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16. Sonntag nach Trinitatis (24.9.23)


Zu neuem Leben erwecken: Heilung und Heil

22. September 1985 

16. Sonntag nach Trinitatis 

Hauptkirche St. Katharinen 

Johannes 11,1-7.17-27 


Lazarus aus Bethanien in der Nähe Jerusalems ist erkrankt. Seine beiden Schwestern Maria und Martha lassen Jesus die Nachricht von der Erkrankung überbringen – in der Hoffnung und Erwartung, so müssen wir ergänzen – in der Hoffnung und Erwartung, dass Jesus seinen Freund Lazarus heilen werde. Jesus hält sich weit entfernt auf, jenseits des Jordan. Erst zwei Tage nach Erhalt der Nachricht macht er sich auf den Weg nach Bethanien. Dort angekommen erfährt er, dass Lazarus bereits seit vier Tagen tot ist.

„Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“, sagt Martha zu Jesus, und sie fährt fort: „Aber auch jetzt noch weiß ich, dass, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“

Dies dürfen wir also zunächst einmal festhalten: Es geht Martha und ihrer Schwester um die Heilung des Bruders und dann, als dieser verstorben ist, um seine Wiederauferweckung. Wir müssen dieses Anliegen der Schwestern ganz ernst nehmen, und das wird uns nicht schwerfallen. Der geliebte Bruder soll wieder gesund werden, er soll wieder leben und in ihre Ge- meinschaft zurückkehren. Es geht den Schwestern um das ganz physische Anliegen: Gesundheit und Leben.

Wir können ihnen das nur zu gut nachempfinden. Erkrankt ein von uns geliebter Mensch, so ist dies unser sehnlichster Wunsch: Er möge doch wieder gesund werden. Und ist ein von uns geliebter Menschen gestorben, so wollen wir das zunächst gar nicht wahrhaben und wünschen uns gegen die Realität, dies möchte bloß ein böser Traum gewesen sein.

Wir dürfen dies in seiner Bedeutung nicht herunterspielen, und wir brauchen uns dessen nicht zu schämen: Gesundheit und Leben im rein physischen Sinne sind wertvolle Güter. Wo sie gefährdet sind, da soll und darf alles darangesetzt werden, sie zu bewahren.

Dies sei dem Folgenden vorausgeschickt, weil nicht gerade selten die Sorge um unsere physische Existenz aus christlicher Motivation heraus als allzu materialistisch und weltverbunden mit Geringschätzung betrachtet wird. Solche christlich motivierte Geringschätzung des physischen und materiellen Wohl- ergehens geht bis in den Bereich des Politischen hinein, wie wir beispielsweise an der angefochtenen Position der Befreiungs- theologie in Lateinamerika ablesen können.

Jesus nahm das Anliegen der Schwestern ernst. Er erweckt Lazarus wieder zum Leben. Allerdings – und dies muss nun auch mit Deutlichkeit gesagt werden: Mit der bloßen Wiederherstellung des physischen Zustandes, wie er vorher war, ist die Mission Jesu nicht erfüllt. Den Frauen mag es wohl nur auf Leben und Gesundheit ihres Lazarus angekommen sein, aber das Anliegen Jesu geht weit darüber hinaus. Er ist nicht nur Arzt. Es geht ihm nicht nur um die Beseitigung des physischen Problems, auch nicht nur um die Beseitigung eines – im medizinischen Sinne verstandenen – psychischen Problems.

Es geht ihm um ein vertieftes Verständnis unseres Daseins, unseres Seins als Menschen und um eine daraus folgende Änderung unseres Verhaltens. Was Jesus im Unterschied zu den Schwestern meint, ist unschwer zu erkennen: Krankheit und Tod sind ja nicht nur Geschehnisse, die nur im Augenblick ihres akuten Auftretens für uns existent sind. Als mögliche Gefährdungen von Leib und Leben sind sie, wenn auch hintergründig, bestimmend für unser Denken und Fühlen, unsere Einstellungen und Verhaltensweisen.

Aus der Tatsache, dass wir jederzeit krank werden können und dass wir schließlich auch unausweichlich sterben müssen, ergibt sich z. B. die Einsicht, dass wir nicht die Herren unseres Schicksals sind, dass wir von unverfügbaren Vorgegebenheiten abhängig sind, dass unser eigenes Gestaltungs- und Bewahrungsvermögen begrenzt ist. Darauf können wir in unterschiedlicher Weise reagieren: mit einer beständigen untergründigen Angst und Sorge, mit Gleichgültigkeit oder Zynismus oder auch mit einem bewussten, dankbaren Leben.

