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5. Sonntag nach Ostern (17.5.20)


Bitten ohne Anspruch auf Erhörung

16. Mai 1993

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

Lukas 11,5-13


Ro­ga­te - so heißt der heu­ti­ge Sonn­tag, auf hoch­deutsch: „Bit­tet!“ Und vom Bit­ten und Be­ten han­delt der Pre­digt­text. „Bit­tet, so wird euch ge­ge­ben.“ Manch­mal wünsch­ten wir, die­ser Satz könn­te so di­rekt zu ver­ste­hen sein, wie er for­mu­liert ist: Wir spre­chen ei­ne Bit­te aus, und sie wird er­füllt. Wir fal­ten die Hän­de und be­ten, und un­ser Wunsch geht in Er­fül­lung. Das wür­de uns in man­chen Si­tu­a­tio­nen als ge­ra­de­zu ide­a­le Lö­sung er­schei­nen. Wir ha­ben ein Pro­blem, bei dem wir nicht mehr wei­ter­wis­sen - dann bit­ten wir un­se­ren Herr­gott um die Lö­sung, und al­les geht in Ord­nung. Ein lie­ber Mensch ist krank, wir be­ten, und der lie­be Mensch wird ge­sund. Oder wir ha­ben ei­nen sym­pa­thi­schen Men­schen ken­nen­ge­lernt und möch­ten gern auf Ge­gen­lie­be sto­ßen – wir be­ten, und der an­de­re fin­det auch uns sym­pa­thisch. Das wä­re ja wun­der­bar, wenn das mit dem Bit­ten und Be­ten so funk­tio­nie­ren wür­de.

Aber so geht das be­kannt­lich nicht – und so kann es auch nicht ge­hen, und so kann der Satz bei Lu­kas auch nicht ge­meint sein. Es ist auch durch­aus frag­lich, ob das so gut wä­re, wenn sich un­se­re Wün­sche auf die­se Wei­se er­fül­len lie­ßen.

Zum ei­nen kä­me un­ser Herr­gott in ech­te Schwie­rig­kei­ten, wenn er et­wa ge­gen­läu­fi­ge Wün­sche zu er­fül­len hät­te: „Herr, lass es reg­nen“, be­tet der Bau­er, und „Herr, lass die Son­ne schei­nen“, be­tet der Frei­zeit­mensch. Wie soll­te sich der lie­be Gott dann wohl ent­schei­den?!

Aber da­von ab­ge­se­hen, wür­de bei die­sem miss­ver­stan­de­nen Ge­bets­ver­ständ­nis der Lauf der Din­ge gänz­lich in un­se­re ei­ge­ne Hand ge­legt. Ob das so gut wä­re, darf man wohl bei al­lem, was wir bis­her über die mensch­li­che Weis­heit er­fah­ren ha­ben, be­zwei­feln. Oh­ne uns als mensch­li­che Gat­tung schlecht ma­chen zu wol­len, müs­sen wir wohl doch in al­ler Be­schei­den­heit ein­ge­ste­hen, dass es gut ist, dass sich die Din­ge nicht nach un­se­ren Plä­nen und Wün­schen, nicht nach un­se­rem Wil­len ent­wickelt ha­ben. Es gibt durch­aus ei­ne Weis­heit, die hö­her ist als un­se­re Ver­nunft.

Am Bei­spiel der Kin­der lässt sich das wohl noch am leich­te­sten auf­zei­gen: Wer Kin­der zu er­zie­hen hat, ei­ge­ne oder – von Be­rufs we­gen et­wa – frem­de, der weiß, mit wel­chen Wün­schen Kin­der an ei­nen her­an­tre­ten, die wir zum Schutz der Kin­der wirk­lich nicht er­fül­len dür­fen. Für die Kin­der ist das dann oft­mals schmerz­lich, und es flie­ßen Trä­nen, wenn wir „Nein!“ sa­gen. Den­noch ist es bes­ser so. Und so kann es auch oft­mals bes­ser sein, zu un­se­rem ei­ge­nen Schutz und dem Schutz un­se­rer Mit­men­schen, wenn un­se­re Wün­sche nicht in Er­fül­lung ge­hen.

Wie aber steht es mit un­se­ren wirk­lich gu­ten und sinn­vol­len Wün­schen? Dass Frie­den sein mö­ge, wo Krieg herrscht, et­wa. Oder dass al­le Men­schen aus­rei­chend zu es­sen ha­ben mö­gen, wo doch so vie­le ganz un­schul­dig dem Hun­ger­tod aus­ge­setzt sind? Oder dass es mehr Lie­be un­ter den Men­schen ge­ben mö­ge!?

