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Ostermontag (13.4.20)


Christlicher Glaube ohne Auferstehung?

20. April 1987

Ostermontag

Lukas 24,36-45


Beim letzten Satz unseres Predigttextes möchte ich anknüpfen: „Er öffnete ihnen das Verständnis, sodass sie die Schrift verstanden.“ Der Auferstandene legt seinen Jüngern das Alte Testament aus, damit sie verstehen, was es mit seinem Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen auf sich hat. Es geht um das Verständnis des Wirkens Jesu. 

Das Ereignis am Karfreitag hatte die Jünger vollkommen desorientiert. Sie waren verwirrt und traurig und tief enttäuscht, wie Lukas im Abschnitt zuvor am Beispiel der Emmausjünger berichtet: „Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Worten und Taten vor Gott und allem Volk, er ist den Hohepriestern und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt worden. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ Die Jünger hatten offensichtlich gewisse Erwartungen in ihren Jesus gesetzt, den sie auf allen seinen Wegen durch Galiläa bis hin nach Jerusalem begleitet hatten. Sie hatten gewisse Hoffnungen mit ihm verbunden. Das Kreuz war für sie das Ende ihrer Hoffnungen. Jesus war gescheitert. So legten sie das Kreuz aus.

Der Auferstandene belehrt sie eines Besseren. Die Jünger sollen begreifen, dass das Kreuz nicht das Ende war, sondern die Wende zu einem neuen Anfang. Seine Hinrichtung ist nicht das unvorhergesehene und ungewollte Ende seines Wirkens, sondern notwendiger Bestandteil seiner Mission gewesen. 

Die Jünger hatten schon lange vor der Kreuzigung oft genug unter Beweis gestellt, wie schwer sie sich taten, das Reden und Handeln Jesu zu verstehen. Sie hatten ihn oft missdeutet, und er hatte ihr Unverständnis wiederholt getadelt.

Dass sie mit seiner Kreuzigung nicht fertigwerden würden, war nicht anders zu erwarten gewesen.

Der Auferstandene hilft den Jüngern zum Verständnis seiner selbst. Diese Aufgabe sollen die Auferstehungsberichte auch für uns erfüllen. Wir sollen zum rechten Verständnis Jesu und seines Wirkens gelangen und begreifen, dass Jesus am Kreuz nicht zum Ende gekommen ist, sondern weiter unter uns wirkt und lebt. 

Der Blick der Jünger wurde also wieder zurückgelenkt auf das ganze Wirken Jesu, und vielleicht kam dann bei dem einen oder anderen das Aha-Erlebnis. Mancher wird sich gefragt haben, wieso er nicht gleich schon damals darauf gekommen war, was Jesus gemeint hatte, als er dies und jenes tat. „Warum“, so wird sich der eine oder andere vielleicht sogar gefragt haben, „warum bedurfte es der Auferstehung Jesu für unser Verstehen? Hätten wir Jesus nicht auch ohne die Auferstehung verstehen können?“ Die Jünger werden diese Frage, sofern sie sie gestellt haben, wohl verneint haben. Über Ihre Verständnisschwierigkeiten hatten wir ja gerade gesprochen.

Wir müssen diese Frage aber auch einmal an uns selbst richten: Welche Aufgabe erfüllen die Auferstehungsberichte für uns? Wie beurteilen und bewerten wir das Wirken Jesu bis zu seiner Kreuzigung – einschließlich seiner Kreuzigung – ohne Einbeziehung der Auferstehung? Erlangt das Wirken des irdischen Jesus seine Bedeutung für uns erst durch die Auferstehung? Wenn das so ist, dann sollten wir uns dies als eine Schwäche eingestehen. Vielleicht sind wir alle nicht über diese Schwäche erhaben, dass es schließlich auch noch der Auferstehung Jesu als eines Zeichens bedurfte, damit wir das Anliegen Jesu endlich verstehen. 

Das Anliegen, um das es Jesus ging, hätten wir eigentlich auch ohne ihn begreifen sollen; aber es bedurfte wohl doch eines Jesus, um einige Dinge deutlich zu machen, ja, weil der Mensch manche Dinge so schwer begreift. Nicht wegen mangelnden Verstandes, sondern wegen einer Härte seines Herzens, bedurfte es nicht nur des normalen Redens und Handelns Jesu. Nein, es bedurfte seiner leidensvollen Hingabe bis zum Ertragen seiner Kreuzigung. Und da auch diese das Verstehen in eine falsche Richtung lenkte, musste schließlich auch die Auferstehung sein.

Hätten nicht wenige Worte, von irgendjemandem gesprochen oder auf irgendeinen Zettel geschrieben, ausreichen können, um das Anliegen Jesu deutlich zu machen und zur Wirkung zu bringen: „Du bist geliebt, liebe deinen Nächsten, liebe das Leben!“?

Das hätte eigentlich ausreichen sollen, ganz theoretisch. Aber es hat nicht ausgereicht, und wird wohl niemals ausreichen. Wir brauchen die Zeichen, die leiblichen Zeichen, die leibhaftige Anschauung, das Begreifen im wörtlichen Sinne – so, wie der Auferstandene den verwirrten Jüngern seine Hände und Füße zeigte und sich anfassen ließ und vor ihnen ein Stück gebratenen Fisch aß.

