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3. Sonntag in der Passionszeit (3.3.24)


Liebevolle Zuwendung statt Gold und Silber

26. März 2000

Okuli

(3. Sonntag in der Passionszeit)

1. Petrus 1(13-17)18-21


Vor ein paar Ta­gen ha­be ich mit den Pfad­fin­dern zu­sam­men­ge­ses­sen. Wir ha­ben uns die bi­bli­schen T­ex­te für den heu­ti­gen Sonn­tag an­ge­schaut und ha­ben ge­mein­sam fest­ge­stellt: „Schwie­rig, al­les schwie­rig.“

Die Bi­bel ist kein leich­tes Buch. Und ge­ra­de in der jet­zi­gen Kir­chen­jah­res­zeit sind die Texte durch­weg auch noch recht dü­ster. Wir be­fin­den uns ja in der Pas­sions­zeit, in der Lei­den­szeit. Es gilt in die­sen Wo­chen, das Lei­den Chri­sti zu be­den­ken - und in dem Zu­sam­men­hang die Fra­ge des mensch­li­chen We­sens und Un­we­sens, die Fra­ge der mensch­li­chen Schuld. 

„Wie sag ich’s mei­nem Kin­de?“ Das ist für mich oft­mals die Fra­ge, wenn ich Kin­dern in un­se­rer Ge­mein­de die Pas­sions­ge­schich­te na­he­brin­gen soll, die ja auf die Kreu­zi­gung Je­su hin­aus­läuft. Heu­te, in die­sem Got­tes­dienst, lau­tet die Fra­ge et­was ab­ge­wan­delt: „Wie sag ich’s jun­gen Leu­ten - wie sag ich’s euch?“ Wir sind dann auf ei­nen Ge­dan­ken ge­sto­ßen, auf den wer­de ich mich jetzt kon­zen­trie­ren. Die­ser Ge­dan­ke ist ent­hal­ten in dem ei­nen Satz des Pre­digt­tex­tes im Pe­trus­brief, Kapitel 1, da heißt es:

„Nicht mit ver­gäng­li­chem Sil­ber oder Gold seid ihr er­löst wor­den aus eu­rem nich­ti­gen Le­ben, das ihr wie die Vä­ter führ­tet, son­dern mit dem kost­ba­ren Blut Chri­sti, dem Blut ei­nes un­schul­di­gen und un­be­fleck­ten Lam­mes.“

Die­ser Sat­zes ist ja auch im­mer noch ziem­lich schwie­rig, aber da steckt doch ein Ge­dan­ke drin, der, wie ich fin­de, recht gut zu ge­brau­chen ist.

Hier wird zweier­lei ge­gen­ü­ber­ge­stellt: Sil­ber und Gold auf der ei­nen Sei­te und das Le­ben bzw. Ster­ben Je­su Chri­sti auf der an­de­ren Sei­te. Und es heißt: „Nicht mit wert­vol­len Ma­te­ri­a­lien seid ihr er­löst wor­den, son­dern durch ei­nen Men­schen, durch den Men­schen Je­sus Chri­stus.“

Zu­nächst zu dem Be­griff „er­lö­sen“: Wir sind er­löst wor­den, be­freit wor­den. Da­mit ist das Grund­the­ma der gan­zen Bi­bel über­haupt an­ge­spro­chen: dass der Mensch näm­lich nicht so ist, wie er ei­gent­lich sein soll­te, und sich folg­lich die Fra­ge stellt: „Wie kann dem Men­schen ge­hol­fen wer­den, sei­ne gu­ten Sei­ten zu ent­fal­ten und schließ­lich doch so zu sein, wie es der Schöp­fer wohl ge­meint hat?“ Wie kön­nen wir er­löst wer­den von un­se­ren pro­ble­ma­ti­schen Sei­ten, und wie kön­nen wir be­freit wer­den zu un­se­rer gu­ten Be­stim­mung?

