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Volkstrauertag (19.11.23)


Als Christ die Gesellschaft mitgestalten

16. November 1986

Volkstrauertag

Römer 8,18-25 


Der 1. Weltkrieg hat fast 10 Millionen Menschen das Leben gekostet. Mehr als 25 Millionen Soldaten sind im 2. Weltkrieg gefallen oder verschollen. Fast 30 Millionen Ziviltote waren zu beklagen. Fast sechs Millionen Juden wurde ermordet. Mehr als 60 Millionen Menschen kamen im 2. Weltkrieg ums Leben – in der Zeit von 1939 bis 1945. In sechs Jahren wurde die Anzahl der heute in der Bundesrepublik lebenden Menschen ums Leben gebracht.

Am 6. August 1945 fiel die erste Atombombe – auf Hiroshima und forderte 200.000 Tote. Drei Tage später wurde die 2. Atombombe abgeworfen – auf Nagasaki. Es starben weitere 40.000 Menschen.

Der Volkstrauertag ist ein Gedenktag. Es geht darum, nicht zu vergessen. Es ist kein Heldengedenktag. Es ist ein Tag der Trauer im Gedenken an die unschuldigen und schuldigen Opfer der Kriege, der beiden Weltkriege insbesondere. 

Und es ist ein Tag der Besinnung auf unser Menschsein, der Besinnung darauf, wozu wir Menschen fähig sind – im Bösen, aber auch im Guten. Und wir besinnen uns darauf, wozu wir berufen sind.

In unserer Besinnung bedenken wir die Vergangenheit, wir bedenken aber auch unsere Gegenwart und wir fragen nach unserer Zukunft. 

Wir vergegenwärtigen uns, dass in den zahlreichen Kriegen und militärischen Konflikten nach dem 2. Weltkrieg inzwischen 35 Millionen Menschen ums Leben gekommen sind, dass mit den heute existierenden militärischen Waffen das Leben auf der Erde restlos ausgelöscht werden könnte, dass unser aller Leben von dieser Auslöschung in jedem Augenblick bedroht ist, ohne Möglichkeit des Schutzes, und dass auf deutschem Boden hüben wie drüben eine Konzentration atomarer Waffen besteht, die in der Welt ohnegleichen ist. 

Wir vergegenwärtigen uns, dass heute auf jeden Menschen drei Tonnen Sprengkraft entfallen, aber vielen Menschen das Brot zum Leben fehlt, dass jährlich weit über eine Billion DM für Rüstung ausgegeben werden, zugleich aber 500 Millionen Menschen Hunger leiden. 

Wir führen uns diese Tatbestände vor Augen, um uns dessen bewusst zu werden, dass die Schrecken der Vergangenheit ihre Fortsetzung in den Schrecken der Gegenwart finden und bei weitem übertroffen werden von den möglichen Schrecken der Zukunft. 

Im Mittelpunkt unserer Besinnung steht der Mensch, dieses sonderbare Wesen, dieses Opfer seiner selbst, von Gott nach seinem Bilde geschaffen, wie uns die Bibel erzählt, mit gottähnlichen schöpferischen Fähigkeiten begabt, mit hoher Verantwortung betraut und belastet, durch große Aufgaben gefordert und überfordert, zum Tun des Guten berufen, zum Tun des Bösen beständig versucht und oftmals teuflisch in seinen Taten. Und dennoch geliebt – das Wunder des Neuen Testaments. 

Hätte Jesus Christus die beiden Weltkriege miterlebt und kennte er unsere Gegenwart – würde er an seiner Liebe zu den Menschen festhalten? Darauf vertrauen wir. Daran glauben wir. Von dieser Gewissheit her betrachten wir den Menschen, unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Mit den Augen Christi betrachten wir den Menschen, betrachten wir uns – ohne Illusionen, ohne Verdrehung der Wahrheit. Wir nehmen das Verkehrte und Schändliche offen in den Blick und sprechen es aus. Wir klagen an, aber wir verdammen nicht. Mit den Augen Christi betrachtet bleibt den Menschen die Chance zur Umkehr. Mit den Augen Christi betrachtet bleiben wir dazu berufen, über uns selbst hinauszustreben, zu werden und zu sein, wie wir nach allen Schandtaten der Vergangenheit offenbar nicht zu sein vermögen. 

Wir dürfen nicht vergessen, wenn wir wissen wollen, wer wir sind. Wir brauchen den Glauben an Christus, wenn wir damit leben können wollen, wie wir sind, und wenn wir ohne Zynismus unser künftiges Leben gestalten wollen. 

