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2. Advent (10.12.23)


Geduld

9. Dezember 2007

2. Advent

Offenbarung 3,7-13


Die biblischen Texte am heutigen 2. Advent entsprechen nicht ganz den Empfindungen, die wir mit der Vorweihnachtszeit verbinden. Sie sind endzeitlich geprägt, schauen voraus auf die Wiederkehr Christi, die verbunden sein wird mit furchterregenden kosmischen Umwälzungen. Aus dem Predigttext für den heutigen Sonntag aus den Offenbarung des Johannes, Kap. 3, Verse 7-13, zitiere ich nur ein Wort. Es ist das Stichwort für diesen Tag, und lautet „Geduld“. 

In der Epistellesung war bereits von dem Bauern die Rede, der auf die Frucht des Feldes wartet. Der Bauer muss geduldig warten - das Wachsen und Reifen braucht seine Zeit. Die Zeit des Wartens lässt sich nicht überspringen. Geduld ist die unvermeidbare Aufgabe.

Geduld ist nicht immer leicht aufzubringen. Wer in diesen Wochen mit kleinen Kindern zu tun hat, die sich auf Weihnachten freuen, der erlebt die ungeduldige Vorfreude. Die verbleibende Zeit bis zum Heiligabend wird gezählt in Nächten: Noch zehnmal, fünfmal, dreimal musst du schlafen. Und das Warten wird uns im wahrsten Sinne des Wortes versüßt: Wir öffnen die Türen des Adventskalenders und nehmen täglich eine Leckerei heraus als Überbrückung, bis dann am 24sten endlich die Fülle der Freude vor uns liegt. 

Für Kinder ist das eine spannende Zeit. Das mitzuerleben, hat etwas Schönes und Anrührendes. Bei uns Erwachsenen ist das sicherlich ein wenig anders. Einige warten vielleicht eher ungeduldig darauf, dass die vorweihnachtliche Hektik bald zu Ende ist und ab Heiligabend endlich wieder Ruhe einkehrt. 

Wenn die heutigen biblischen Texte zur Geduld mahnen, dann wenden sie sich damit nicht an Kinder. Sie meinen auch nicht den Stress, den wir uns mit den Vorbereitungen auf Weihnachten machen. Sie meinen allerdings bezüglich der Menschen damals auch ein Warten darauf, dass endlich Ruhe einkehren möge für Leib und Seele - für den Leib, weil die ersten Christen damals wegen ihres Glaubens an Leib und Leben bedroht waren, und für die Seele, weil die Sehnsucht nach innerer Erlösung durch das Auftreten Jesu Christi nun ganz dringlich auf Erfüllung drängte. 

Das Ziel war für die an Christus Glaubenden schon zum Greifen nahe gewesen. Jesus Christus war erschienen, er war leibhaftig im Lande herumgegangen und hatte gepredigt: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Die Emotionen derjenigen, die an ihn glaubten, waren durch das tägliche Erleben dessen, was sie von ihm gehört und gesehen und erfahren hatten, ins Unermessliche gesteigert. Die Vorfreude darauf, dass nun endlich eine Welt anbrechen würde, die die Beschreibung „himmlisch“ wirklich verdienen würde, war ins Unendliche gewachsen. 

Dann aber folgte Golgatha, die Kreuzigung. Das Ende. 

Dann kam die Auferstehung, der Aufbruch einer neuen Hoffnung, und es kamen Himmelfahrt und Pfingsten - der Beginn einer neuen Phase des Wartens. 

Die innere Situation der betroffenen Menschen können wir uns vielleicht vorstellen, wenn wir an den alttestamentlichen Jakob denken, der sich in Rebecca verliebt hatte. Rebeccas Vater sagte zu Jakob: „Du kannst meine Tochter heiraten, aber erst musst du sieben Jahre für mich arbeiten.“ Das hat Jakob gern getan. Dann kam nach sieben Jahren der Tag der Hochzeit - aber Jakob bekam die ältere Schwester von Rebecca, Lea, untergeschoben. Das war für Jakob wie Golgatha, der Absturz in eine tiefe Enttäuschung. Aber noch einmal durfte er Hoffnung schöpfen. Denn der Vater von Rebecca sagte dann zu Jakob: „Du kannst meine Tochter Rebecca immer noch haben. Aber du musst noch weitere sieben Jahre für mich arbeiten.“ Jakob musste sich also ein weiteres Mal in Geduld üben. Das hat er auch getan. Anschließend konnte er endlich Rebecca heiraten, auf die er so lange gewartet hatte. 

Das war ein happy end - nach langem Warten mit einer hohen Anforderung an Geduld und nochmals Geduld. 

Ähnlich wie Jakob werden sich vielleicht die ersten Christen gefühlt haben. Sie waren innerlich angeheizt durch die leibhaftige Erfahrung mit demjenigen, in dem sie den Messias, den Christus, erkannt hatten, auf den sie so lange gewartet hatten. Aber es kam Golgatha. Und dann wurde ihnen ein weitere Phase des Wartens auferlegt. 

Wenn wir die biblischen Texte lesen und hören, könnten wir meinen, es handelte sich dabei auch um - in Anführungszeichen „nur“ weitere sieben Jahre wie bei Jakob: dass die Menschen damals also noch zu ihren Lebzeiten auf die Wiederkehr Christi und auf die Vollendung dessen hoffen konnten, was in Jesus Christus angefangen hatte. 

