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5. Sonntag nach Trinitatis (9.7.23)


Was suchen wir?

19. Juli 1987

5. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 1,35-42


Wenn Jesus uns die Frage stellen würde: „Was sucht ihr?“, uns, die wir doch auch Jesus nachgehen, wie würden wir darauf wohl antworten?  Jeder von uns verbindet gewisse Erwartungen mit diesem Jesus. Ich nehme an, dass diese zum Teil ganz unterschiedlich sind, dass es da aber auch viel Gemeinsames gibt.  Auf welche Fragen suchen wir bei ihm Antworten? Welche Hoffnungen richten wir auf ihn? Welche Bedürfnisse suchen wir durch ihn zu befriedigen?

Johannes, der Täufer, zeigt auf Jesus und sagt: „Siehe, das Lamm Gottes!“ Daraufhin gehen zwei Anhänger des Täufers Jesus nach und schließen sich ihm an. „Lamm Gottes“ – das war für sie offenbar die Zusammenfassung ihrer gemeinsamen Erwartungen, ihrer bereits vorhandenen Erwartungen, die schon lange auf Erfüllung harrten.

Wir haben Schwierigkeiten, dieses Stichwort zu entziffern: „Lamm Gottes“. Johannes, der Täufer, konnte wohl davon ausgehen, dass er ohne weitere Erläuterung verstanden wurde. „Lamm Gottes“ – das beinhaltete offenbar die gemeinsame Erwartung vieler Menschen, eine Erwartung also, die sich in der Bevölkerung oder doch zumindest in gewissen Kreisen der Bevölkerung in unzähligen Gesprächen vieler Menschen miteinander herausgebildet hatte, eine gemeinsame Erwartung, die eine gemeinsame Erfahrung und das gemeinsame Gespräch vieler voraussetzte. 

Was sich im Stichwort „Lamm Gottes“ an Erwartungen aussprach, war in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation aus ganz bestimmten geschichtlichen Erfahrungen ganz konkreter Menschen erwachsen. Die Erwartungen waren zeit- und situationsbedingt. Es ist darum überhaupt nicht gesagt, dass wir, die wir hier sitzen, dieselben Erwartungen haben müssten wie Johannes, der Täufer, und die Menschen um ihn herum. Was die beiden Männer, die Jesus nachgingen, bei ihm suchten – vielleicht suchen wir das auch, aber vielleicht suchen wir bei Jesus etwas ganz anderes.

Wir haben die Beschreibung „Lamm Gottes“ in unsere gottesdienstliche Liturgie übernommen: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser, gib uns deinen Frieden.“ Damit ist zumindest in der Begrifflichkeit eine Verbindung hergestellt zu Johannes, dem Täufer, und den erwähnten beiden Männern. Werden mit dem gemeinsamen Begriff auch gemeinsame Erwartungen bezeichnet?

„Erbarm dich unser!“ Hier ist eine Erwartung direkt angesprochen.  Sie entspringt einem Verständnis vom Menschen als eines erbarmungswürdigen Wesens. Wenn in der Liturgie des christlichen Gottesdienstes über die Jahrhunderte hinweg und an allen Orten dieses „Erbarme dich unser!“ gesungen und gebetet wurde, dann entspringt die darin ausgesprochene Erwartung gewiss nicht mehr nur einer bestimmten geschichtlichen Situation. Sie entspringt auch einer generellen Einsicht in die Art des menschlichen Wesens. 

Wenn die beiden Männer, die Jesus auf den Hinweis des Johannes hin nachgefolgt sind, mit Jesus auch diese Erwartung verbanden, dass er sich ihrer erbarmen würde, dann war ihre Erwartung vielleicht noch aus der konkreten Not des israelitischen Volkes geboren. Bald aber musste sich die Einsicht verbreitet haben, dass nicht nur die Israeliten in einer bestimmten Situation, sondern dass alle Menschen zu allen Zeiten an allen Orten Jesus nötig haben. 

„Wir haben den Messias gefunden“, sagte Andreas zu seinem Bruder Simon Petrus. Andreas war einer der beiden Männer, die Jesus nachgegangen waren. „Wir haben den Messias gefunden.“ Auch dieser Begriff „Messias“ bezeichnet bestimmte Erwartungen, die im jüdischen Volk in einer bestimmten geschichtlichen Epoche gewachsen sind. Wir haben den Begriff übernommen und nennen Jesus den Christus, was ja nichts anderes als Messias bedeutet. Mit diesem Titel „Christus“ drücken wir gewisse Erwartungen aus, die wir mit Jesus verbinden. Freilich dürfen wir nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, dass wir damit die gleichen Erwartungen bezeichnen wie Juden der damaligen Zeit. 

