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1. Advent (3.12.23)


Mit dem Kirchenjahr das Leben durchleben

3. Dezember 2000

1. Advent

Lukas 1,67-79


Das Le­ben ist mehr als nur ei­ne An­zahl von Ta­gen, von Wo­chen, Mo­na­ten, Jah­ren, die man ir­gend­wann zu zäh­len be­gon­nen hat, ab Chri­sti Ge­burt – von da aus nach vorn und nach hin­ten. Das Le­ben ist mehr als das in Zei­tein­hei­ten Mess­ba­re. Und auch un­ser ganz per­sön­li­ches Le­ben ist mehr als die An­zahl der Jah­re seit dem Tag un­se­rer Ge­burt.

Das Le­ben ist ein gro­ßes Ge­heim­nis, ein Aben­teu­er. Das Le­ben ist wie ein Land, das ent­deckt sein will, oder wie ei­ne Her­aus­for­de­rung, die dar­auf war­tet, dass wir sie an­neh­men und uns an ihr be­wäh­ren.

Was es mit dem Le­ben auf sich hat, wer­den wir im Letz­ten wohl nie so recht er­grün­den. Aber wir le­ben – und uns sind Ver­stand und Herz ge­ge­ben. Wenn wir über das Klein­kind­al­ter hin­aus sind, kön­nen wir das Le­ben be­wusst be­trach­ten, wir er­lan­gen Selbst­be­wusst­sein, und wir spü­ren den wach­sen­den Wil­len in uns, das Le­ben selbst mitzuge­stal­ten. Wir wol­len uns nicht nur vor­an­trei­ben las­sen, son­dern wol­len das Le­ben nach ei­ge­nen Ge­dan­ken, Ein­sich­ten, Ent­schei­dun­gen ge­stal­ten. Das ent­spricht un­se­rem Selbst­ver­ständ­nis und un­se­rer mensch­li­chen Wür­de.

Uns wird dann ir­gend­wann klar, dass wir nicht aus uns selbst her­aus le­ben, dass nicht wir das Le­ben er­fun­den ha­ben und dass wir mit un­se­ren Über­le­gun­gen auch nicht am Punk­te Null an­fan­gen müs­sen. An­de­re vor uns stan­den schon vor der­sel­ben Auf­ga­be, Ge­ne­ra­tio­nen vor uns seit Jahr­hun­der­ten, seit Jahr­tau­sen­den. Sie ha­ben uns ih­re Ge­dan­ken und Er­fah­run­gen über­lie­fert. Wenn wir uns um­blicken, wenn wir su­chen nach dem, was uns selbst wei­ter­hel­fen könn­te, wor­an wir uns orien­tie­ren könn­ten, dann wer­den wir auch auf die Über­lie­fe­run­gen sto­ßen, die in die­sem Buch zu­sam­men­ge­stellt sind, in der Bi­bel Al­ten und Neu­en Te­sta­ments. Da ist nie­der­ge­legt, was Ge­ne­ra­tio­nen in tau­send Jah­ren über das Le­ben ge­dacht ha­ben, was sie er­lebt und er­fah­ren ha­ben, was sie ge­glaubt ha­ben und was sie der Wei­ter­ga­be an die fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen für wert be­fun­den ha­ben.

Wenn Sie dar­in le­sen, in die­sem schö­nen und schwie­ri­gen Buch, dann wer­den auch Sie es viel­leicht als tröst­lich emp­fin­den zu er­ken­nen, wie sehr sich Men­schen schon da­mals ab­ge­müht ha­ben, wie sehr sie ge­run­gen ha­ben, den Sinn des Le­bens, das Ziel, den rech­ten Weg zu er­ken­nen, wie sehr sie nach Er­kennt­nis, nach Kraft, nach Halt, nach Orien­tie­rung, nach Ver­läss­li­chem ge­sucht ha­ben, und wie sie sich ge­freut ha­ben, wenn sie si­che­ren Bo­den mein­ten ge­fun­den zu ha­ben, und wie sie dann im­mer wie­der un­si­cher ge­wor­den sind, wie sie Er­klä­rungs­mu­ster und Le­bens­kon­zep­te ent­wor­fen – und dann auch wie­der ver­wor­fen ha­ben.

Das hat et­was Tröst­li­ches, denn wir spü­ren, dass es an­de­re vor uns auch nicht leicht ge­habt ha­ben, das Le­ben zu ver­ste­hen und in ei­nem gu­ten Sin­ne zu be­wäl­ti­gen, dass sie aber nicht auf­ge­ge­ben ha­ben, son­dern im­mer wie­der feste Plan­ken auf ei­nen schwankenden Bo­den ge­legt ha­ben.