Wir brauchen diese Zeichen, aber wir dürfen die Zeichen nicht mit der Sache selbst verwechseln. Wer meint, alles hinge daran, dass Jesus leibhaftig gestorben und leibhaftig auferstanden ist, und wer alles von diesem Zeichen abhängig macht, der geht einen Schritt zu weit. Der muss sich fragen lassen, wie wichtig ihm das Anliegen ist, um dessentwillen Jesus gelebt hat, für das er gestorben ist und um dessen Verständnis er als der Auferstandene wirbt. 

Eine Auferstehung Jesu wäre ohne jegliche Bedeutung, wenn sie nicht auf sein Leben bis hin zum Kreuz verweisen würde. Nicht darin haben die Auferstehungsberichte ihre Bedeutung, dass sie uns ein supranaturales Geschehen überliefern, sondern dass sie das Leben Jesu bis hin zum Kreuz auszulegen versuchen. Um dieses Leben Jesu, sein Anliegen, um seine Sache geht es. Sie zu verstehen und anzunehmen, dazu wollen uns die Auferstehungsberichte helfen.

Wenn uns die Auferstehungberichte zeigen: „Jesus Christus hat den Tod besiegt“, dann wird uns damit das ganze Wirken Jesu ausgelegt, sein Kampf gegen den Tod, der sich in vielfältiger Weise in unserem Leben tagtäglich ereignet.

Ich möchte den Tod, den Jesus Christus besiegt hat, in dreifacher Weise so beschreiben: den Tod der Enttäuschung mit uns selbst, den Tod der Enttäuschung mit den Mitmenschen und den Tod der Enttäuschung mit dem Leben. Wir sind von diesem dreifachen Tod an jedem Tag bedroht. Wir erleben uns selbst und machen deprimierende Erfahrungen mit unseren Schwächen, Irrtümern, Vergehen und Verfehlungen. Wir reagieren mit Verzweiflung oder mit Hochmut, mit Aggression oder Depression, mit Verstellungen oder Selbsttäuschungen.

Wir erleben andere Menschen und machen auch da bittere Erfahrungen. Wir reagieren mit dem Rückzug auf uns selbst, mit Misstrauen und Abwehr, lassen uns den anderen gleichgültig und uns selbst unser höchstes Anliegen sein.

Und wir betrachten unser Leben und stellen fest, wie schwer doch alles geht, wie mühselig das tägliche Vorwärtskommen ist, wie selten uns etwas gelingt, wie sehr wir von fremden Kräften getrieben und bestimmt sind.

Wir sind ständig bedroht vom Nein zu uns selbst, vom Nein zu unseren Mitmenschen, vom Nein zum Leben. Jesus Christus hat sich mit der Hingabe seines ganzen Lebens diesem täglichen Gang in den Weg gestellt. Jesus Christus ist das Ja zum Leben, das Ja zum Mitmenschen, das Ja zu uns. Das war das Anliegen Jesu Christi: uns zu befreien vom Tod in unserem Leben, uns zu befreien von den vielen Toden, die wir täglich sterben, und uns zu befreien für das Leben, für das Leben hier und heute, für ein freiwilliges Engagement in dieser unserer Welt.

Drei Feinde hatte er zu bekämpfen: unsere Schwierigkeiten mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit unserem Leben schlechthin. 

Der ersten Schwierigkeit ist er durch seine Vergebung uns gegenüber entgegengetreten. Sie hilft uns, uns selbst anzunehmen. Zum Zweiten hat er sich allen Menschen zugewandt – ohne Ansehen der Person – und hat auch diejenigen noch wohlwollend angesehen, die ihm böse gesonnen waren. Zum Dritten hat sich Jesus durch kein Lebensproblem von seinem Weg abbringen lassen, auch nicht durch die Ablehnung, auf die er allenthalben stieß, auch nicht durch den äußerlichen Misserfolg.

Das Ja Jesu zu uns, das Ja zum Mitmenschen und das Ja zum Leben hat Jesus Christus konsequent durchgehalten. Damit hat er in seiner Person die tödlichsten Kräfte unseres Lebens besiegt und dem Leben, dem erfüllten vollen Leben, in seiner Person zum Siege verholfen.

Den Jüngern ist es wohl schwergefallen, diese Botschaft dem Leben Jesu zu entnehmen und für sich anzunehmen. Sie bedurften noch eines ganz starken und eindrücklichen Zeichens. Dies ist ihnen durch die Auferstehung Jesu zuteilgeworden. An diesem Bild der Überwindung des leiblichen Todes sollte ihnen anschaulich werden, dass Jesus der Herr des Lebens ist. Damit sie seine Botschaft ernst und als verbindlich annehmen, brauchten sie das Zeichen der Auferstehung als Nachweis seiner Göttlichkeit. Wenn es denn Gott selbst ist, der das Leben will, der uns bejaht und jeden Menschen auf der Welt, dann soll die Botschaft gelten.

Wir sollten die Auferstehungsberichte Jesu so für uns annehmen, wie sie gemeint sind – als Auslegungen des Anliegens Jesu: dass wir uns selbst, unseren Mitmenschen und unser Leben aus vollem Herzen bejahen. Dies ist ein wahrhaft göttliches Anliegen. Seine Wahrheit und seine heilsame Kraft für uns erweist sich, wenn wir uns der Botschaft Jesu anvertrauen und sie leben. Jesus Christus hat in seiner Person die täglichen Tode besiegt, um uns damit zum Leben in dieser Welt zu befreien. Ergreifen wir das Leben, das uns durch ihn eröffnet ist!

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. April 1987)


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