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Palmsonntag (24.3.24)


Das Ja zum Leben und zum Menschen

4. April 2004

Palmsonntag

Philipper 2,5-11


Wenn wir uns einmal für einen Augenblick vorstellen, wir wären im Himmel - vor unserer Geburt - und könnten das ganze Treiben hier auf der Erde beobachten - und hätten das ganze Treiben hier auf der Erde schon seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden beobachtet - und stünden nun vor der Frage: „Wollen wir uns in diese Welt hineingebären lassen?“ Wie würden wir auf diese Frage antworten?

Vielleicht steht es uns gar nicht zu, eine solche Frage zu stellen. Sie ist, auf uns selbst bezogen, ja auch sehr irreal. Aber sie kann doch dazu beitragen, den heutigen Predigttext ein wenig zu erhellen. Und so ganz aus der Welt ist diese Frage auch in Bezug auf uns selbst letztlich doch nicht. Wer nämlich jemals den Wunsch gehabt hat, ein Kind in die Welt zu setzen, und wer diesen Wunsch vielleicht sogar in die Tat umgesetzt hat, der hat diese Frage ja in gewisser Weise beantwortet - zwar nicht die Frage: „Möchte ich mich in diese Welt hineingebären lassen?“, sondern die Frage: „Möchte ich ein Kind in diese Welt hineingebären?“ Oder anders formuliert: „Möchte ich einem neuen Menschen das Leben“ - wie soll ich es formulieren: „gönnen, einem neuen Menschen das Leben gönnen oder das Leben zumuten?"

Darin besteht ja die Schwierigkeit dieser Frage: dass dieses Dasein hier auf der Erde so sehr vielschichtig ist. Wenn sich das einer von außen, aus der Distanz ansieht - was soll sich der eigentlich denken? Wenn er all das Schöne sieht, aber auch all das Schreckliche?!

Unser Predigttext aus dem Philipperbrief versetzt Jesus Christus in diese Position: dass er noch im Himmel ist, vor der Geburt, dass er also prä-existent und gottgleich ist. Wir könnten sagen: „Dann hat er’s ja gut!“ Ist es nicht ein Wunsch von uns allen, im Himmel zu sein, in den Himmel zu kommen? Wie es das Kindergebet formuliert: „Lieber,Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm." Wenn ich denn schon im Himmel bin - sollte ich dann dort nicht bleiben wollen?

Unser Predigttext sagt bezüglich Jesus Christus: Nein, Jesus Christus hielt an diesem Privileg, im Himmel zu sein, nicht fest. Er verließ das Reich des Himmlischen, des Göttlichen, des Schönen, des Vollkommenen, des Sicheren, des Heilen, des Ewigen und begab sich hinab in die Niederungen des Irdischen, des Verletzlichen, des Mühseligen, des Bedrohlichen, des Unheilen und Unheilvollen, dieser brisanten Mischung aus Größe und Niedrigkeit.

Als Siddhartha Gautama, der Buddha, den Bereich seiner heilen Kindheit verließ, den Palast, in dem er aufgewachsen war - und den wir wohl als eine Art heiler Welt verstehen dürfen, als eine Art Himmel auf Erden - als also der junge Buddha sich durch seinen Wagenlenker in die Welt hinausfahren ließ, ohne zu wissen, was da auf ihn zukommen würde, war er zutiefst erschrocken über das, was er dort sah: einen gebrechlichen Greis, einen vor Schmerzen schreienden Kranken und einen Trauerzug mit weinenden Angehörigen. „Das Leben ist Leiden“ war seine Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen. Und da er seiner Religion gemäß an die Wiedergeburt glaubte, war sein Bestreben, einen Weg zu finden, der verhindert, dass er noch einmal in diese Welt des Leids hineingeboren würde.

Jesus Christus nahm die Geburt in diese Welt hinein bewusst auf sich - wohl wissend, was da auf ihn zukommen würde, so müssen wir unseren Predigttext verstehen. Er kam aus dem Himmel herab auf diese problembeladene Erde. Und während seines Erdendaseins unternahm er ganz bewusst einen weiteren ähnlich dramatischen Schritt, als er sich nach seiner Wanderschaft durch Galiläa dazu entschloss, in Jerusalem einzuziehen, in die Höhle des Löwen, in den Ort hinein, in dem ihn sein gewaltsames Ende erwartete - was er wohl wusste und was er ganz bewusst auf sich zu nehmen bereit war. 

