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Pfingstsonntag (31.5.20)


Das Wunder des Verstehens

19. Mai 1991

Pfingstsonntag

Johannes 14,23-27


Kürzlich während unseres Kurzurlaubs hatten wir abends Besuch von Freunden. Ein Paar hatten wir zum Essen eingeladen, er erfolgreicher Geschäftsmann, sie beruflich im krankenpflegerischen Bereich tätig – seine neue Erwerbung nach etlichen gescheiterten Beziehungen. Die beiden waren mit dem Rad gekommen. Nachdem wir gut gegessen und getrunken und uns viel unterhalten hatten über seine Arbeit, über ihre Arbeit, über das Essen, die Wirtschaft, die Politik, das Wetter, die Gesundheit und die Urlaubspläne und sich Mitternacht näherte und die beiden wieder aufbrachen, sagte sie, während sie dabei war, ihr Fahrrad aufzuschließen: „Was ich noch fragen wollte: Was ist eigentlich Pfingsten?“

Wie sollte ich in den verbleibenden sechzig Sekunden erklären, was es mit Pfingsten auf sich hat? Ich sagte: „Pfingsten ist das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes.“ – „Wie bitte?“ – „Man kann auch sagen: Pfingsten ist das Gründungsfest der Kirche.“ – „Hm“, meinte sie mit nachdenklichem Gesicht, während sie einen Fuß auf die Pedale setzte. – „Du kennst doch vielleicht die Geschichte, wo Jesus schon nicht mehr da war und die Jünger in Jerusalem den Leuten weitererzählen wollten, was sie mit Jesus Christus erlebt hatten, und die Jünger konnten doch nur Griechisch, und unter den Leuten in Jerusalem waren so viele aus anderen Ländern, die eben andere Sprachen sprachen. Und wie dann der Heilige Geist in Feuerzungen vom Himmel kam und jeder plötzlich das Gefühl hatte: Die reden mich ja in meiner eigenen Sprache an.“ Sie setzte sich schon mal auf den Sattel. „Das ist natürlich eine Wundergeschichte, die darf man nicht wörtlich nehmen. Aber du kennst ja die Sprache, die jeder versteht!?“ – „Wieso?“ – „Die Sprache der Liebe.“ Sie sah ihren Freund vielsagend an. Noch ein Kuss und dann radelten die beiden davon.

Hatte ich mit dieser Kurzpredigt die Pfingstbotschaft rüberbringen können? Ich weiß es nicht. Versuchen Sie das doch mal in sechzig Sekunden. Andererseits, wenn ich mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätte, angenommen zuvor beim Essen oder beim Nachtisch? Angenommen sie hätte mich schon da nach Pfingsten gefragt, was hätte ich dann an Erklärungen vorgebracht? Vielleicht hätten mehr Worte auch nicht mehr sagen können. Manchmal helfen ja auch lange Erklärungen nicht, wenn nicht von vornherein eine Verstehensbasis gegeben ist. Da redet man wie gegen eine Wand. Und umgekehrt reichen manchmal ein paar Worte, und alles ist klar. Wenn nämlich der andere aufgeschlossen ist. Da würden wir dann mit allen weiteren Worten offene Türen einrennen.

Diese Einsicht liegt doch auch der Pfingstbotschaft zugrunde: Das Pfingstwunder ist das Wunder des Verstehens. Das gegenseitige Sich-verstehen wird gerade derjenige wie ein Wunder erleben, der die Erfahrung des gegenseitigen Unverständnisses ausgiebig gemacht hat. Wir haben es nur zu einem geringen Teil in der Hand, uns verständlich zu machen. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns zum Beispiel mit einem Menschen lange gut verstanden haben und dann plötzlich nicht mehr, wenn plötzlich alles falsch ist, was wir sagen, alles auf Unverständnis stößt und Unwillen hervorruft. Wir fragen uns dann: „Was ist denn plötzlich anders?“ Es haben sich dann Grundvoraussetzungen in der Beziehung zueinander geändert. Wenn wir uns zum Beispiel aus irgendwelchen Gründen nicht mehr mögen, dann lässt auch unser Verständnis füreinander nach. Und das gilt nicht nur für den allgemeinen zwischenmenschlichen Bereich, das gilt auch für unser Verhältnis zum christlichen Glauben, zur Kirche und zur Bibel.

Jesus sagt in unserem Predigttext aus dem Johannesevangelium: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten. Wer mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht.“ In der Tat: Wo es an dieser wohlwollenden liebevollen Offenheit fehlt, da kann uns Christus nichts sagen und keine positiven Reaktionen in unserem Verhalten auslösen, da bleibt das Anliegen von Kirche unverständlich, uninteressant und folgenlos. Das kann geradezu tragisch sein – wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen auch. Wenn wir da zum Beispiel ein Paar sehen, wo sich beide vielleicht lange mit ihrer je eigenen Art reich beschenkt haben und sie sich dann plötzlich nichts mehr zu geben vermögen, weil die Liebe zueinander erkaltet ist, dann ist das tragisch.