Wir wol­len ja ei­gent­lich meist das Gu­te, aber wir krie­gen das oft ein­fach nicht hin. Ich zi­tie­re gern im­mer wie­der das klei­ne Kind, das et­was ver­zwei­felt sag­te, als es von der Mut­ter mal wie­der ge­hö­rig aus­ge­schimpft wur­de: „Ich möch­te ja lieb sein, aber ich kann nicht.“ Pau­lus, der Apo­stel, hat die­ses son­der­ba­re Phä­no­men in ei­nem sei­ner Brie­fe ein­mal et­was phi­lo­so­phi­scher for­mu­liert mit dem Satz: „Das Gu­te, das ich will, tue ich nicht, son­dern das Bö­se, das ich nicht will, das tue ich.“

Wir müs­sen ja zu­ge­ben, dass wir uns manch­mal - ich sage das mal et­was sa­lopp: dass wir uns manch­mal - oder auch des Öf­te­ren - d­an­e­benbe­neh­men, ziem­lich da­ne­benbe­neh­men. Von Men­schen geht manch­mal so­gar ziem­lich Schreck­li­ches aus. Das ist schon im­mer so ge­we­sen - und man hat auch das Ge­fühl: Das wird im­mer so blei­ben. Den­noch kön­nen wir uns ja nicht ab­fin­den mit den Din­gen, wie sie sind, und mit die­ser un­se­rer Art, wie wir sind. El­tern ver­su­chen folg­lich, ih­re Kin­der zu er­zie­hen, Lehr­kräf­te ver­su­chen, ih­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler hin­zu­bie­gen, Ihr bei den Pfad­fin­dern ver­sucht, wenn das heu­te noch so ist, we­nig­stens ei­ne gu­te Tat am Tag zu voll­brin­gen - und na­tür­lich soll­te je­der von uns an sich selbst ar­bei­ten. Die Bi­bel ist voll von die­sem The­ma. Es geht im­mer und im­mer wie­der um die Fra­ge: Was soll man bloß mit die­sem Men­schen ma­chen, der zum ei­nen manch­mal so ge­ni­al und toll, der zum an­de­ren dann aber auch wie­der so ab­grund­tief schreck­lich sein kann?

Die Sint­flut­ge­schich­te - No­ah und die Ar­che, nicht wahr - die bringt ja prak­tisch zum Aus­druck, dass der Mensch - in An­füh­rungs­zei­chen - ei­ne „Fehl­pro­duk­tion“ ge­we­sen ist. So ha­ben sich das die­je­ni­gen wohl vor­ge­stellt, die uns die Ge­schich­te von der Sint­flut über­lie­fert ha­ben. Gott muss sich, so ha­ben sie das emp­fun­den, bei der Er­schaf­fung des Men­schen ir­gend­wie ver­tan ha­ben. Dar­auf­hin hat er al­le wieder be­sei­tigt und ei­ne neue Schöp­fung ver­sucht mit der Fa­mi­lie No­ahs. Dabei ist dann aber letzt­lich auch nichts Bes­se­res her­aus­ge­kom­men.

Ich kann mir Gott so al­ler­dings nicht vor­stel­len, dass er den feh­ler­haf­ten Men­schen ein­fach be­sei­tigt. Aber das war wohl da­mals die In­ter­pre­ta­tio­nen der­je­ni­gen, die zu Vor­zei­ten ei­nen so kat­a­stro­pha­len - und wahr­schein­lich noch schlim­me­­ren - Re­gen­guss er­lebt ha­ben, wie kürz­lich die Men­schen in Mo­zam­bik.

Aber spä­ter ha­ben dann an­de­re ge­sagt: „Nein, der Mensch mit sei­nen Feh­lern, der muss auf an­de­rem We­ge auf den rech­ten Weg ge­bracht wer­den: durch Er­mah­nun­gen und durch Ge­bo­te und Ver­bo­te.“ Des­halb ha­ben wir die zehn Ge­bo­te und die vie­len Ge­set­ze. Die sind letzt­lich, so sagt es die Bibel im­mer wie­der, von Gott ge­ge­ben, da­mit wir se­hen, wo es lang­geht und langge­hen soll.

Und so ver­su­chen es ja eben z. B. El­tern mit ih­ren Kin­dern, und al­le, die ir­gend­wie auf an­de­re er­zie­he­risch ein­wir­ken: „Das darfst du, und das darfst du nicht - und wenn du das machst, dann pas­siert das und das.“ Und so geht das ja in un­se­rer Ge­sell­schaft über­haupt: Über­all gibt es Ge­set­ze und Re­gel­un­gen und die An­droh­ung von Stra­fen und das Ver­spre­chen von Be­loh­nun­gen, da­mit wir das tun, was wir tun soll­en, und das un­ter­las­sen, was wir nicht tun soll­en.

