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Pfingstmontag (1.6.20)


Die reale Kraft des Geistes

20. Mai 2002

Pfingstmontag

Apostelgeschichte 2,22-23.32-33.36-39


Pfing­sten ist das Grün­dungs­fest der Kir­che. Wenn wir Pfing­sten feiern, dann feiern wir den Ge­burts­tag der Kir­che. Als Je­sus nicht mehr da war, ging es um die Fra­ge: „Wie wird es wei­ter­ge­hen?“ Das war die Fra­ge sei­ner Jün­ger, sei­ner eng­sten An­hän­ger, nach der Him­mel­fahrt Je­su. Wie kom­men wir oh­ne un­se­ren Herrn und Mei­ster zu­recht? Schaf­fen wir das? Wie kön­nen wir wei­ter­ge­ben, was wir mit ihm er­lebt ha­ben, was er uns ge­sagt hat, was er uns auf­ge­tra­gen hat?

Ge­stern ha­ben wir den wun­der­sa­men Be­richt ge­hört, wie die Jün­ger für ih­re Auf­ga­be mit der Kraft des Hei­li­gen Gei­stes aus­ge­stat­tet wor­den sind. Heu­te be­rich­tet uns der Pre­digt­text aus der Apo­stel­ge­schich­te 2 von der er­sten Pre­digt der Jün­ger. Pe­trus wen­det sich an die Ju­den in Je­ru­sa­lem und trägt ih­nen vor, wer je­ner Je­sus von Na­za­reth ge­we­sen ist, der so vie­le Wun­der und Zei­chen ge­tan hat, der ge­kreu­zigt wor­den ist, der ge­stor­ben ist und dann wie­der auf­er­stan­den und schließ­lich gen Him­mel ge­fah­ren ist: dass je­ner Je­sus von Na­za­reth näm­lich der Mes­si­as ist, der Chri­stus, auf den sie doch so lan­ge ge­war­tet hat­ten, der Be­freier, der Er­lö­ser. Pe­trus ver­mag die Her­zen sei­ner Zu­hö­rer zu be­we­gen. Auf die Fra­ge: „Was kön­nen wir tun?“, sagt er: „Tut Bu­ße, und je­der von euch las­se sich tau­fen auf den Na­men Je­su Chri­sti zur Ver­ge­bung der Sün­den, so wer­det ihr emp­fan­gen die Ga­be des Hei­li­gen Gei­stes.“

Vom Hei­li­gen Geist ist im­mer wie­der die Re­de im Zu­sam­men­hang mit Pfing­sten. Wie ist das mit dem Geist zu ver­ste­hen?

Der Geist ist un­sicht­bar – an­ders als der Leib und an­ders als al­les Ma­te­riel­le. Als Je­sus noch leib­haf­tig ge­gen­wär­tig war, da konn­ten ihn die Jün­ger se­hen und hö­ren, sie konn­ten ihn an­fas­sen, konn­ten ihn be­ob­ach­ten. Wenn sie ei­ne Fra­ge hat­ten, konn­te sie sie ihm stel­len, und er ant­wor­te­te. Er konn­te er­klä­ren, was er tat und was er sag­te. Und wenn sie auch das ei­ne oder an­de­re viel­leicht nicht gleich ver­stan­den, so war für sie doch klar: Mor­gen oder über­mor­gen kön­nten sie ihn noch ein­mal fra­gen, und sie könn­ten ihn wei­ter be­ob­ach­ten, könn­ten ihn wei­ter se­hen und hö­ren. Die leib­haf­ti­ge Ge­gen­wart hat­te ih­nen ei­ne ge­wis­se Si­cher­heit ver­mit­telt, ei­ne ge­wis­se in­ne­re Si­cher­heit, auch wenn sie ihn nicht ver­stan­den. Sie wuss­ten ja: Da ist er. Er ist da, der al­le Ant­wor­ten in sich trägt.