Die Be­mü­hun­gen der bi­bli­schen Ge­ne­ra­tio­nen kon­zen­trie­ren sich am En­de auf ei­ne Ge­stalt, die dann auch für die nächs­ten zwei Jahr­tau­sen­de ih­re Be­deu­tung be­hal­ten hat, auf den­je­ni­gen, des­sen Ge­burt wir in Kür­ze wie­der feiern. Je­ner Je­sus von Na­za­reth ist da­mals von ei­ner Rei­he von Men­schen als der­je­ni­ge er­kannt und ge­glaubt wor­den, der uns Grund­le­gen­des und Trag­fä­hi­ges für das Le­ben zu ge­ben hat.

Was die­se Men­schen er­kannt und ge­glaubt ha­ben, ist am stärk­sten for­mu­liert in der Aus­sa­ge: „Er war Got­tes Sohn, er war Gott selbst in mensch­li­cher Ge­stalt.“ Was die Men­schen da­mals mit die­ser Auss­age zum Aus­druck brin­gen woll­ten, ist dies: In je­nem Je­sus von Na­za­reth fin­den all un­se­re grund­le­gen­den Fra­gen ih­re grund­le­gen­den Ant­wor­ten. Das Wir­ken je­nes Je­sus von Na­za­reth, der dann Chri­stus ge­nannt wur­de, weil er als Ret­ter, als Er­lö­ser emp­fun­den wur­de – das Wir­ken je­nes Je­sus von Na­za­reth, sein Le­ben, Ster­ben, Auf­er­ste­hen und das Wei­ter­wir­ken sei­nes Gei­stes, wur­de von den fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen dann als Orien­tie­rungs­rah­men für die Ge­stal­tung des Le­bens ge­nom­men. „Wenn wir durch die Jah­re un­se­res Le­bens ge­hen“, so sag­ten sie sich, „dann wol­len wir im­mer wie­der das nach­voll­zie­hen, was da­mals ge­sche­hen ist und was so grund­le­gend für uns ge­wor­den ist.“

Nach die­sen in­halt­li­chen Fest­punk­ten ha­ben sie dann das Jahr auf­ge­baut. „Lasst uns mit dem be­gin­nen, wo­mit auch das leib­li­che Le­ben be­ginnt“, ha­ben sie ge­sagt, „mit dem War­ten, mit dem War­ten auf die Ge­burt des Kin­des.“ Und sie ha­ben sich die wun­der­schö­ne Ge­burts­le­gen­de des Evan­ge­li­sten Lu­kas ge­nom­men und ha­ben ge­sagt: „Da­rauf lasst uns zu­ge­hen – auf die Ge­burt des Hei­lan­des in Be­thle­hem, auf das Er­schei­nen Got­tes in der zer­brech­li­chen Ge­stalt ei­nes Kin­des. Und lasst uns auf dem Weg dort­hin be­den­ken, was vor­an­ging: die Hoff­nung der Men­schen auf ei­nen, der Ant­wor­ten und Lö­sun­gen wür­de an­bie­ten kön­nen. Lasst uns un­se­re Hoff­nun­gen und Er­war­tun­gen be­den­ken und lasst uns Vor­be­rei­tun­gen tref­fen für den Au­gen­blick der Er­fül­lung, lasst uns die Vor­freu­de der Schwan­ge­ren nach­emp­fin­den und das ban­ge und ge­spann­te War­ten. So lasst uns das Jahr be­gin­nen, das Kir­chen­jahr.“

An die­sem Punkt stehen wir heu­te, am 1. Ad­vent, dem Be­ginn des Kir­chen­jah­res. Von hier aus ent­fal­tet sich das Wir­ken des­je­ni­gen, nach dem wir uns Chri­sten nen­nen. In­dem wir das Kir­chen­jahr be­gin­nen – mit der nach­denk­li­chen Vor­be­rei­tung – und dann fort­fah­ren mit der Feier der Ge­burt, dann mit dem Nach­voll­zug der Le­bens­sta­tio­nen je­nes Je­sus von Na­za­reth, sei­nes Wir­kens, sei­nes Lei­dens, sei­nes Ster­bens und Aufer­ste­hens und dann des Auf­baus er­ster Ge­mein­den –, in­dem wir nach die­sen Sta­tio­nen den Lauf des Jah­res ein­tei­len, las­sen wir uns sa­gen und brin­gen wir im­mer wie­der zum Aus­druck, dass das Le­ben eben nicht nur ei­ne Ket­te von Zähl­ba­rem ist, ei­ne An­ein­an­der­rei­hung von Ta­gen, son­dern dass das Le­ben ei­ne Be­we­gung des Su­chens und Fin­dens ist, ei­ne Be­we­gung z­wi­schen Nach­den­ken und Han­deln, ei­ne Be­we­gung zwi­schen Hoff­nung und Er­fül­lung, ei­ne Be­we­gung zwi­schen Schuld und Ver­ge­bung, zwi­schen Schei­tern und Ge­lin­gen, zwi­schen Trau­er und Trö­stung, zwi­schen Le­ben und Tod und zwi­schen Tod und Le­ben.