Wie können wir mit der Vergangenheit leben, die wir am Volkstrauertag bedenken? Die Vergangenheit muss uns eine beständige Mahnung zur Wachsamkeit in der Gegenwart sein. Was gewesen ist, muss als wertvoller Schatz der Erfahrung in uns lebendig bleiben, damit wir unterscheiden und urteilen lernen und Kraft zur Entscheidung bekommen.

Die Vergangenheit lehrt uns, wozu Menschen im Bösen fähig sind. Wir wissen aber auch, dass die menschliche Fähigkeit zum Tun des Bösen nicht immer und überall ihre volle Wirkung entfaltet. Das Dritte Reich hat zum Tun des Bösen ermutigt. Es hat die äußeren Bedingungen geschaffen, unter denen Menschen zu Verhaltensweisen ermutigt, verführt, herausgefordert und gezwungen wurden, für die sie sich unter anderen Bedingungen zutiefst geschämt hätten. Das Dritte Reich schuf die öffentlichen und offiziellen Grundlagen, um Unrecht legal und legitim erscheinen zu lassen. Es rechtfertigte den Rassismus, es rechtfertigte eine Herrenideologie, es rechtfertigte die Gewalt, die Versklavung von Menschen, die Tötung Behinderter, den Völkermord, die militärische Eroberung fremden Gebietes. In einem solchen System der Rechtfertigung von Unrecht haben viele Menschen schreckliche Züge offenbart, die sie unter anderen Gegebenheiten verborgen gehalten hätten. Es sind Züge am Menschen offenbar geworden, die in dieser schrecklichen Form und in diesem furchtbaren Ausmaß kaum für möglich gehalten worden waren. Und doch ist es der Mensch, der eine und selbe Mensch, der sich so oder so verhalten kann, der zum Guten und zum Bösen veranlagt und fähig ist. Zwar sind Menschen verschieden. Und die einzelnen Veranlagungen und Fähigkeiten sind in jedem Menschen unterschiedlich gewichtet. Aber wir würden uns wohl sehr täuschen, wenn wir meinten, es gäbe hier die Guten und dort die Bösen. Es gibt nicht diese zwei verschiedenen Sorten von Menschen. Sondern beides ist in jedem Menschen mehr oder weniger veranlagt – das wird uns auch vom Alten und vom Neuen Testament her oft gesagt. Es bedarf gewisser Bedingungen, um das eine mehr zur Geltung kommen zu lassen als das andere.

Wenn wir uns diese Einsicht zu Herzen nehmen und aus dieser Einsicht in christlicher Verantwortung Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wir im Bereich des Politischen aufmerksam und aktiv sein. Dann sind wir gefordert, uns für ein politisches System einzusetzen, in dem die besseren Seiten des Menschen gefördert werden und die Chance zur Entfaltung haben. Wir müssen dann zum einen dazu beitragen zu verhindern, dass Unrecht öffentlich und offiziell als Recht erscheint. Und wir müssen zum anderen die technischen Möglichkeiten zu verhindern und zu beseitigen versuchen, die es Menschen ermöglichen, Unrecht in großem Ausmaß zu begehen.

Was das erste anbetrifft, so dürfen wir heute im Vergleich zum Dritten Reich wohl sagen, dass wir innerstaatlich in einem System des Rechts leben. Es ist sicherlich vielerlei in unserem Staat nicht in Ordnung. Aber das Gesamtsystem ist doch so, dass Menschen zum Tun des Guten motiviert werden. Und das Tun des Guten lohnt sich. Es gibt zwar auch viele enttäuschende Erfahrungen, aber man kann doch durch gehörigen Einsatz viele Dinge zum Besseren verändern. Unrecht kann öffentlich angeklagt und überwiegend auch beseitigt werden. Damit das so bleibt und sich in mancher Hinsicht noch bessert, sind wir aus christlicher Verantwortung gefordert, im Raum des Politischen aufmerksam und aktiv zu sein. 

Was über den innerstaatlichen Bereich gesagt ist, gilt nicht in gleicher Weise für den internationalen Bereich. Wir können zwar mit großer Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesrepublik zu manchen ehemaligen Feindstaaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs intensive Beziehungen der Freundschaft unterhält, zu den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Frankreich und Großbritannien. Aber manch andere Beziehungen – vor allem zu ärmeren Ländern der südlichen Halbkugel – lassen sich nicht uneingeschränkt als frei von Unrecht beschreiben. Im Rahmen der Weltwirtschaftsordnung wird gegen unser Land der Vorwurf der Ungerechtigkeit erhoben. Diese Vorwürfe dürfen wir nicht ignorieren.