Der Leib Je­su, sein leib­haf­ti­ges Re­den und Han­deln, war selbst die Ant­wort auf all ih­re Fra­gen. Und dann war Je­sus plötz­lich nicht mehr da: erst ge­stor­ben und be­gra­ben, dann – nach der Auf­er­ste­hung – gen Him­mel ge­fah­ren. Der Leib war nicht mehr da. Wo­her soll­ten die Jün­ger jetzt Ant­wor­ten auf ih­re Fra­gen neh­men?

Sie muss­ten jetzt, ver­zei­hen Sie, wenn ich das so for­mu­lie­re, sie muss­ten jetzt auf ih­re ei­ge­nen Lei­ber zu­rück­grei­fen. Die Jün­ger wa­ren auf sich selbst zu­rück­ge­wor­fen. Sie muss­ten sich jetzt ge­gen­sei­tig be­spre­chen, sich be­ra­ten, di­sku­tie­ren, über ih­re Er­fah­run­gen re­den. Und da­bei stell­ten sie fest, dass der, über den sie re­de­ten, und des­sen leib­haf­ti­ge Prä­senz sie so sehr ver­miss­ten, dass der noch wei­ter­hin in ih­nen vor­han­den war, in ih­ren Er­in­ne­run­gen, in ih­ren Ge­dan­ken und in ih­ren Ge­füh­len, in ih­ren Sehn­süch­ten, ih­ren Wün­schen und in ih­rem Wol­len. Sie merk­ten bei ih­rem Re­den schnell, dass Je­sus wei­ter un­ter ih­nen ge­gen­wär­tig war, nicht mehr leib­haf­tig, a­ber mit dem, was er ih­nen be­deu­te­te, mit dem Sinn sei­ner Wor­te und der Ab­sicht sei­ner Hand­lun­gen.

Es dau­er­te nicht lan­ge, da ga­ben sie, die Jün­ger, der gei­sti­gen Prä­senz ih­res Je­sus wie­der ei­ne leib­haf­ti­ge Ge­stalt, in dem näm­lich, was sie nun selbst – in sei­nem Na­men und in sei­nem Sin­ne – sag­ten und ta­ten. Und bald war es so, dass Men­schen, die die Jün­ger er­leb­ten, mei­nen konn­ten, sie hät­ten Je­sus selbst vor sich, Nach­fol­ger zu­min­dest je­nes Je­sus, der ih­nen als Chri­stus ver­kün­digt wur­de.

Die­je­ni­gen nun, die die Be­deu­tung Je­su durch ihr Re­den und Han­deln aufs Neue ver­kör­per­ten, wa­ren auch bald nicht mehr leib­haf­tig ge­gen­wär­tig, aber sie hat­ten das, was Je­sus ih­nen be­deu­te­te, ja wei­terge­ge­ben an an­de­re, hat­ten – ver­zei­hen Sie – den gei­sti­gen Je­sus in an­de­re Lei­ber hin­ein­ge­ge­ben. Und so lässt sich der Fa­den wei­ter­spin­nen bis heu­te.

Das Leib­haf­ti­ge und das Gei­sti­ge be­fin­den sich in ei­nem be­stän­di­gen Wech­sel. Und bei­des ist be­stän­dig zu­gleich da.

Als Je­sus noch leib­haf­tig da war, da war er zum ei­nen „Leib“ – und sei­ne leib­haf­ti­ge Ge­gen­wart war für die Men­schen sei­ner Zeit wich­tig. Aber er war gleich­zei­tig auch ei­ne gei­sti­ge Grö­ße in dem, was er be­deu­te­te, in dem, was sein Re­den und Tun aus­sag­te, und in dem, was sein Re­den und Tun an Mo­ti­va­tions­kraft und an Le­bens­kraft ent­hielt. Die­se gei­sti­ge Sei­te sei­ner P­er­sön­lich­keit ist prä­sent ge­blie­ben, un­ab­hän­gig von sei­ner kör­per­li­chen Ge­gen­wart. In Pe­trus wur­de die gei­sti­ge Sei­te Je­su wie­der in ei­nem Men­schen leib­haf­tig an­schau­bar und hör­bar und er­leb­bar. Als Pe­trus pre­dig­te, lie­ßen sich die gei­sti­gen Ele­men­te Je­su in den Oh­ren und Her­zen und im Ver­stand der Zu­hö­rer nie­der. Als Pe­trus dann da­von­ging und ei­nes Ta­ges schließ­lich ge­stor­ben war und er al­so nicht wei­ter leib­haf­tig prä­sent war, da war aber das, was er über Je­sus Chri­stus ge­sagt und in seinem Geiste ge­tan hat­te, wei­ter ge­gen­wär­tig.