Ich habe vor ein paar Tagen wieder den Satz gehört: „Man kann es gar nicht verantworten, ein Kind in diese Welt zu setzen.“ Das ist wohl wahr: Das können wir nicht verantworten. Aber es ist auch nicht unsere Aufgabe, das zu verantworten. Denn nicht wir haben dieses Dasein eingerichtet. Denn nicht wir haben es eingerichtet, dass Leben entsteht und vergeht. Wir finden es vor, dass dies so ist. Irgendwann freilich müssen wir uns dazu verhalten, wenn wir bei Bewusstsein und bei Verstand sind. In der Regel nehmen wir das Leben hin, wie es uns gegeben ist, mal freudig und dankbar, mal achselzuckend, manchmal vielleicht auch zähneknirschend.  

Die Texte der Bibel wollen uns zu einem bewussten freudigen und dankbaren Ja zum Leben verhelfen. Es ist hier wirklich nicht immer alles einfach. Und zu den Leidenssituationen, die der junge Buddha bei seinem Ausritt aus der heilen Welt seines Palastes erlebte, kommt ja noch eine weitere hinzu, die gerade von den Menschen der Bibel so bewusst wahrgenommen worden ist: dass der Mensch in ethischer Hinsicht ein so schwaches Wesen ist, dass Menschen immer wieder schuldig werden, dass sie - auch gegen ihre eigenen - ethische Maßstäbe immer wieder verstoßen, dass sie immer wieder, so klar müssen wir es sagen: Böses tun und einander und sich selbst Schaden zufügen, manchmal in nicht fassbarem Ausmaß.

Als sich Jesus Christus dieses alles - prä-existent vom Himmel aus - ansah, entschloss er sich trotzdem, den Himmel zu verlassen, die Gestalt eines Menschen anzunehmen und dieses Leben hier mitzuleben - den Weg des Lebens mitzugehen mit den leidenden und immer wieder schuldig werdenden Menschen. 

Warum? Warum hat er den sicheren Himmel verlassen und hat sich in die Gefährdungen des Erdenlebens hineinbegeben? Wir können dann zusätzlich auch fragen: „Warum ist er vom galiläischen Land in die Stadt Jerusalem hineingezogen, wo dort doch schon diejenigen warteten, die ihm nach dem Leben trachteten?"

Es geschah aus Liebe. Es geschah aus Liebe zum Leben und zum Menschen. Es geschah aus einem nicht hinterfragbaren Ja zu dem Geheimnis dieses Daseins. Es geschah aus einem Ja zu demjenigen, der der Urgrund und Schöpfer allen Seins ist. 

Als der Schöpfer dieses Dasein schuf, sah er sein Werk an - und fand es gut. Dieses Dasein ist im Grunde gut, denn es ist das Werk eines Schöpfers, der es in guter Absicht geschaffen hat. Auch der Mensch ist im Grunde gut, denn er ist ein Geschöpf Gottes, der den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. So beschreiben es uns die Menschen der Bibel. 

Diesen guten Ursprung, diesen guten Kern wieder zu stärken und zu entfalten - und uns damit zu helfen und dem Schöpfer die Ehre zu geben, das ist der Grund, warum Jesus Christus das Himmelreich verlassen hat und in seiner Person - als Mensch - ein wenig Himmel zur Erde gebracht hat. Er hat die Saat der Liebe ausgestreut. Ja, er war in seiner Person selbst ein himmlisches Samenkorn, das ersterben musste, um neue und vielfältige Frucht zu bringen, neue und vielfältige Frucht der Liebe. 

Wann immer Menschen sich ein Kind wünschen und ein Kind zur Welt bringen, dann geschieht da etwas Ähnliches, dann ist da dieses letztlich nicht hinterfragbare liebevolle Ja zum Leben und zum Menschen. Und wenn wir uns in diesem Leben und für dieses Leben und für den Menschen engagieren, dann befinden wir uns in der Nachfolge desjenigen, der sich vor 2000 Jahren für das Leben und den Menschen entschieden hat. 

Wir können nur froh und dankbar sein, dass es Jesus Christus gegeben hat und dass es ihn immer noch gibt, dass er unter uns immer noch lebendig ist. Wir brauchen seine mutmachende Hingabe an das Leben. Wir brauchen seine liebevolle Zuwendung zum Menschen, seine Geduld, seine Nachsicht, seine Friedfertigkeit, seine Gewaltlosigkeit, seinen Trost. Wir brauchen seine mutmachenden und Hoffnung schenkenden Worte. Wir brauchen ihn. Und wir werden ihn immer wieder in uns hineinnehmen - auch in diesem Gottesdienst in der Gestalt von Brot und Wein - und werden uns stärken lassen für das Leben und für das Leben miteinander.

Sein Geist möge uns und alle Welt durchdringen und leiten - zu unser aller Wohl und zur Ehre Gottes, des Schöpfers.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. April 2004) 

wnein@posteo.de    © Wolfgang Nein 2013