So hundertprozentig funk­tio­niert das aber nicht. Durch die zehn Ge­bo­te - und die gibt es ja im­mer­hin schon über 2000 Jah­re - ist der Mensch auch nicht bes­ser ge­wor­den. Man kann im Ge­gen­teil manch­mal das Ge­fühl ha­ben, dass Ge­set­ze ge­ra­de­zu als Her­aus­for­de­rung emp­fun­den wer­den, sie zu um­ge­hen. Manch­mal kann man den Eindruck haben, dass wir sie am lieb­sten auf die an­de­ren an­wen­den statt auf uns selbst und wir die an­de­ren gern auf ih­re Feh­ler und Ver­säum­nis­se auf­merk­sam ma­chen.

Ge­bo­te und Ver­bo­te ma­chen den Men­schen letzt­lich auch nicht bes­ser. Sie ver­hin­dern viel­leicht - manch­mal je­den­falls - das Schlimm­ste. Es bleibt aber das Pro­blem, dass der Mensch nicht so ist, wie er sein soll­te. Die pro­ble­ma­ti­sche Sei­te im We­sen des Men­schen bleibt be­ste­hen. In­so­fern bleibt auch die Fra­ge: „Wie ge­hen wir mit die­sem Tat­be­stand um? Wie ge­hen wir mit dem Mit­men­schen um? Wie ge­hen wir mit uns selbst um?“ Wir hät­ten doch gern, dass al­les bes­ser wür­de, dass die an­de­ren und dass wir selbst uns bes­ser­ten.

An die­ser Stel­le kommt die Aus­sa­ge des Neu­en Te­sta­men­tes her­ein, das Evan­ge­li­um, auf Hoch­deutsch: die „Fro­he Bot­schaft“. Und was ist das Fro­he an der fro­hen Bot­schaft? Das lässt sich in ei­nem Stich­wort zu­sam­men­fas­sen: „Ver­ge­bung“.

„Ver­ge­bung“: „Dir sind dei­ne Sün­den ver­ge­ben", das ist der Zu­spruch des Neu­en Te­sta­ments an den Men­schen. Die­ser er­lö­sen­de und be­freien­de Zu­spruch rich­tet sich an die gan­ze Mensch­heit in Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft. Zei­chen­haft ver­dich­tet ist die­ser Zu­spruch im Kreuz. Je­sus Chri­stus lässt sich ans Kreuz na­geln, als woll­te er al­le Stra­fen, die die Men­schen al­ler Zei­ten ver­dient hät­ten für ih­re klei­nen und gro­ßen Sün­den, als woll­te er al­le Stra­fen stell­ver­tre­tend auf sich neh­men und sa­gen: „So, nun seid ihr frei - nun macht doch mal ei­nen neu­en, un­be­la­ste­ten An­fang. Ver­sucht’s noch mal im Gu­ten.“

Das ist un­se­re Chan­ce. Wir dür­fen uns das Kreuz täg­lich vor Au­gen hal­ten als ei­ne be­stän­di­ge Er­in­ne­rung: Uns ist ver­ge­ben, ein für al­le­ Mal. Die Ver­ge­bung gilt für al­le Zei­ten, auch für das, was wir an Un­rech­tem dem­nächst erst noch tun wer­den. Es ist in die­sem Sin­ne auch ei­ne zu­vor­kom­men­de Ver­ge­bung – so, wie für El­tern, die erst noch ein Kind er­war­ten, von vorn­her­ein klar ist: Wir wer­den un­ser Kind im­mer gern ha­ben, auch wenn es dies und das und je­nes an­stellt, wo­mit ja fest zu rech­nen ist. Da ha­ben El­tern auch schon im Vor­we­ge ih­rem viel­leicht noch gar nicht ge­bo­re­nen Kind al­les ver­zie­hen. Und ver­zei­hen heißt eben: Nach be­gan­ge­nem Un­recht die Chan­ce zur Um­kehr und Bes­se­rung ge­ben.