Das Kir­chen­jahr hat sei­nen ei­ge­nen tie­fen Sinn. Es nimmt uns an die Hand und führt uns durch die grund­le­gen­den Fra­gen des Le­bens, wie sie von Men­schen seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen ge­stellt wor­den sind, und führt uns zu den grund­le­gen­den Ant­wor­ten des Le­bens, wie die­se Men­schen sie ge­fun­den ha­ben in Kon­zen­tra­tion auf die­se ei­ne Ge­stalt von da­mals. Das Kir­chen­jahr glie­dert sich in Zei­ten der Be­sin­nung und der Feste und des All­tags. Und im­mer wie­der wer­den die Ge­schich­ten von da­mals ver­ge­gen­wär­tigt. Sie sind in ih­rem Kern so ak­tuell wie eh.

Das Kir­chen­jahr ist in die­ser in­halt­li­chen Aus­rich­tung et­was an­de­res als das Ka­len­der­jahr, das sei­nen Zweck mehr in der rei­nen Zäh­lung er­füllt, die für uns aber im­mer­hin an ei­nem in­halt­li­chen Schnitt­punkt be­ginnt, der Ge­burt Je­su Chri­sti.

Das Kir­chen­jahr ist auch an­ders als un­ser ganz per­sön­li­ches Jahr, un­ser Le­bens­jahr, das wir vom Tag un­se­rer Ge­burt an rech­nen. Da geht es auch mehr um das Zäh­len der Jah­re, wo­bei die feier­li­che E­rin­ne­rung an die Ge­burt durch­aus et­was sehr Nach­denk­li­ches ha­ben kann.

Wir ha­ben al­so heu­te den 1. Ad­vent, den Be­ginn des Kir­chen­jah­res. Drei Wo­chen sind es dies­mal bis zur Feier der Ge­burt des Christ­kin­des. Ma­ria geht nun schwan­ger. Ihr ist die Ge­burt die­ses be­son­de­ren Kin­des durch ei­nen En­gel ver­hei­ßen. Ge­stern Abend ha­ben wir hier Ma­ri­as Lob­ge­sang ge­hört, das Magni­fi­kat. Und noch ei­ne an­de­re Frau ist schwan­ger, Eli­sa­beth. Sie wird Jo­han­nes zur Welt brin­gen, der dem gleich­al­tri­gen Je­sus spä­ter den Weg be­rei­ten wird. Jo­han­nes, der Täu­fer, der die Men­schen auf­ruft, sich zu be­sin­nen auf das ei­ge­ne We­sen, der die Men­schen auf­ruft, Schuld zu be­ken­nen und zu be­reu­en und sich rei­ni­gen zu las­sen, da­mit sie frei wür­den für den Emp­fang des Neu­en, für den Emp­fang Got­tes in der mensch­li­chen Ge­stalt Je­su.

Ähn­lich wie Ma­ria, die die be­vor­ste­hen­de Ge­burt ih­res Kin­des mit ei­nem Lob­ge­sang be­singt, hat auch Za­cha­ri­as, der Va­ter des Jo­han­nes, ei­nen Lob­preis auf den Lip­pen: „Du, mein Sohn, ein Pro­phet des Höch­sten wirst du sein, weil du dem Herrn vor­aus­ge­hen wirst, um den Weg für ihn zu bah­nen. Du wirst dem Volk des Herrn ver­kün­den, dass nun die ver­spro­che­ne Ret­tung kommt, weil Gott ihm sei­ne Schuld ver­ge­ben will. Un­ser Gott ist voll Lie­be und Er­bar­men; er schickt uns das Licht, das von oben kommt. Es wird für al­le leuch­ten, die im Dun­keln sind, die im fin­ste­ren Tal des To­des le­ben, und wird uns auf den Weg des Frie­dens füh­ren.“

Las­sen wir uns auf die­sen Weg des Frie­dens im­mer wie­der mit­neh­men, in­dem wir den Weg Je­su Chri­sti – dem Lau­fe des Kir­chen­jah­res fol­gend – mit­ge­hen. Heu­te am 1. Ad­vent be­ginnt die­ser Weg wie­der, der Weg, auf dem sich Gott als der Lie­ben­de und Barm­her­zi­ge er­weist, der trö­stet und ver­gibt.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 3. Dezember 2000) 

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