilung auf dem Weg einer provozierten Krankheit. Gott, unser aller Arzt, hat uns Jesus Christus verabreicht. Was sich da in Jerusalem abspielt, ist die Auseinandersetzung mit diesem göttlichen Medikament. Alle Kräfte des großen Körpers der menschlichen Gemeinschaft werden mobilisiert, die guten und die bösen, die zerstörerischen und die heilenden. Am Ende ist das verabreichte Medikament besiegt, es hängt am Kreuz. Und wie sich dann zeigen wird, hat sich in dieser Auseinandersetzung eine neue heilende Kraft gebildet, die unsere menschliche Gemeinschaft stärkt.                                     

Was sich da in Jerusalem abgespielt hat, war kein biologischer Vorgang. Mit dem, der da einzog, mussten sich die Menschen in ihren Köpfen und mit ihren Herzen auseinandersetzen. Dieser Auseinandersetzung können auch wir uns nicht entziehen. Wenn wir diesen Jesus Christus an uns heran- und in uns hineinlassen, dann spielt sich möglicherweise auch in uns das ab, was dort in Jerusalem vor sich gegangen war. 

Heilung ist oftmals eben nicht auf dem direkten Wege zu erlangen, sondern auf dem langen, verschlungenen und schmerzhaften Weg der Auseinandersetzung. Wir sollten deshalb Auseinandersetzungen nicht scheuen. Wenn wir da das richtige Maß finden, dann können sie zum Guten dienen. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 23. März 1997)

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