Oh­ne Ver­ge­bung geht es nicht. Denn wir sind nun mal kei­ne En­gel. Wir brau­chen es, dass uns im­mer wie­der ver­zie­hen wird. Je­de Be­zie­hung lebt vom ge­gen­sei­ti­gen Ver­zei­hen. Die Ver­ge­bung ist ge­ra­de­zu ei­ne Grund­vor­aus­set­zung un­se­res Le­bens. Sie wird in der Kir­che ri­tuell dar­ge­stellt - z. B. in der Tau­fe. Die Tau­fe ist so­zu­sa­gen der ri­tuel­le Nach­voll­zug der uns in der Kreu­zi­gung Je­su zu­ge­spro­che­nen Ver­ge­bung. Um es noch an­ders zu sa­gen: Das Was­ser der Zer­stö­rung, die Sint­flut - das Was­ser des To­des - ver­wan­delt sich in Was­ser des Le­bens, da­s Tauf­was­ser. Der sünd­haf­te Mensch wird nicht ver­nich­tet, son­dern er wird zu ei­nem neu­en Le­ben be­freit.

Na­tür­lich kann Ver­ge­bung im­mer auch miss­braucht wer­den, um dann er­lei­chtert das Un­recht fort­zu­set­zen. Aber dann nützt ei­nem die Ver­ge­bung eben nichts. Die Ver­ge­bung ist ein An­ge­bot. Wenn wir dieses nicht an­neh­men und die Chan­ce nicht nut­zen oder sie miss­brau­chen, dann ist dies zu un­se­rem ei­ge­nen Scha­den.

Nicht durch Gold und Sil­ber sind wir er­löst wor­den, son­dern durch die Hin­ga­be Je­su Chri­sti am Kreuz. Je­sus hat die Ver­ge­bung nicht nur ge­pre­digt. Er hat nicht nur gu­te Ge­dan­ken wei­ter­ge­ge­ben und hat sei­ne Lie­be - und Lie­be muss man die­ses An­ge­bot der Ver­ge­bung wohl nen­nen - und hat sei­ne Lie­be auch nicht durch wert­vol­le Ge­schen­ke er­wiesen. Er hat sich selbst - als Mensch - ein­ge­bracht und hin­ge­ge­ben. 

Das möch­te ich jetzt noch ein­mal un­ter­strei­chen, weil es für das Ver­ständ­nis des Evan­ge­li­ums und für un­ser christ­li­ches Le­ben und un­se­ren christ­li­chen Auf­trag und für un­se­re gan­ze kirch­li­che Ar­beit so wich­tig ist: Die Lie­be voll­zieht sich durch per­sön­li­che Prä­senz und Hin­ga­be. Wenn Je­sus Chri­stus nur ge­re­det hät­te, dann könn­ten wir jetzt be­stimmt nicht auf 2000 Jah­re Chri­sten­tum zu­rück­blicken. Er hat mit den Men­schen sei­ner Zeit mit­ge­lebt und mit­ge­lit­ten. Er hat sich ih­ret­hal­ben in Ge­fahr be­ge­ben und hat den Tod am Kreuz auf sich ge­nom­men. Das hat sei­ner Glaub­wür­dig­keit die Nach­drück­lich­keit ver­lie­hen.

Ich will den Sinn von Wor­ten nicht min­dern und will auch mein ei­ge­nes Pre­di­gen nicht ent­wer­ten. Aber die Tat im Sin­ne der mit­le­ben­den, lie­ben­den und mit­lei­den­den Prä­senz ge­hört grund­le­gend da­zu. Sonst klin­gen Wor­te ganz schnell hohl.

Bei euch Pfad­fin­dern geht es auch da­rum, dass Ihr mit­ein­an­der durch Dick und Dünn geht, auf eu­ren Frei­zei­ten z. B., und die Lei­ter nicht nur ir­gend­wo in der Ecke sit­zen und gu­te Rat­schlä­ge ge­ben. Prä­sent sein mit der ei­ge­nen Per­son, dem ei­ge­nen Le­ben, dem per­sön­li­chen Ein­satz - das ist ge­meint mit den­ Wor­ten: „Nicht durch Gold und Sil­ber hat euch Chri­stus er­löst, son­dern durch sein Lei­den und Ster­ben am Kreuz.“

Da­mit ist uns der Leit­fa­den für die Nach­fol­ge Je­su ge­ge­ben für un­ser christ­li­ches Le­ben und un­ser gan­zes kirch­li­ches und ge­meind­li­ches Wir­ken: lie­be­voll prä­sent zu sein.

(Predigt in der Christopheruskirche, Berlin-Friedrichshagen, am 26. März 2000)

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