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4. Sonntag nach Ostern (10.5.20)


Wir bekennen uns zum Dennoch

5. Mai 1996

Kantate

Offenbarung 15,2-4


Können Sie sich vorstellen, dass ein Ärztekongress seine Tagung mit einem gemeinsamen Lied beginnt? Das wäre wohl etwas sehr Besonderes - oder vielleicht sogar etwas Sonderbares. Oder können Sie sich vorstellen, dass eine Lehrerkonferenz mit einem Lied eröffnet wird? Das wäre wohl auch recht ungewöhnlich. Kirchliche Versammlungen dagegen beginnen - man kann wohl sagen "in der Regel" - mit einem gemeinsamen Lied. In der Kirche und in allen kirchlichen Gremien und Veranstaltungen wird viel gesungen. 

Der Sonntag Kantate fordert dazu heraus, sich über dieses Phänomen einmal einige grundsätzliche Gedanken zu machen darüber, dass Musik - und besonders das Singen - gerade in der Kirche eine so große Rolle spielt.

Natürlich spielt Musik auch in unserem täglichen Leben eine bedeutsame Rolle. Wenn Sie z. B. Radio Hamburg hören - da wird hauptsächlich Musik ausgestrahlt. Die Wortbeiträge sollen meines Wissens möglichst nicht länger als 90 Sekunden dauern. Bei längeren Wortbeiträgen fürchtet der Sender seine Zuhörer zu verlieren. Die schalten dann einfach weiter zum nächsten Sender, auf dem gerade Musik läuft. 

Aber Musik hören und sich vorspielen lassen einerseits und selbst singen und Musik machen andererseits - das sind doch zwei sehr verschiedene Dinge. 

Wir können wohl sagen, dass das Singen in der Kirche bekenntnishaften Charakter hat. Gemeinschaftlich Bekenntnis abzulegen - das passiert sonst eben kaum irgendwo im Leben. Man kann das noch auf dem einen oder anderen Parteikongress erleben. Die SPD macht das meines Wissens noch. Das klingt für manchen schon fast altmodisch und pathetisch. Im täglichen Leben lieben wir es eigentlich etwas sachlicher. 

Oder wenn die Nationalhymne gesungen wird, dann hat das auch Bekenntnischarakter.  Wer die Nationalhymne singt, bekennt sich zu seinem Volk, zu seiner Volkszugehörigkeit. Da hat auch mancher Hemmungen wegen unserer jüngeren deutschen Geschichte. Für andere ist das Singen der Nationalhymne wieder schick geworden.

In der Kirche hat das gemeinschaftliche Singen zumindest auch diesen Bekenntnischarakter. Wenn ich mich nicht täusche, wird in der Öffentlichkeit noch allgemein akzeptiert, dass dies so ist. 

Aber natürlich haben manche Menschen auch Schwierigkeiten mit dem christlichen Bekenntnis. Ich erinnere mich z. B. an eine Konfirmandin - das ist schon einige Jahre her - eine sehr ernsthafte und nachdenkliche Konfirmandin, die mir eines Tages sagte, sie würde nicht mehr zum Konfirmandenunterricht kommen. Auf meine Frage: "Warum denn nicht?" antwortete sie: "Die Zeitung berichtet von einem Erdbeben, Bekannte meiner Eltern lassen sich scheiden, mein Onkel ist Alkoholiker und meine Tante ist an Krebs gestorben - und in der Kirche wird gesungen: 'Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren!'" Die Konfirmandin gab mir leider keine Gelegenheit, mit ihr über dieses Problem zu diskutieren. Sie hatte ihre Entscheidung zu gehen schon endgültig gefällt. 

Das Problem, das sie aufgeworfen hatte, ist ein Problem - das ist ja klar - und mancher hat damit Schwierigkeiten: Wie kann man Gott lobsingen, wenn es so viel Elend um einen herum gibt? Werden diese Lobpreisungen Gottes in der Kirche gesungen, weil die Menschen, die sich zur Kirche halten, alle blind sind für die wirklichen Zustände in unserer Welt? Ich glaube nicht, dass Christen wirklichkeitsfern sind. Ganz im Gegenteil! Der christliche Glaube kann einen geradezu dazu befähigen, die Wirklichkeit mit besonders offenen Augen wahrzunehmen. 

Der Unterschied fängt erst bei der Frage an: "Wie gehen wir mit unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit um? Welche Position nehmen wir ein zu all dem Schönen und all dem Schrecklichen, das uns im Leben begegnet?" Und da könnten wir wohl sagen: "Der christliche Glaube kann zu dem großen Dennoch befähigen: Dennoch sage ich Ja zum Leben, dennoch lobpreise ich den Schöpfer, obwohl ich so viel Unschönes erlebe." 

Ist das ein trotziges Dennoch? Nein, es ist ein Dennoch aus Dankbarkeit und Liebe. Verzeihen, wenn ich das so pathetisch formuliere. 

Zum einen gibt es im Leben doch auch sehr viel Schönes. Wie viel Schönes im Vergleich zu dem Unschönen, darüber könnten wir uns sicherlich streiten. Das ist letztlich eine Frage der Betrachtungsweise. Es gibt Menschen, die betrachten das Leben so, wie man ein Musikstück hört. Da hat z. B. eine Organistin eine lange Ausbildung gemacht, sie hat ein Super-Zeugnis bekommen, dann gibt sie ein Konzert, auf das sie sich lange und sorgfältig vorbereitet hat. Sie spielt ausgezeichnet vor, aber an einer Stelle berührt sie die falsche Taste, es gibt einen schrägen Ton. 