Viel­leicht klingt das jetzt al­les ba­nal, was ich sa­ge. Aber es ist, wenn man es recht be­denkt, doch et­was Fas­zi­nie­ren­des, so emp­fin­de ich das je­den­falls, dass der Geist, wenn er zum ei­nen auch so ab­strakt und un­fass­bar er­scheint, zum an­de­ren doch ei­ne so un­leug­ba­re Exi­stenz und Kraft be­sitzt.

Zweiein­halb Jahr­hun­der­te, nach­dem das Er­den­le­ben Je­su be­en­det war und nach­dem Pe­trus längst ver­stor­ben war, hör­te An­to­ni­us in Ägyp­ten ei­ne Pre­digt, An­to­ni­us, Kind wohl­ha­ben­der El­tern und Er­be ei­nes an­sehn­li­chen Ver­mö­gens. An­to­ni­us be­such­te ei­nen Got­tes­dienst und hör­te die Evan­ge­lien­le­sung aus Mat­thäus 19. Und dann kam der Satz, ein Wort Je­su: „Wenn du voll­kom­men sein willst, geh, ver­kauf dei­nen Be­sitz und gib das Geld den Ar­men, so wirst du ei­nen Schatz im Him­mel ha­ben; dann komm und fol­ge mir nach.“

Die­se Wor­te Je­su tra­fen An­to­ni­us ins Herz. Je­sus war seit zweiein­halb Jahr­hun­der­ten nicht mehr leib­haf­tig ge­gen­wär­tig, aber die gei­sti­ge Kraft sei­ner Wor­te, die war da, als hät­te Je­sus sie ge­ra­de selbst ge­spro­chen. An­to­ni­us ging hin, ver­kauf­te sei­nen Be­sitz, un­ter­stütz­te mit dem Er­lös die Ar­men und führ­te dann selbst ein Le­ben in ab­so­lu­ter Be­schei­den­heit.

Der Geist ist ab­strakt und man kann ihn nicht se­hen. Aber was er be­wirkt, das kann man se­hen. Der Geist ist ei­ne Kraft, und wo die­se Kraft zum Zu­ge kommt, da wer­den die Er­geb­nis­se sicht­bar, hör­bar, spür­bar, er­leb­bar.

Wir ha­ben zu­hau­se ei­ne gan­ze Men­ge Bü­cher. Man­che ha­be ich zwanzig Jah­re lang nicht an­ge­fasst – au­ßer beim Staub­put­zen. Manch­mal sit­ze ich vor der Bü­cher­wand und stel­le mir vor, was in die­sen Bü­cher ge­schrie­ben steht. Ein­mal griff ich ins Re­gal, das ist schon län­ger her, und nahm ei­ne Schrift von Bon­hoef­fer her­aus, schlug ei­ne Sei­te auf und sah die Über­schrift ei­nes Ge­dich­tes: „Wer bin ich?“ Al­lein die­se Über­schrift pack­te mich, ich las das Ge­dicht, das en­det mit den Wor­ten: „Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott.“ Ich ha­be die­ses Ge­dicht dann im­mer wie­der be­dacht und aus­ge­legt. Es hat mir – und wie ich ver­mu­te, an­de­ren Men­schen – ei­nen gu­ten Dienst er­wie­sen. Es hat et­was in mei­nem Le­ben und viel­leicht im Le­ben vie­ler Men­schen be­wirkt.