Auch un­se­re gu­ten Wün­schen las­sen sich nicht durch das blo­ße Ge­bet er­fül­len. Wir müs­sen uns in Ge­duld üben, wir müs­sen uns selbst et­was ein­fal­len las­sen und tä­tig wer­den, und wir müs­sen man­ches ein­fach hin­neh­men, mag es auch schwer sein. Man­cher ist über die­se Ein­sicht bit­ter ge­wor­den und hat im Zorn sei­nem Herr­gott den Rücken ge­kehrt. Denn, so fra­gen und for­dern man­che: „Wenn Gott wirk­lich der All­mäch­ti­ge ist, wie wir ja auch im Glau­bens­be­kennt­nis nach­spre­chen, soll­te er dann nicht das Bö­se stets ver­hin­dern und Scha­den zum Gu­ten wen­den?“

Spä­te­stens das Neue Te­sta­ment lehrt uns mit Je­sus Chri­stus Gott in neu­er Wei­se zu se­hen. In Chri­stus er­le­ben wir Gott nicht als den All­mäch­ti­gen, der das Bö­se ver­hin­dert, un­ter­drückt und be­sei­tigt. In Chri­stus er­le­ben wir Gott in äu­ßer­lich schwa­cher Ge­stalt als ei­nen, der vom Bö­sen ge­pei­nigt und zu To­de ge­bracht wird, der sei­ne Stär­ke al­ler­dings in dem ei­nen un­er­schüt­ter­lich be­weist: in sei­ner Lie­be zu den Men­schen und zu dem Le­ben mit all sei­nen Pro­ble­men.

Erst mit Blick auf die­sen Je­sus Chri­stus er­hält un­ser Pre­digt­text sei­nen Sinn. „Bit­tet, so wird euch ge­ge­ben!“, das will uns sa­gen: Gott sol­len wir ver­ste­hen als ei­nen Freund, als ei­nen gu­ten Freund, als ei­nen mensch­li­chen Freund, der auf un­ser Wohl be­dacht ist, der uns un­se­re be­rech­tig­ten Bit­ten nicht ab­schlägt. Der al­ler­dings nicht den Lauf der Din­ge als all­mäch­ti­ger Herr­scher zu­recht­rückt, son­dern der un­ter den Be­din­gungen die­ses Da­seins in Je­sus Chri­stus das Men­schen­mög­li­che zu un­se­ren Gun­sten tut.

Wir müs­sen, was das Ver­ständ­nis des Bit­tens und Be­tens an­geht, den Pre­digt­text ein­mal so neh­men, wie er ist, und die zen­tra­le Aus­sa­ge „Bit­tet, so wird euch ge­ge­ben!“ in ih­rem hier ge­schil­der­ten Zu­sam­men­hang ver­ste­hen: Je­mand geht um Mit­ter­nacht zu sei­nem Freund und bit­tet ihn um drei Bro­te, weil er über­ra­schend Be­such be­kom­men hat und nichts im Hau­se hat, was er dem Gast zu es­sen ge­ben könn­te. Der Freund springt nicht ge­ra­de vor Hilfs­be­reit­schaft aus dem Bett. Aber um der Freund­schaft wil­len be­quemt er sich nach ei­ni­gem Bit­ten doch, das zu tun, was sein Freund in die­ser un­ge­wöhn­li­chen Si­tu­a­tion von ihm er­war­tet.

Wir kön­nen uns wohl in die La­ge bei­der Men­schen hin­ein­ver­set­zen. Der ei­ne möch­te ein drin­gen­des Pro­blem lö­sen und sucht die Lö­sung bei sei­nem Freund. Der an­de­re fühlt sich in sei­ner Ru­he ge­stört und rafft sich erst nach ei­ni­gem Drän­gen zum Hel­fen auf­. Das ist nur all­zu mensch­lich.

Und nun heißt es: Wenn sich schon ein Freund, wenn auch mit et­was Nach­hel­fen, zu ei­nem so un­be­que­men Freund­schafts­dienst drän­gen lässt, dann dür­fen wir wohl um so mehr dar­auf ver­trau­en, dass uns Gott zu Hil­fe kom­men wird. Es gibt, so will uns Je­sus sa­gen, trotz un­se­rer ge­gen­tei­li­gen Er­fah­rung ei­ne voll­kom­me­ne Freund­schaft, nicht spek­ta­ku­lär und of­fen­sicht­lich, aber doch exi­stent, vor­han­den auch in und hin­ter der zer­brech­li­chen mensch­li­chen Freund­schaft, die durch so vie­le Un­voll­kom­men­hei­ten ge­fähr­det ist.

