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Trinitatis (4.6.23)


Gott passt nicht in die Kirche

14. Juni 1987

Trinitatis

Jesaja 6,1-13

 

Im Jahr 736 vor Christi Geburt ist der König von Juda Usija verstorben. In seinem Todesjahr erlebte Jesaja seine Berufung zum Propheten. So schildert es uns der biblische Text. Die Berufung zum Propheten erlebte Jesaja in einer sonderbaren Vision, der wir so recht anmerken, dass sie aus einer Zeit stammt, die mehr als zweieinhalb Jahrtausende zurückliegt. Jesaja sieht Gott auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen. Serafim, sechsflügelige engelgleiche Wesen, stehen über ihm und rufen sich gegenseitig zu: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll.“

Diese Anschauung Gottes mag uns sehr altertümlich erscheinen, aber wir müssen doch feststellen, dass wir die Elemente dieses Bildes in unseren Gottesdiensten bis vor kurzem noch verwendet haben und gelegentlich noch verwenden. In unserer Abendmahlsliturgie lauten die Worte des traditionellen Präfationsgebetes: „Die Himmel und aller Himmel Kräfte samt den seligen Seraphim mit einhelligem Jubel dich preisen.“ Wir sehen: Hier wird im Präfationsgebet direkt Bezug genommen auf diese Vision Jesajas.

Und weiter heißt es in dem Gebet: „Mit ihnen lass auch unsere Stimmen uns vereinen und anbetend ohn' Ende lobsingen.“ Und dann folgt das dreifache „Heilig“, das wir in unserer Gottesdiensterneuerung in St. Markus geändert haben, das wir aber auch hier bis vor kurzem noch gesungen haben: „Heilig ist Gott, der Vater, heilig ist Gott, der Sohn, heilig ist Gott, der Heilge Geist.“

Wir erkennen hieran Zweierlei. Das Erste ist dies: Die christliche Gemeinde, also auch wir, die wir hier versammelt sind, stimmen ein in das Gotteslob der Serafim. Wir treten an die Stelle dieser engelgleichen Wesen und singen den Lobpreis Gottes. Hieran mag uns deutlich werden, dass unsere Abendmahlsfeier in ihren traditionellen Texten auch Elemente des Überweltlichen in sich birgt. Denn die Szene mit den Serafim ist ja keine irdische, sondern eine, die Jesaja nur in einer Vision schaut - für andere Menschen nicht wahrnehmbar.

Das Zweite, das wir erkennen können, ist dies: dass das dreifache „Heilig“ der Serafim für unseren christlichen Gottesdienst in unserer Abendmahlsliturgie im Sinne der Trinitätslehre ausgelegt ist. Von daher beantwortet sich denn auch die Frage, warum uns dieser Text aus Jesaja für den heutigen Sonntag Trinitatis, das Fest der Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit, aufgegeben ist: Gott wird gepriesen in der dreifachen Weise seines Seins: Als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Und das ist eben das Anliegen des heutigen Tages: Gott in seiner Ganzheit wahrzunehmen und nicht nur einzelne Aspekte, einzelne Wesenszüge, einzelne Erfahrungen.

Gott in seiner Ganzheit zu schauen, ist freilich einem Menschen in der Regel nicht gegeben. Von Jesaja lesen wir, dass ihm diese ungewöhnliche Möglichkeit zuteilgeworden ist. Jesaja erlebt Gott in überdimensionaler Größe: Allein die Schleppe seines Mantels füllte den ganzen Tempel. Im Grunde ist der Tempel gar kein angemessenes Gebäude, um Gott in seiner Ganzheit aufnehmen zu können. Ein solches Gebäude gibt es überhaupt nicht. Eher könnten wir sagen: Die ganze Welt ist der Wohnsitz Gottes. Wie die Serafim singen: „Alle Lande sind seiner Ehre voll“, was ja nicht heißen kann: Überall in allen Ländern sind die Menschen voll des Lobpreises Gottes; denn das war auch zu Jesajas Zeiten keineswegs der Fall, sondern die ganze Welt, die ja Gottes Schöpfung ist, ist ein Abbild der Größe Gottes. Die Schöpfung selbst preist ihren Schöpfer und die Serafim fassen dies in Worte.

Manche Menschen antworten auf die Frage, wo sie denn Gott erführen, mit dem Hinweis auf die Natur: Unter dem weiten mächtigen Sternenhimmel erleben sie die Größe und Großartigkeit Gottes. Oder auch beim Anblick einer kleinen Blume. Auch in den kleinen Wundern der Natur erleben sie die Größe und Herrlichkeit des Schöpfers, der nicht direkt selbst, sondern nur in dem, was geschaffen ist, erfahrbar wird.

Manche, die so Gott in der Natur erleben, fügen ein Weiteres hinzu: dass sie angesichts des weiten Sternenhimmels sich selbst ganz klein vorkommen, wie Staubkörnchen in einem unendlichen Universum, dass sie sich ihrer Kleinheit und auch Kleinlichkeit bewusst werden und dass dieses Erlebnis Gottes in der Natur eigentlich zwiespältige Empfindungen in ihren Herzen auslöst, die miteinander im Widerstreit liegen: das Staunen über die Großartigkeit der Schöpfung zum einen, und das Erschaudern vor der Größe Gottes zum anderen, weil sie die menschliche Nichtigkeit und Angewiesenheit schmerzlich offenbart.