„Was sucht ihr?“, fragte Jesus die beiden Männer, die ihm nachgingen, und sie antworteten: „Rabbi, Meister, wo ist deine Herberge?“ Jesus lud sie ein mitzugehen: „Kommt und seht!“  Und sie gingen mit und blieben den ganzen Tag bei ihm. „Rabbi“, das klingt, als hätten sie Jesus nur als Lehrer angesehen. Aber sie sind mit Jesus nicht nur mitgegangen, um von ihm zu lernen. Sie sind dann bei ihm geblieben. Es ist mehr, was Jesus ihnen hat geben können, mehr als bloße Belehrung – und sie haben von vornherein mehr erwartet, wie die Titel „Lamm Gottes“ und „Messias“ zeigen.

„Wo ist deine Herberge?“ – „Wo wohnst du?“, fragen sie Jesus. Diese Frage erinnert mich an den Spruch der gestrigen Trauung hier in der Kirche. Ein Satz aus dem alttestamentlichen Buch Rut: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ Dies ist die Zusage der Schwiegertochter Rut an ihre Schwiegermutter. Beide Frauen hatten ihren Ehemann verloren. Nun will die Schwiegermutter in ihre Heimat zurückkehren – sie war Ausländerin. Da sagt ihr Rut: „Ich lasse dich nicht allein gehen. Ich gehe mit dir, wo immer auch dein Weg dich hinführt. Ich folge dir auch in die Fremde. Wo du bleibst, da bleibe ich auch. Wo du bist, da bin ich zu Hause.“

„Wo ist deine Herberge“? – „Wo wohnst du?“, fragen die beiden Männer Jesus. Und wir dürfen diese Frage wohl dahingehend auslegen, dass sich in ihr das Bedürfnis und die Bereitschaft ausdrückt, bei Jesus zu bleiben, so wie Rut bei ihrer Schwiegermutter bleiben wollte, und so wie Eheleute einander versprechen, beieinander bleiben zu wollen. Dies jedenfalls dürfen wir aus einer Nebenbemerkung schließen: Als die beiden Männer zu Jesus kamen, war es um die zehnte Stunde, nach unserer Zeit 16 Uhr. Aber das war nicht nur die Angabe einer Uhrzeit, sondern der symbolische Ausdruck für die erfüllte Zeit. Es war die Stunde der Erfüllung. Es war für die beiden Männer der Augenblick, in dem sich ihre Erwartungen in einem umfassenden Sinn in dieser Person Jesus erfüllten – welches im Einzelnen auch die Erwartungen gewesen sein mochten. 

„Wo du hingehst, da wollen auch wir hingehen, und wo du bleibst, da wollen auch wir bleiben“, das hätten ebenso gut diese beiden Männer zu Jesus sagen können. Sie hätten damit zum Ausdruck gebracht, dass sie sich mit ihren Hoffnungen und Wünschen und Sehnsüchten in einem tiefen Sinn bei ihm aufgehoben wussten und dass seine Gegenwart für sie erfülltes Leben bedeutete.

Dass die beiden Männer und schließlich auch andere Jesus nachfolgten, besagt mehr als nur, dass sie einen klugen Lehrer gefunden hätten. Das lässt sich wohl auch von uns sagen: Wir gehen Jesus nicht nach, weil er nur ein guter Lehrmeister gewesen wäre. Für die Menschen jener Zeit und für uns hatte und hat er eine umfassendere Bedeutung. Wir legen sehr viel in Jesus hinein: die großen Nöte unserer Welt und unsere kleine, ganz persönliche Not, unsere großen und kleinen Hoffnungen, unsere Sehnsucht nach Geborgenheit und Ruhe, nach Sinn und Erfüllung.

Unsere Lebenssituationen sind im Konkreten ganz verschieden. Und die Lebenssituation der Menschen, die damals Jesus nachgefolgt sind, war im Einzelnen ganz anders als die unsrigen heute. Und doch stellt das Leben alle Menschen auch vor gleiche Fragen und gleiche Probleme. Mit allen Menschen teilen wir das Schicksal, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, dass unser Woher und Wohin und Wozu ein unergründliches Geheimnis ist, dass wir beständig gefährdet sind, dass wir Orientierung brauchen, dass wir in die Irre gehen und schuldig werden, dass wir kämpfen und uns verteidigen müssen, dass wir ruhelos voranschreiten und uns nach Ruhe sehnen. 

Was suchen wir, wenn wir uns Jesus zuwenden? Es ist sehr viel, ja, viel mehr, als ein Mensch zu geben vermag. In Jesus legen wir all die Erwartungen hinein, die uns nur Gott erfüllen kann. Wir tun dies zurecht. Denn wir haben in Jesus den Messias erkannt, den Christus, den uns von Gott Gesandten, Gottes Lamm, das unser aller Elend auf sich nimmt.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 19. Juli 1987)

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