Ist die voll­kom­me­ne Freund­schaft et­was Re­a­les oder ist sie nur ei­ne il­lu­sionäre Vor­stel­lung? Die Ant­wort auf die­se Fra­ge hängt, möch­te ich mal et­was sa­lopp sa­gen, von un­se­rer Men­ta­li­tät ab. Die ei­nen wer­den sa­gen: „Wah­re Freund­schaft gibt es nicht.“ Sie kön­nen ih­re le­bens­lan­ge Er­fah­rung als Be­weis an­füh­ren. Die an­de­ren wer­den sa­gen: „Trotz­dem glau­ben wir an die wah­re Freund­schaft.“

Zu die­sem Glau­ben er­mun­tert uns Je­sus Chri­stus. Da­mit will er uns nicht zur Il­lu­sion ver­füh­ren. Er legt uns ei­ne Sicht­wei­se na­he, die wir zum Le­ben brau­chen. Es geht da­rum, die vor­han­de­nen Spu­ren wah­rer Freund­schaft zu ent­decken, sie wahr­zu­neh­men, sich an die­sen Spu­ren zu orien­tie­ren, ih­nen zu fol­gen. Denn sie füh­ren zu ei­nem neu­en Le­ben. Das all­zu Mensch­li­che, das uns in un­se­ren täg­li­chen Er­fah­run­gen so sehr vor Au­gen ist und das un­se­re Sicht der Din­ge, un­se­re Sicht des Le­bens, un­se­re Sicht des Men­schen vor­ran­gig zu prä­gen sich vor­drängt, das all­zu Mensch­li­che, das ist noch nicht die gan­ze Wahr­heit. Es gibt Spu­ren des Gött­li­chen in un­se­rer Welt, auch in un­se­rer täg­li­chen Er­fah­rung, Spu­ren der Voll­kom­men­heit, der voll­kom­me­nen Freund­schaft. Chri­stus selbst ist ein sol­ches gött­li­ches Spu­ren­e­le­ment in un­se­rer mensch­li­chen Ge­schich­te. Er ist von vie­len über­se­hen wor­den.

Schau­en wir hin und glau­ben wir an das Gu­te, an das Gött­li­che, an die wah­re Freund­schaft, an die wah­re Lie­be. Glau­ben wir doch dar­an, dass uns ge­hol­fen wer­den kann, dass un­se­re Bit­te er­füllt wer­den kann, dass un­ser Be­ten nicht ver­ge­bens ist. Mö­gen wir auch im­mer wie­der ent­täuscht wer­den, so ist es doch gut, sich in Ge­duld zu fas­sen und auch das Un­voll­kom­me­ne, das Un­fer­ti­ge, das Schwe­re an­zu­neh­men. Denn oh­ne den Glau­ben an das Gött­li­che, an das Gu­te, an die Freund­schaft und Lie­be wird un­ser Le­ben arm und trost­los.

„Bit­tet, so wird euch ge­ge­ben, su­cht, so wer­det ihr fin­den, klop­ft an, so wird euch auf­ge­tan!“ Wir ha­ben doch die­se Er­fah­run­gen schon ge­macht, je­der von uns, wenn sie viel­leicht auch nicht die ty­pi­schen Er­fah­run­gen des täg­li­chen Le­bens sind. Aber zählt nicht ei­ne gu­te Er­fah­rung mehr als tau­send schlech­te?! Ist nicht ein Chri­stus mehr als tau­send Bö­se­wich­te?!

Wir sol­len nicht dar­auf war­ten, dass der All­mäch­ti­ge die­ses Da­sein ganz neu ge­stal­tet. Das Gött­li­che und Voll­kom­me­ne, das Gu­te und Schö­ne ist schon un­ter den Be­din­gun­gen un­se­res jet­zi­gen Da­seins da. Wir ha­ben es er­lebt, wir er­le­ben es und wer­den es er­le­ben, so­fern wir dar­an glau­ben und die Au­gen und un­se­re Her­zen of­fen­hal­ten. Gott schen­ke uns die­sen Glau­ben.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 16. Mai 1993)

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