Dieses grundsätzliche, die Grundstruktur unseres Daseins betreffende Problem ist doch ein ganz anderes als das des akuten Auftretens von Krankheit und Tod. Wenn wir diese beiden Dinge unterscheiden, wird uns ersichtlich, dass sich das Geschehen in unserem Predigttext auf unterschiedlichen Ebenen abspielt, die nicht recht zur Deckung zu bringen sind.

Da ist auf der einen Ebene das Anliegen der beiden Frauen und die Auferweckung des Lazarus. Das spielt sich sozusagen auf der medizinischen Ebene ab, der Beseitigung des akuten physischen Problems. Die Frauen wären damit sicherlich vollauf zufrieden gewesen. Sie hätten zur Tagesordnung übergehen können. Ebenso Lazarus. Er hätte sein Leben so weiterführen können wie bisher.

Gewiss, die Totenauferweckung hat Eindruck gemacht. Solch ein besonderes Ereignis mag das Leben beeinflussen und verändern. Aber das ist gar nichts Gewisses. Zwar mag derjenige, der an die zahlreichen im Neuen Testament berichteten Wunder – auch Totenauferweckungen werden mehrfach berichtet – als reales Geschehen glaubt, sehr beeindruckt sein, aber die Reaktion darauf kann doch ganz unterschiedlich bis gegensätzlich ausfallen. „Not lehrt beten“, sagt man. Not lehrt auch fluchen. Wohlergehen kann dankbar machen, aber es kann auch die Ansprüche ins Unverschämte steigern. Eine wundersame Heilung kann dem Heilenden Anerkennung und Respekt einbringen. Der Retter kann aber auch Neid und Hass auf sich ziehen.

Eben dies erleben wir nach der Auferweckung des Lazarus. Es gibt da nicht nur glückliche und dankbare Menschen, sondern auch solche, die jetzt erst recht Jesus nach dem Leben trachten. Die Auferweckung des Lazarus, mag sie auch als ein besonderes Wunder angesehen werden, hat für sich genommen als bloßes Ereignis keine klare Aussagekraft. Hierauf kommt nun alles an.

Und damit sind wir bei der zweiten Ebene unseres Predigtabschnitts. Wir werden jetzt wieder an den Text verwiesen und müssen nun nachschauen, was Jesus eigentlich gesagt hat.

Zunächst antwortet er Maria: „Dein Bruder wird auferstehen.“ Darauf Martha: „Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.“ Wir dürfen den Worten der Martha eine gewisse Unzufriedenheit entnehmen, etwa in dem Sinne: „Dass er am jüngsten Tage auferstehen wird, weiß ich. Aber ich möchte meinen Bruder jetzt wiederhaben.“

Auf dieses unausgesprochene Ansinnen antwortet Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Die paradoxe Verwendung der Worte „leben“ und „sterben“ macht deutlich, dass hier nicht bloß der jeweils physische Vorgang gemeint ist. Der Tod als physisches Ereignis bleibt.

Aber für den an Christus Glaubenden wird das Leben mehr sein als das, was sich zwischen Geburt und Tod abspielt. Und es wird mehr und anders sein, als was unsere Lebenserfahrung uns als das Leben erscheinen lässt. Johannes beschreibt das, was wir als unsere Welt erleben, mit düsteren Farben. Er hat Recht damit. Das aber, was uns als das Leben von Gott be- stimmt ist, so Johannes, das wird uns anschaulich gegenwärtig in Jesus Christus.

Jesus Christus, das heißt: Sich des leidenden Menschen barmherzig annehmen, dem Schuldigen vergeben, den Traurigen trösten, den Schwachen stärken, dem verachteten Gemeinschaft schenken, dem Verzweifelten Hoffnung. Das sind die Wesensmerkmale des von Gott verheißenen Lebens: Barmherzigkeit, Gnade, Hoffnung, kurz Liebe. Solches Leben ersteht, wo Jesu Christus ist, redet und handelt. Das will uns Johannes vermitteln.

Auf das Spektakuläre der Wunder kommt es nicht an. Es hätte der Auferweckung des Lazarus nicht bedurft. Sie mag sinnbildlich die Worte Jesu unterstreichen. Aber sie ist ein missverständliches Sinnbild.

Den Frauen ging es darum, ihren Lazarus wiederzubekommen. Aber Jesus ging es darum, den Tod als Wesensmerkmal unserer von Brutalität, Falschheit, Zynismus durchzogenen Welt zu entlarven und in seiner Person das von Gott gemeinte Leben zu veranschaulichen. Diese beiden Anliegen dürfen nicht vermengt und nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Durch Christus sehen wir unsere akuten Nöte ernst genommen. Aber er will für uns nicht nur Heilung, sondern auch Heil, nicht nur Befreiung, sondern auch Erlösung, nicht nur unser Überleben, sondern wahres Leben. Ihm sei Dank und Ehre. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 22. September 1985)

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