Was die technischen Möglichkeiten zum Begehen von Unrecht anbetrifft, so sind diese heute unendlich groß. Mit den heute vorhandenen Waffen kann alles Leben auf der Erde mehrfach ausgelöscht werden. Es wird gesagt: „Nicht die Waffen sind gefährlich, sondern der Mensch ist es, der für ihren Einsatz oder Nichteinsatz verantwortlich ist.“ Dies wird gesagt, um die Gefährlichkeit der Existenz der Waffen zu verharmlosen. Aber gerade weil es zutrifft, dass der Mensch die eigentliche Gefahr darstellt, sollten ihm die technischen Möglichkeiten der Zerstörung besser nicht zur Verfügung stehen. Gerade weil die Vergangenheit lehrt, zu welch furchtbaren Taten schier unvorstellbaren Ausmaßes der Menschen fähig ist, muss damit gerechnet werden, dass er die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Zerstörung in böser Absicht verwendet. Aus diesem Grunde, einem von vielen, muss Abrüstung sein. 

Wir sind als Christen zur politischen Verantwortung aufgerufen. Politik – das ist die Gestaltung unseres menschlichen Gemeinwesens zum Wohle aller, unter Berücksichtigung der Belange aller und unter Berücksichtigung des menschlichen Wesens mit seinen guten und bösen Zügen. Als Christen haben wir zur Gestaltung unseres Gemeinwesens in vielfacher Hinsicht einen wertvollen Beitrag zu leisten. Der eine Beitrag ist dieser: die Wahrheit zu sagen. Es gibt nicht wenige Menschen, die um bestimmter Interessen willen die Wahrheit verdrehen und Verhaltensweisen rechtfertigen, die nicht gerechtfertigt sind. 

Der Physiker und Christ Carl Friedrich von Weizsäcker hat die Kirchen aufgerufen, ein Konzil des Friedens zu veranstalten. Das Konzil soll die Wahrheit sagen. Es soll im Lichte des Evangeliums der Welt verständliche Wahrheiten sagen: dass die politische Institution des Krieges überwunden werden muss und kann, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt. 

Die Wahrheit ist nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch des Willens, sie zu sagen. Mit diesem Willen zur Wahrheit können wir einen wichtigen Beitrag im Bereich der Politik leisten.

Damit verbunden können wir unsere Sicht des Menschen beisteuern. Das bedeutet zum einen die ungeschminkte, illusionslose Betrachtung des Menschen als eines fehlerhaften, schwächlichen und zum abgrundtief Bösen fähigen Wesens. Das bedeutet zum anderen die Behandlung des Menschen als das von Gott geschaffene und von ihm geliebte und mit einer unantastbaren Würde ausgestattete Geschöpf. Die christliche Sicht des Menschen kann bei der Gestaltung des Gemeinwesens vor einer Überschätzung des Menschen, aber auch vor einer allzu geringschätzigen Behandlung des Menschen bewahren.

Als Christen können wir weiterhin unsere ethischen Werte für die Gestaltung des Gemeinwesens einbringen: dass das Wohl des Nächsten die gleiche Aufmerksamkeit verdient wie das eigene, dass wir noch nicht ausgesorgt haben, wenn wir für uns selbst gesorgt haben, dass der Starke zum Schutz des Schwachen berufen ist, dass auch dem Feind unsere Liebe gilt, dass der materielle Gewinn nicht unser höchstes Ziel sein kann. Die Gesellschaft hat die aktive Mitgestaltung bewusster Christen nötig, damit ihr Antlitz menschlicher wird. Und Christen können schließlich die Hoffnung beitragen.

Angesichts schrecklicher Erfahrungen der Vergangenheit und angesichts erschreckender Zustände und Möglichkeiten unserer Gegenwart sind die Aussichten für die Zukunft eigentlich trostlos. Aber als Christen werden wir uns in unserem Engagement in der Welt nicht nur von dem leiten lassen, was wir an Erfahrungen und Zuständen vorfinden. Wir werden uns vor allem von dem leiten lassen, wozu wir berufen sind und was uns verheißen ist. Wir sind zum Tun des Guten berufen, zum Tun des Willens Gottes. Wir sind dazu ermutigt durch seine Liebe, durch seine Bereitschaft zur Vergebung und die Eröffnung eines immer neuen Anfangs. Und verheißen ist uns ein neuer Himmel und eine neue Erde, das Reich Gottes, das in Christus seinen Anfang genommen hat. Als Christen werden wir uns nicht leiten lassen von den möglichen Erfolgsaussichten unseres Handelns. Wir lassen uns leiten durch das, was uns gesagt und zugesagt ist durch den, der unser aller Herr ist. Gott gebe, dass wir nicht vergessen, er gebe uns die Kraft zur Wahrheit und zur Hoffnung und zum Tun seines Willens in unserer Welt. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. November 1986)

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