Wir können uns sicher sein, dass für viele Zuhörerinnen und Zuhörer dieser eine schräge Ton das Urteil über das Vorspiel ganz wesentlich bestimmt. Nicht die tausend Töne, die in Ordnung waren, sondern der eine Ton, der daneben war, bestimmt das Urteil. So kann man auch das Leben sehen. Aber wenn wir das Leben so betrachten, dann ist unser Ausblick nicht sehr erfreulich. Dann haben wir immer Grund zur Unzufriedenheit, zur Kritik, zum Nörgeln und zum Klagen. 

Aber wollen wir unser Leben so sehen? Wir könnten dann wohl kaum froh werden. Und das wäre eben auch nicht die christliche Betrachtungsweise des Lebens. Die christliche Betrachtungsweise ist genau andersherum. Wir können im Laufe des Tages jede Menge negativer Erfahrungen gemacht haben - aber ein freundliches Lächeln war auch da. Und dieses eine freundliche Lächeln zählt mehr als alles Negative. Dieses eine freundliche Lächeln hat den Tag gerettet. Das ist die christliche Betrachtungsweise des Lebens. 

Wie wir das Leben sehen, ist zum einen vielleicht Mentalitätssache. Aber man kann das auch lernen. Wir können uns auch dahingehend trainieren, dass wir uns von den schönen Erfahrungen leiten lassen. Ich meine nicht, dass wir die Augen verschließen sollten vor all den Problemen, vor all dem Ärgerlichen, dem Enttäuschenden, vor all der Not und all dem Elend. Das alles sollen wir schon voll und ganz zur Kenntnis nehmen. Aber das soll unsere Einstellung zum Leben nicht bestimmen. 

Wir müssen uns notfalls einfach mal ganz angestrengt bemühen, das Gute und Schöne des Tages in unser Bewusstsein zu führen, wenn wir es nicht von allein und spontan wahrnehmen. Es hat einer z. B. auf seinem Schreibtisch eine kleine Karte stehen, auf der steht: Heute habe ich keine Bauchschmerzen, heute ist kein Angehöriger verstorben, heute regnet es nicht durchs Dach, heute muß ich nicht hungrig ins Bett usw. So kann man das auch machen: dass wir uns vor Augen führen, vor welchen Übeln wir am heutigen Tag verschont sind. 

Aber wir können auch den positiven Weg wählen und uns einfach dessen bewusst werden, wie viel Positives uns in jedem Augenblick zuteil wird. Viel Gutes und Schönes nehmen wir doch einfach nicht wahr, weil es uns selbstverständlich erscheint. Auch wenn wir krank im Bett liegen, haben wir vielleicht doch Medizin zur Hand und jemanden, der uns pflegt - das ist doch bei aller Not der Krankheit etwas ganz Wunderbares. Wie viele Kranke auf der Welt haben weder Medikamente noch menschlichen Beistand!

Es kommt manchmal vor , dass Angehörige eines Verstorbenen sagen: "Am Ende soll bei der Trauerfeier das bereits erwähnte Lied gespielt werden: 'Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.'" Sie sagen:" Wir sind zwar von Trauer erfüllt, und die letzten Wochen und Monate unseres Vestorbenen waren durch Krankheit belastet. Und in dem abgeschlossenen Leben hat es viele Tiefen gegeben. Aber da war eben auch viel Schönes, gute Zeiten der Ehe, eine befriedigende Berufstätigkeit, ein erfüllendes Hobby." Aber sie wollen am Ende eben nicht klagen über die Not, sondern sie wollen danken für das viele Gute und Schöne, das da ja auch war in diesem Leben. 

Das kann jeder von uns mal für sich selbst machen, so eine Art Bilanz ziehen, eine Bilanz des eigenen Lebens - und wie gesagt: Da kommt es dann darauf an, wie wir die einzelnen Erfahrungen unseres Lebens werten.

Wir können das Leben so unterschiedlich betrachten, wie wir das Kreuz unterschiedlich betrachten können. Im Kreuz könnten wir die ganze Schlechtigkeit des Menschen erkennen, denn das Kreuz war schließlich ein Hinrichtungswerkzeug, und ein Mensch ohne Tadel ist daran als Unschuldiger zu Tode gebracht worden. Wir können im Kreuz aber auch die Unzerstörbarkeit der Liebe wahrnehmen. Denn der am Kreuz als Unschuldiger hingerichtet wurde, hat den Übeltätern vergeben und hat die Liebe Gottes zu seiner gefallenen Kreatur trotz allem bekräftigt. 

Wenn wir den Lobpreis Gottes singen, dann ist das ein Bekenntnis: Wir bekennen unser Ja zum Leben, unser Ja zum Menschen, unser Ja zu unserem Schöpfer und dem Herrn unseres Lebens. Es ist das Ja trotz aller Erfahrung, die auch ein Nein rechtfertigen würde. Aber als Christen leben und bekennen wir das Dennoch. 

Wir verstummen nicht vor dem Elend der Welt und wir lassen uns nicht kleinlaut machen. Wir danken Gott und preisen seine Güte und Freundlichkeit für alle Zeit.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 5. Mai 1996)

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