Wenn wir das ein­mal be­den­ken: ein Buch – das ist Ma­te­rie. Das ist ein biss­chen Pa­pier und Pap­pe, ein biss­chen Drucker­schwär­ze. Und von die­ser Ma­te­rie steht bei mir zu­hau­se ei­ne gan­ze Men­ge. Die steht da so seit Jah­ren, das mei­ste un­be­rührt. Aber was steckt in die­ser Ma­te­rie?! Was sind da für Wor­te drin ent­hal­ten, die, wenn sie ge­le­sen wer­den und ins Herz tref­fen, das Le­ben ver­än­dern kön­nen, viel­leicht ei­ne Re­vo­lu­tion aus­lö­sen kön­nen. Zwi­schen den Papp­deckeln schlum­mert ei­ne gei­sti­ge Kraft, ei­ne enor­me gei­sti­ge Kraft, ei­ne gar nicht zu über­schät­zen­de Kraft. Sie schlum­mert vor sich hin, sie ist nicht sicht­bar, aber sie könn­te in je­dem Au­gen­blick, um­wäl­zen­de Ver­än­de­run­gen be­wir­ken.

Die Na­tio­nal­so­zi­a­li­sten ha­ben Bü­cher ver­brannt, sie ha­ben die gei­sti­ge Kraft, die zwi­schen den Buch­deckeln ent­hal­ten ist, aus­zu­mer­zen ver­sucht. Das ist ih­nen nicht ge­lun­gen. Das konn­te nicht ge­lin­gen. Ei­ne gei­sti­ge Kraft ist un­zer­stör­bar. Sie ma­te­ri­a­li­siert sich im­mer wie­der und wo sie will.

Es gib so­ne und sol­che gei­sti­gen Kräf­te. Wir spre­chen im Zu­sam­men­hang mit Pfing­sten vom Hei­li­gen Geist. Es ist ein gu­ter Geist, der durch Je­sus in die Welt ge­kom­men ist, ein Le­ben s­chaf­fen­der, ein Le­ben er­hal­ten­der Geist, ein Geist der Freund­lich­keit und Lie­be, der Hilfs­be­reit­schaft, der Ver­ge­bung, ein Geist des Frie­dens. Der Geist Got­tes, von dem die
bi­bli­schen Texte schon am An­fang Gu­tes zu for­mu­lie­ren wis­sen: „Am An­fang schuf Gott Him­mel und Er­de. Und die Er­de war wüst und leer, und es war fin­ster auf der Tie­fe; und der Geist Got­tes schweb­te auf dem Was­ser.“ Es ist der schöp­fe­ri­sche Geist Got­tes, der Le­ben schaffende und Le­ben be­wah­ren­de Geist.

Je­sus Chri­stus wur­de ge­walt­sam zu To­de ge­bracht. Aber sei­ne gei­sti­ge gött­li­che Kraft konn­te nicht zu­nich­tege­macht wer­den. Sein Geist, der Hei­li­ge Geist, ist auf sei­ne Jün­ger über­ge­gan­gen und auf die nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen bis auf den heu­ti­gen Tag. Der Geist Je­su hat in viel­fa­cher Wei­se leib­haf­ti­ge, ma­te­riel­le Ge­stalt an­ge­nom­men, u. a. in der Kir­che, in der Ge­mein­schaft der an Chri­stus Glau­ben­den, in der welt­wei­ten Or­ga­ni­sa­tion Kir­che und in den zahl­lo­sen Ge­bäu­den, den Kir­chen, wie in un­se­rer schö­nen Kir­che St. Mar­kus. Pfing­sten ist der Ge­burts­tag der Kir­che. Der Geist Got­tes, der Geist Je­su, der Hei­li­ge Geist lebt und wirkt. Mö­ge er noch viel Gu­tes be­wir­ken – in uns und in al­ler Welt.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 20. Mai 2002)

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