Die - in Anführungszeichen - „sieben Jahre“ haben sich aber, wie wir heute wissen, enorm verlängert. Sie dauern weiter an. Jesus Christus ist noch nicht wieder erschienen, um sein Werk zu vollenden. Das Reich Gottes hatte in Jesus Christus seinen Anfang genommen. Aber die Vollendung steht - auch nach 2000 Jahren - weiter aus. 

Wir feiern jedes Jahr Weihnachten und vollziehen so alljährlich die Freude darüber nach, dass Gott in Jesus Christus als Mensch zu uns gekommen ist und uns einen Eindruck davon gegeben hat, wie es sein könnte, wenn es unter uns „himmlisch“ zugehen würde. Wir fragen uns aber jedes Jahr wieder: „Was nun? Wie geht es weiter? Wie kann denn das nun Wirklichkeit werden im Alltag, was uns an den Festtagen so schön vor Augen geführt und ins Herz gegeben worden ist?“

Diese Frage bleibt bestehen. Es ist weiterhin Geduld angesagt, geduldiges Warten. 

Es ist zum Glück nicht so, dass wir gar nicht mehr warten würden, dass wir aus lauter Enttäuschung gar keine Erwartungen mehr hätten. Die Tatsache, dass sich zu Heiligabend die Gottesdienste über die Maßen füllen, können wir wohl als ein Anzeichen dafür nehmen, dass Erwartungen da sind, dass ein Gespür dafür vorhanden ist, dass da mehr ist und noch mehr kommen müsste, als das, was uns das tägliche Leben zu bieten hat. Es gibt eine Sehnsucht nach dem, was unseren Alltag übersteigt, was über das Menschliche, das Menschen Mögliche, das von Menschen Machbare hinausgeht, was auch größer ist als alle Niedrigkeiten, alles Versagen, alle Not, alles Unglück, alles Leid.

Die Sehnsucht nach dem Größeren und Höheren und Übermenschlichen ist da. Aber wie und wo und wann wird die Erfüllung kommen? Wird sich in dieser unserer erfahrbaren Welt vollziehen, was wir uns ersehnen? Wird es uns in einer jenseitigen Welt zuteil? Oder ist vielleicht der Weg schon das Ziel? Ist das Vollkommene bereits im Unvollkommenen enthalten, die Ewigkeit im Zeitlichen?

Die biblischen Texte halten unterschiedliche Antworten bereit. Die Offenbarung des Johannes bietet eine grandiose Antwort: Himmel und Erde werden eins werden in einer gewaltigen kosmischen Umwälzung. Die Erde wird sich in das Reich Gottes verwandeln. Das himmlische Jerusalem wird zur Erde hernieder kommen und Gott wird unter den Menschen wohnen. Das alles sollte in Kürze geschehen - zur damaligen Zeit, in der Johannes seine Offenbarungen verkündete. Auch Paulus hat das nahe Ende alles Gekannten und den Anbruch des Himmelreiches noch zu seinen Lebzeiten erwartet. Der Evangelist Lukas hat die kosmische Umwälzung ebenfalls als nahe bevorstehendes Ereignis beschrieben. 

Es ist anders gekommen. Es verbieten sich Berechnungen und Spekulationen, wie sie von manchen angestellt werden. Die Sehnsucht freilich bleibt. 

Wie immer wir auch für uns selbst die Frage nach dem endgültigen Reich Gottes beantworten - wir stehen vor der Aufgabe, das tägliche Leben trotz der Fragezeichen konkret zu gestalten, d. h. den Weg des Lebens zu gehen mit all dem im Kopf und im Herzen, was uns überliefert ist an biblischer Tradition, an Worten Jesu, an Berichten über ihn, sein Leben, sein Auferstehen, sein Weiterwirken, mit all dem, was uns überliefert ist an Inhalten und Formen des Glaubens. 

Wir haben nur die vorläufigen Antworten und müssen doch das konkrete Leben gestalten. Wir sind noch nicht am Ziel, wir sind auf dem Weg und diesen Weg müssen wir gehen, so gut es geht, mit eigenen Entscheidungen, die immer unter dem Vorbehalt des Irrtums stehen, mit der Bitte also auch um Beistand, mit der Bereitschaft zur Korrektur, zur Umkehr, mit Gottvertrauen in der Hoffnung, dass wir letztlich den richtigen Weg gehen, den richtigen Weg geführt werden - auf das Ziel unserer Sehnsucht zu - und in der Hoffnung, dass uns Gott entgegenkommen möge. 

Wir müssen warten und uns in Geduld üben. Aber es sollte ein aktives Warten sein, in dem wir uns bemühen, nach Kräften schon jetzt und hier etwas von dem zu verwirklichen, was uns Jesus Christus aufgetragen hat: dass wir diese Welt als Gottes Schöpfung respektieren und bewahren, dass wir sie dankbar pflegen und hegen als Lebensraum für alle seine Geschöpfe. Dass wir sein Geschöpf Mensch achten und ihm mit Liebe begegnen, so, wie der Schöpfer uns in Liebe erschaffen und uns durch Christus seine Liebe unverbrüchlich erwiesen hat. 

Geduldig warten, aber aktiv warten im Geiste des Auftrags, den Jesus Christus selbst seinen Jüngern gab und der auf uns übergangen ist: damit das Licht der Hoffnung nicht ausgeht und durch alles Unvollkommene hindurch auch weiterhin das Vollkommene erahnbar bleibt: das Reich Gottes, in dem alles Leiden ein Ende hat und die Liebe und der Friede Gottes regieren.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 9. Dezember 2007)

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