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Altjahrsabend (31.12.23)


Das Leben

31. Dezember 2009 

Altjahrsabend 

Psalm 103,8


In meinem Kalender steht über dem heutigen Tag ein Satz aus dem 103. Psalm, Vers 8: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ Ein schöner Satz mit schönen Worten: Barmherzig – gnädig – geduldig – Güte. Wir brauchen gute Worte. Wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen. Gute Worte geben uns Kraft wie das tägliche Brot. Sie schenken uns Leben. Sie schenken uns das Leben täglich neu.

Das Leben – was ist das Leben? Eine Anzahl von Tagen, von Jahren? Das ist es zum einen. Aber das Leben ist viel mehr und vor allem: ein Geschehen, eine Qualität, die nicht in Einheiten der Zeit gemessen werden kann.

Heute ist der letzte Tag dieses Jahres. Betrachten wir einmal für einen Moment eine Sanduhr. Wir befinden uns jetzt in ihrer Mitte, da, wo es ganz eng ist. Der obere Teil ist fast leer. Es sind nur noch ein paar Sandkörner drin. Der untere ist fast voll. Heute, um Mitternacht, drehen wir die Sanduhr einfach um. Dann geht es wieder von vorn los. Das ist das Gute an der Sand- uhr: Wir können sie einfach wieder umdrehen. Wie oft haben wir das schon gemacht! Wie oft werden wir sie noch umdrehen können?

Eine Sanduhr ist zum anderen aber nicht gut. Sie kann uns schmerzen, wenn wir sie als Uhr des Lebens nehmen. Sie kann uns wehmütig machen. Wenn wir ihr oberes Teil betrachten, dann sagt sie uns: „Die Zeit verrinnt. Sie ist verronnen.“ Wenn wir das untere Teil betrachten, sagt sie uns: „Das Maß ist voll. Mehr geht nicht.“ Das ist sehr schematisch. Und die Sandkörner sind alle gleich. Jedes Korn ist ein kleines Stück Zeit. Aber das Leben ist nicht nur eine Anhäufung kleiner Zeiteinheiten, die verrinnen wie die Sandkörner.

Das Leben besteht aus Erlebnissen, aus Erfahrungen, aus Ereignissen. Da ist nicht eins wie das andere. Und ihre Bedeutung lässt sich nicht nach ihrer Anzahl bemessen. Ein einziges kleines Erlebnis kann eine lang anhaltende Wirkung haben und vielleicht zum bleibenden Erlebnis werden. Vielleicht die Begegnung mit einem bestimmten Menschen.

Ich möchte mal gleich ein ganz großes Beispiel nennen. Die Begegnung mit einem bestimmten Menschen vor zweitausend Jahren. Die hatte eine nachhaltige Wirkung, die nicht mit den 365 Tagen des Jahres zu erfassen ist. Jesus Christus ist nicht alt geworden. Und die Zeit seines irdischen Wirkens war kurz. Aber denen, die ihm begegneten und die von ihm beeindruckt waren, reichte die kurze Begegnung, um ihr Leben grundlegend zu verändern.

Wir werden in den zurückliegenden 365 Tagen vielleicht kein Erlebnis von solch intensiver Wirkung gehabt haben. Vielleicht aber doch. Vielleicht hat sich von Ihnen in diesem Jahr jemand ganz kräftig verliebt. Vielleicht hat jemand geheiratet. Das ist ja eine Lebensentscheidung. Vielleicht ist jemand mit einer Krankheit konfrontiert worden, die tief ins Leben einge- griffen hat und die die persönliche Sicht des Lebens grundlegend verändert hat.

Wie gesagt, die Anzahl der Tage und Wochen und Monate und Jahre macht nicht das Wesentliche unseres Lebens aus, sondern das, was sich ereignet. Da gibt es Schönes und nicht so Schönes. Vom Schönen hätten wir freilich gern mehr und am besten ganz viel – bis hin zu dem Wunsch, so möchte es auf ewig weitergehen.

Auf das Schwere und Schmerzhafte würden wir wohl gern verzichten. Wir bleiben davon aber nicht verschont. Wir hätten dann gern möglichst wenig davon. Was machen wir mit dem Schweren, dem wir nicht ausweichen können?