Ebenso tragisch ist es, wenn da der reiche Schatz unseres Glaubens ist, die wunderbare Gabe der Bibel, der geistige Reichtum kirchlicher Formen und Traditionen, und so viele nichts davon anzunehmen vermögen, weil ihnen von vornherein die wohlwollende Offenheit fehlt, sie innerlich verschlossen sind und das zu Hörende und zu Lesende und zu Sehende und zu Erfahrende nicht in ihrem Herzen bewegen. „Wo die Offenheit der Liebe da ist, da werden wir“, so sagt Jesus, „Gott, der Vater, und ich zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“

 Die Pfingstgeschichte malt in der bildhaften Sprache der Bibel das Wunder des Verstehens aus: Menschen anderer Sprache, anderer Völker und Kulturen fühlen sich verstanden. „Heiliger Geist“ wird diese unverfügbare Kraft genannt, die das Verstehen auslöst, die wie ein unsichtbarer Schlüssel die Herzen aufschließt.

Es ist ein besonderes Wunder, wenn das Verstehen auch über die nationalen, die sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg möglich wird. Dies setzt vielleicht noch ein Stück mehr Liebe voraus. Wenn der andere nicht nur zum anderen Geschlecht gehört, sondern auch noch eine andere Hautfarbe hat, eine uns unverständliche Sprache spricht, er auf dem Boden das Essen mit den Fingern einnimmt, vielleicht noch besonders arm ist und für unseren Geschmack unansehnlich aussieht und wir uns dann fragen: „Könnten wir uns mit diesem Menschen verstehen?“, dann können wir antworten: „Ja, das wäre möglich.“ Denn all diese äußeren Gegebenheiten brauchen keine Rolle zu spielen. Es kann zu einem ganz wunderbaren Verstehen kommen, indem wir uns gegenseitig respektieren in der jeweiligen Andersartigkeit, einander gelten lassen, einander beschenken mit menschlicher Anerkennung und vielleicht sogar voneinander lernen. Es kann aber auch zu völligem gegenseitigen Unverständnis kommen.

„Heiliger Geist“ ist der Name für diese im Einzelnen undefinierbare Kraft, die uns hilft, all diese Hindernisse zwischen Menschen zu überwinden. Er ist die Fortsetzung des Geistes Jesu Christi in die Geschichte hinein, die Vergegenwärtigung seines Geistes, seiner Art zu leben und zu wirken und mit den Menschen umzugehen. „Der Heilige Geist, den mein Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“, sagt Jesus im Johannesevangelium. Und was er uns lehrt und woran er uns erinnert, das ist eben die in Christus verkörperte, alle Hindernisse zwischen den Menschen überwindende Liebe Gottes.

Bleibt nur noch die Frage nach dem Verhältnis von Unverfügbarem und Verfügbarem, die Frage also: „Was können wir willensmäßig tun, um zwischenmenschliche Grenzen zu überwinden, und wo können wir nur noch darauf warten, dass die Kraft des Heiligen Geistes wirkt, der ja bekanntlich weht, wo er will.“ Oder auf unser Verhältnis zu Glauben und Kirche bezogen: „Was können wir selbst tun, um uns das in Christus angebotene Heil anzueignen oder die Wohltat Christi anderen zuteil werden zu lassen, und wo müssen wir dies dem Heiligen Geist überlassen?

Nun, wir sollen gewiss nicht die Hände in den Schoß legen nach dem Motto: „Der Heilige Geist wird’s schon richten, und wenn nicht, dann eben nicht.“ Und wir sollen ebenso wenig meinen, alles hinge von uns ab, davon, wie klug wir vorgehen, welche Methode wir wählen, welche Maßnahmen wir ergreifen. Dass Unsrige sollen wir in aller Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit tun und den Rest, das Gelingen, sollen und dürfen wir dem Heiligen Geist überlassen.

Das Gelingen der zwischenmenschlichen Beziehung haben wir nicht in der Hand; wir dürfen deswegen trotzdem nicht nachlässig und gleichgültig sein. Und was aus der Liebe Gottes in unserer Welt wird, das haben wir ebenso wenig in unserer Hand. Christus hat dennoch seine Jünger und mit ihnen auch uns für die Sache Gottes in Anspruch genommen und uns seinen Geist als Beistand zugesagt. Für die Zukunft der Kirche sollen wir uns verantwortlich wissen, wir sollen uns etwas einfallen lassen. Wir brauchen uns an dieser Verantwortung aber nicht zu überheben.

Pfingsten ist das Fest des Verstehens. Das sei uns allen an diesem Tag besonders gewünscht: dass sich über alle Hindernisse zwischen Menschen hinweg das Verständnis füreinander mehre.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 19. Mai 1991)

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