Das Schauen Gottes in seiner ganzen Fülle ist eine zweischneidige Angelegenheit. Die Serafim bedecken mit zweien ihrer Flügel ihre Augen, so, als wollten sie sich selbst vor dem vollen Anblick Gottes schützen. Jesaja, dem der Anblick Gottes in seiner ganzen Größe zugemutet wird, ruft erschrocken aus: „Weh mir, ich vergehe!“ Ihm wird nicht nur der größenmäßige Unterschied zwischen Gott und Mensch bewusst, sondern auch die große Diskrepanz zwischen dem Anspruch Gottes an den Menschen und der Erfüllung dieses Anspruches durch den Menschen: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen.“

Der Schrecken beim Anblick Gottes, der uns in den biblischen Berichten oftmals geschildert wird, hat also, so möchte ich es einmal salopp formulieren, auch etwas mit dem schlechten Gewissen zu tun. Die Scheu, Gott direkt anzuschauen, ihm offen in die Augen zu schauen, bildlich gesprochen, mag aus der Furcht entspringen, dem Blick Gottes nicht standhalten zu können, weil er uns durchdringt und durchschaut und dann unsere ganze fehlerhafte und verkehrte Art vor ihm bloßliegt. Vor Gott können wir nichts verbergen. Aber es mag uns vielleicht wie kleinen Kindern gehen, die sich mit der Hand die Augen zuhalten und meinen, auf diese Weise würden sie selbst nicht gesehen.

Jesaja also erblickt Gott in einer Vision. Er erschrickt - eben im Bewusstsein seiner und seines Volkes Schuld. Das Erste, was nun von der Seite Gottes her geschieht - durch einen der Serafim -, ist dies: Er wird von der Last der Schuld befreit. Einer der Serafim berührt die Lippen Jesajas mit glühender Kohle - eine bildhafte Darstellung der Vergebung. Wir fühlen uns an die Taufe erinnert, ein Bild der Reinigung von aller Schuld. So wird Jesaja nun für seine Aufgabe zugerüstet. Er soll zu seinem Volk gehen und ihm eine Botschaft bringen, eine unheilvolle Botschaft: „Geh hin und sprich zu dem Volk: Hört und versteht’s nicht, seht und merkt’s nicht.“ Jesaja soll also hingehen und das Volk verstocken, sodass es nicht mehr hören und sehen kann und taub und blind ins Unglück rennt, bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen sind und das Feld ganz wüst daliegt.

Wir spüren, dass hier auf eine politische Situation Bezug genommen wird, ein nationales Unglück, das dem Volk Israel bevorsteht. Was uns schwer zu fassen erscheint, ist dies: dass die Unfähigkeit, die vielleicht rettenden Worte zu hören und den Ausweg aus der Katastrophe zu sehen, als von Gott verursacht geschildert wird: Er verstockt die Herzen der Menschen sodass sie nicht hören und sehen können.

Diese Vorstellung hat dem Jesaja und den Menschen seiner Zeit offenbar keine Schwierigkeiten bereitet, die Vorstellung nämlich, dass Gott auch schreckliche Ereignisse gezielt zulässt, dass er für Entwicklungen mitverantwortlich ist, die ins Unglück führen.

Um diese Gottesvorstellung überhaupt nachvollziehen zu können, müssen wir zweierlei bedenken: Erstens wird das von Gott zugelassene und mit verursachte Unglück niemals als seine letzte Absicht verstanden. Vielmehr wird das schreckliche Ereignis als Etappe in einem Gesamtplan Gottes verstanden, der aufs Ganze gesehen ein Heilsplan ist. Gott lässt den Menschen ins Unglück rennen, weil anders der Mensch am Ende nicht zu retten ist.

Um diese paradoxe Vorstellung verstehen zu können, müssen wir noch das Zweite bedenken: dass nämlich die Menschen zur Zeit Jesajas noch nicht so individualistisch dachten, wie wir dies heute tun. Uns erscheint es wenig tröstlich, dass Menschen jetzt leiden sollen, damit später andere zur Besinnung und Vernunft kommen und ein Leben zu ihrem Wohle führen. Der Einzelne, der das Unglück hat erleiden müssen, hat nichts von den Segnungen des Heilsplans Gottes. Diejenigen, die im Krieg gefallen sind, haben nichts davon, dass die Überlebenden und die nachfolgenden Generationen vielleicht aus der Geschichte lernen und sich zu einer Friedensordnung entschließen.

Ein Heilsplan Gottes, der auch Unglücke mit umfasst, kann als solcher also nur von einer Einstellung her verstanden werden, die nicht vom Einzelnen her, sondern vom Schicksal des ganzen Volkes oder der ganzen Menschheit her denkt.

Gott in seiner ganzen Fülle zu betrachten, das heißt zugleich, die ganze Menschheitsgeschichte in den Blick zu nehmen. Wenn wir das tun, muss die Betrachtung Gottes auch uns in Schrecken versetzen. Denn das, was alles in der Menschheitsgeschichte geschehen ist, können wir uns nicht zusammenreimen …

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 14. Juni 1987)

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