Wir können versuchen, es zu vermindern. Wir sollten uns dabei auch gegenseitig helfen. Am verbleibenden Rest sollten wir möglichst nicht verzweifeln. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, dem Schweren noch etwas Hilfreiches abzugewinnen. Auch aus einer Krankheit können wir gestärkt hervorgehen – körperlich und auch seelisch. Wir können eventuell zu

einer intensiveren Wertschätzung des Lebens gelangen, zu einer Wertschätzung des Lebens unabhängig von der Quantität. Vielleicht lernen wir jeden kleinen Moment als großes Geschenk zu schätzen. Und vielleicht lernen wir, in den kleinen Dingen die Großartigkeit der Schöpfung wahrzunehmen. Und vielleicht wird uns bewusst, wie bedeutsam ein einzelnes gutes Wort sein kann, bedeutsamer als tausend gemeine Worte.

Die guten Worte, die vor zweitausend Jahren gesprochen wurden, sind über die zwei Jahrtausende hinweg wichtiger geblieben als die Unmenge schrecklicher Worte, die seitdem gesagt und geschrieben wurden. Die guten Worte des 103. Psalms sind sogar noch älter.

Der Glaube an die Liebe Gottes, an seine Güte und Barmherzigkeit hat sich als stärker erwiesen als die vielen täglichen schlechten Nachrichten.

Es wird zwar immer wieder gefragt: „Wie kann Gott das zulassen?“ Aber es spürt wohl jeder, dass wir nicht die Antwort auf die letzten Fragen dieses Seins zu geben vermögen. Wir halten uns darum fest an Worten, wie sie z. B. Paulus in seinem Römerbrief gesagt hat. Er fragte: „Was kann uns scheiden von der Liebe Gottes: Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Gefahr oder Krieg?“ Und er antwortete: „Das alles überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.“ Die Liebe ist die Kraft, die uns auch durch die dunklen Phasen des Lebens hindurchtragen kann. „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.“ Das ist unser Glaube, der letztlich stärker ist als die Zweifel, die uns angesichts von Not und Elend und mancher persönlichen Not immer mal wieder befallen.

Sie werden sich vielleicht den einen oder anderen Jahresrückblick angesehen haben. Vielleicht haben Sie auch ganz persönlich zurückgeschaut. Vielleicht haben Sie dabei einfach mal Ihren Kalender durchgeblättert.

Was hat sich an Schönem und Schwerem in Ihrem Leben in diesem Jahr ereignet? Wo stehen Sie damit heute und wie soll es nun weitergehen?

Was wir jetzt in diesem Gottesdienst gemeinsam tun können, ist dies: Wir können zum einen Dank sagen für alles Schöne, für alles Gelungene, für fröhliche Feste, für wunderbare Erlebnisse, gute Begegnungen, für die Bewahrung in schweren Tagen, für ermutigende und tröstende Worte, für Besuche, für liebevollen Beistand, für praktische Hilfe.

Alles, was uns schwer getroffen hat, was uns zu viel war, womit wir nicht zurechtgekommen sind, was uns weiterhin belastet, das können wir in die Hand Gottes legen. Das dürfen wir tun. Ihm dürfen wir anheimstellen, was über unsere Gefühle, über unseren Verstand, über unsere Möglichkeiten hinausgeht. Wir dürfen sagen: „Nun hilf du, Gott. Und schenk uns deine Ruhe und deinen Frieden.“

Das Leben ist mehr als eine Anzahl von Tagen und Jahren. Das Leben ist ein wunderbares Geschenk, eine große Aufgabe, ein Abenteuer, eine Herausforderung und in manchem auch eine Überforderung.

Wir stehen mit dem Leben nicht allein da. Wir können uns gemeinsam des Lebens freuen. Und wir können den Weg des Lebens gemeinsam gehen – über die Höhen und durch die Tiefen. Wenn uns gerade kein leibhaftiger Mensch zur Seite ist, dann bleibt uns noch der Schöpfer selbst. Die vielen guten Worte, die uns von ihm und durch ihn und über ihn überliefert sind, wollen uns stärken im Vertrauen auf seinen Beistand. Nichts kann uns scheiden von seiner Liebe.

Was wir erlebt und erfahren haben, legen wir in seine Hand. Und was wir vor uns haben, befehlen wir seiner Güte an. Gott war und ist und bleibt mit uns – gestern, heute und allezeit. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. Dezember 2009) 

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